Kapitel 40

Dienstag, 13. September

Er war stark. Sie würde es niemals schaffen, sich aus seinem Griff zu befreien, während er sie vorwärtsschob. Der Wald war so dunkel, dass die Bäume nur wie hohe schlanke Schatten erschienen. Um sie herum tobte der Regen.

Abrupter Halt. Er packte sie fest. Sie versuchte, sich zu ihm umzudrehen. Er stieß sie vorwärts, riss sie aber gleich wieder zurück.

Dann schrie sie. So laut sie konnte. Sie presste alle Luft aus der Lunge und brüllte, bis ihr der Hals wehtat. Holte tief Luft und schrie abermals, ehe ihr die Stimme versagte.

»Du kannst schreien, so viel du willst«, sagte er leise. »Hedda Back ist auch von keinem gehört worden.«

Ihre Beine gaben nach. Sie wollte nicht mehr. Hier würde es enden. Der Überlebensinstinkt, der sich bei Menschen in extremen Situationen mitunter laut meldete, ließ sie im Stich. Der Körper kapitulierte. Mit dem Rücken zu ihm sank Oda auf den Boden. Er zog sie wieder hoch.

»Noch nicht, Oda«, säuselte seine Stimme. »Wenn ich sage, dass du eine Möglichkeit hast, den morgigen Tag zu erleben, dann würdest du sie ergreifen, nicht wahr?«

Sie nickte schnell. Er hielt seinen Kopf dicht neben ihren und sagte: »Dann spielen wir ein Spiel.«

Die Tränen kamen zurück. Sie zitterte. Oda spannte jeden Muskel an, versuchte, stark zu wirken, aber ihre Glieder gehorchten nicht. Das Zittern wurde unkontrollierbar. Ihre klappernden Zähne erinnerten an das Geräusch eines Maschinengewehrs.

»Aber du musst versuchen, dich zu entspannen«, fuhr er fort. »Atme in den Bauch hinein. Sammle deine Kräfte, Oda. Denn die wirst du brauchen.«

»Lassen Sie mich einfach gehen …«, schluchzte sie. »Ich habe Sie nicht gesehen.«

Er verstärkte den Griff um ihre Handgelenke.

»Bitte …«, flehte sie und spürte gleichzeitig, wie sich ihr Gesicht in Panik verzerrte. Sie schluchzte erneut.

»Alles hängt von dir ab, Oda. Gleich lasse ich los. Dann steht es dir frei zu rennen, wohin du auch willst. Aber du bekommst nur sechzig Sekunden Vorsprung. Sieh dich um. Sieh dich um. «

Ihr Kopf drehte sich in verschiedene Richtungen. Sie versuchte, den Blick auf irgendetwas zwischen den Baumstämmen zu richten. Egal was. Doch da waren nur ineinander verschlungene Äste, die aussahen, als würden sie sie packen und verschlucken, sobald sie in ihre Nähe käme.

»Denk an deine kleine Familie. Denn wenn du es jetzt nicht schaffst, dich vor mir zu verstecken, ist dein Leben zu Ende, und das Dasein der kleinen Lotte wird nie wieder dasselbe sein.«

Er löste seinen Griff. Oda rührte sich nicht. Sie versuchte es, doch ihre Beine wollten nicht gehorchen. Er stieß sie in den Rücken.

»Drei … vier …«

Plötzlich war sie da. Die Stärke. Mit voller Kraft nahm sie von ihr Besitz. Sie rannte los.

»Sieben … acht …«

Die laute Stimme kam von hinten. Sie wollte sich umdrehen, um zu sehen, ob er ihr folgte. Doch um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, müsste sie stehen bleiben. Das allerdings würde sie wertvolle Sekunden kosten. Oda lief dorthin, wo der Wald am dichtesten aussah. Über eine kleine Lichtung und dann weiter zwischen den Bäumen hindurch. Feuchte Blätter und Zweige peitschten ihr ins Gesicht und auf den Rest des nackten Körpers.

