Kapitel 41

November 1994
MS Nordlys, Tag 3

Es klopfte an der Kabinentür. Nathan öffnete. Monica hatte sich umgezogen. Sie trug Jeans, ein Unterhemd und ein offenes kariertes Hemd. Sie duftete frisch nach Parfüm und Shampoo. Ihre Haare waren feucht.

»Hallo«, sagte sie leise. »Sie haben noch nicht geschlafen?«

»Nein.«

Nathan ließ die Hand auf der Türklinke ruhen. Sie reichte ihm die Kamera und schob dann die Hände in die engen Hosentaschen.

»Geht der Kurs morgen weiter?«

»Hatte ich gedacht«, erwiderte er.

»Wir könnten vielleicht an Land gehen?«

»Ja, gern.«

»Ist alles gut gegangen vorhin? Haben Sie jetzt drei neue Freunde?«

»Drei Papasöhnchen, einer schlimmer als der andere … nicht so ganz mein Geschmack.«

»Die sind ganz nett, aber ich verstehe, was Sie meinen.« Sie warf einen schnellen Blick über seine Schulter. »Lust auf Gesellschaft?«

»Ich wollte gerade Ihre Fotos entwickeln.«

»Kann ich assistieren?«

»Ich glaube, es ist am besten, wenn Sie sich ein paar Stunden Schlaf gönnen. Sagen wir, um zehn im Frühstückssaal?«

»Perfekt. Schlafen Sie gut, Mr Lockhart.«

»Nate.«

»Also …«, sagte Monica, legte die Unterarme auf den Tisch und schob die Brust vor. »Wie schlecht bin ich?«

Ein vier- oder fünfjähriges Zwillingspärchen rannte zwischen dem Buffet und dem Platz seiner Eltern hin und her. Auf dem Tisch lagen zwölf Bilder in zwei Reihen untereinander. Die meisten zeigten alte Häuser in Ålesund. Jugendstil dominierte das Stadtbild.

»Die Motive sind ganz gut«, sagte Nathan. »Jedenfalls wenn man sich überdurchschnittlich für Architektur interessiert. Und besonders für Jugendstil.«

»Haha.«

»Aber du machst auf allen den gleichen Fehler.«

»Ach ja?« Sie sah prüfend auf die Abzüge. »Welchen denn?«

»Auf allen bis auf eines. Und das ist natürlich das schönste geworden. Such es raus.«

Monica studierte die Bilder genau, während sie Nathan, in der Hoffnung, einen Hinweis zu bekommen, fragende Blicke zuwarf.

»Das sollte eigentlich nicht so schwierig sein«, sagte Nathan. »Nur dieses eine ist nämlich – dem Ideal entsprechend – perfekt.«

»Mit Idealen kenne ich mich nicht so aus«, sagte sie lächelnd und fuhr sich mit einem Finger über die Unterlippe. »Es ist das hier, stimmt’s?«

Sie klopfte mit dem Finger auf das Bild, das sie von dem Mann im Café geschossen hatte.

»Ja.«

Monica legte das Foto vor sich hin. Der Mann las konzentriert die Zeitung. Seine Zigarette ruhte im Mundwinkel. Seine fettigen Haare hingen ihm nach hinten und an den Seiten herab. Eine leichte Qualmwolke von der Zigarette umgab ihn. Vor dem Fenster ging ein junger Mann im Anzug vorbei. In der Hand hielt er eine durchsichtige Plastiktüte mit leeren Flaschen.

»Dieses Bild hat eine perfekte Komposition«, sagte Nathan. »Wenn du dir die anderen Fotos anschaust, ist auf jedem dein Motiv im Mittelpunkt. Das werden dann aber nur selten gute Fotos. Hast du schon mal von Fibonacci gehört?«

»Ja.«

»Stell dir diese Spirale vor, wenn du ein Foto machst. Das Motiv sollte im goldenen Schnitt stehen, nicht im Zentrum. So etwas ist nicht immer leicht hinzubekommen, aber einfach ausgedrückt: Behalte das Motiv im Fokus, aber beweg dich ein wenig weg vom Zentrum.« Er sah auf das Foto vor ihr. »Der Typ, der vorbeigeht, ist im Zentrum, während du den mit der Zigarette fotografierst. Aber es gibt noch einen anderen wichtigen Faktor. Siehst du den?«

Monica studierte erneut das Foto.

»Er wusste nicht, dass er fotografiert wird«, sagte Nathan nach einer Weile. »In solchen Fällen werden die Bilder am besten. Genau dann fängt man den Augenblick ein. Und das ist es, was du heute machen wirst.«