Wie viel Zeit war vergangen? Sie hatte vergessen mitzuzählen. Sie hatte vorgehabt, im Stillen mitzuzählen, es dann aber vergessen! Waren es fünfzehn Sekunden? Fünfundzwanzig?

Sie blieb stehen, hörte ihre panischen Atemzüge, spürte den Puls in den Schläfen pochen. Sie lauschte, konnte aber nichts hören. Er verfolgte sie nicht. Jedenfalls nicht in hohem Tempo. Das hätte sie gehört. Sie schlug eine andere Richtung ein und lief schneller.

Ihr Fuß verhakte sich. Sie fiel nach vorn. Versuchte, sich im Fallen umzudrehen, um nicht mit dem Gesicht aufzuprallen. Ihr Kopf schlug gegen etwas. Sie spürte, dass die Haut an ihrer Wange aufriss. Der Körper schwankte, während sie versuchte, wieder auf die Füße zu kommen. Sie spie Blätter und Erde aus und rannte weiter. Die Bäume würden sie nicht verschlingen. Im Gegenteil. Sie würden ihr helfen.

Wie viel Zeit war vergangen? Bald wohl eine Minute. Sie verringerte das Tempo, warf einen Blick in alle Richtungen, drängte sich durch Buschwerk. Scharfe feuchte Zweige stachen sie.

Plötzlich war der Wald zu Ende. Sie stoppte. Vor ihr lag ein See.

Die Zeit war um. Es musste so sein. Schnell ging sie am Wasser entlang. Suchte nach einem Ort, wo sie sich verstecken könnte. In der Ferne donnerte es.

Am Wasser war es viel zu hell. Der Bereich um den See lag offen vor dem Wald. Wenn sie hierbliebe, würde er sie sofort entdecken.

Ihr Körper glühte. Ein roter Streifen zog sich über eine ihrer Brüste. Blut tropfte aus der Nase und über die Lippen.

Sie trat ein paar Schritte zurück in den Wald, hockte sich hinter einen großen Stein, drückte sich an ihn. Sie versuchte, sich so klein wie möglich zu machen, und biss sich auf die Unterlippe.

Dann fing sie an zu zählen. Natürlich viel zu spät, aber sie wollte zählen. Erst bis zehn. Dann bis hundert. Danach bis tausend.

Wenn er sie nicht fände, ehe sie bis tausend gekommen war, würde sie weitergehen. Früher oder später würde sie irgendwohin kommen, wo Menschen waren.

Sie zählte leise in sich hinein und wiegte sich dabei vor und zurück.

Sie war bis zweiundsiebzig gekommen, als sie brechende Zweige hörte, Schritte, die näher kamen. Ihre Arme zitterten. Sie entspannte die Lippen, schmeckte Blut.

»Oda?«

Die Stimme war ganz in der Nähe. Aber er konnte sie nicht gesehen haben.

Die Schritte stoppten. Dann hörte sie nur noch den Regen, der in den See platschte.

Oda schloss die Augen. Dreiundsiebzig. Vierundsiebzig. Fünfundsiebzig. Er wiederholte ihren Namen. Die Stimme klang nicht mehr fragend, sondern konstatierte eine Tatsache. Denn er stand genau vor ihr. Die robusten Stiefel waren doppelt so groß wie ihre Füße. Sie wagte nicht, den Blick zu heben, zählte einfach weiter. Er legte die Hand an ihr Kinn, hob es ein Stückchen.

»Oda. Sieh mich an. Oda

Sie schüttelte den Kopf. Weinte und schluchzte.

»Sieh mich an«, fauchte er.

Sie versuchte, ihren Kopf nach unten zu pressen, als sie die Augen öffnete, doch sein Griff war zu stark.

»Eine kleine Haselmaus zog sich ihre Hosen aus, zog sie wieder an …« Er beugte sich zu ihr hinunter und zog die Kapuze des Ponchos ab. »Und du bist dran.«