Das Einzige, was man am blauen Himmel sehen konnte, war ein Kondensstreifen.
Der letzte aktive Mitarbeiter der Hellum-Gruppe saß am Steuer seines zivilen Dienstwagens. Mit zuckendem Blaulicht folgte das Auto der Straße, die sich den Hügelkamm zur Festung Fredriksten hinaufzog. Magnus saß neben Hox und betätigte den Knopf für das Martinshorn, um einen Busfahrer zu warnen, der von einer Haltestelle abfahren wollte. Die Bremslichter des Busses leuchteten rot, und er stoppte mit einem Ruck. Magnus stellte die Sirene wieder ab, als sie das Fahrzeug passiert hatten.
»Die Beschattung von Bodil Hellum«, begann Magnus. »Ist auch letzte Nacht nichts passiert?«
»Nein, abgesehen davon, dass du gestern bei ihr warst«, sagte Lars Hox und sah Magnus mit schiefem Lächeln an. »Wäre übrigens nicht von Nachteil, einander zu erzählen, was man so vorhat.«
»Ich hab versucht, dich anzurufen«, sagte Magnus. »Aber es ging immer gleich die Mailbox ran.«
»Du hast angerufen?« Lars Hox bog von der Hauptstraße ab. »Mein Handy spinnt manchmal.«
Der Asphalt ging in Schotter über. Hox drosselte das Tempo. Magnus schaltete das Blaulicht aus, als sie zu dem großen offenen Platz hinter der Festung Fredriksten kamen. Ein halbes Dutzend Streifenwagen stand in zwei Reihen auf dem Platz. Magnus zählte neun Polizeibeamte. Am Tor der Festungsmauer war ein Absperrband befestigt worden. Ein Beamter stand in der Nähe und telefonierte. In einigem Abstand von den Polizisten hatte sich eine Gruppe von Personen zusammengefunden, die einzig und allein ihre Neugierde zu befriedigen suchten.
Lars Hox war schon ausgestiegen, ehe der Wagen zum Stehen gekommen war. Er klopfte auf die Motorhaube, um Magnus zur Eile anzutreiben. Magnus antwortete mit einem Nicken, blieb aber sitzen. Es gab so viele verschiedene Tatorte, wie es Morde gab. Eines jedoch war an allen Tatorten gleich. Das Chaos ringsumher. Während seiner Zeit bei der Streifenpolizei in Fredrikstad war es Magnus meist gelungen, als Erster am Tatort zu sein, bevor alle anderen nach und nach auftauchten. Er hatte sich einen Überblick über die Situation verschaffen können, hatte versucht, Details zu registrieren, und dafür gesorgt, dass diese an die Kriminaltechniker und an die Ermittler weitergegeben wurden. Sobald die Ermittler an den Tatort kamen, war seine Aufgabe beendet. Er musste dann nur noch eine neue Seite im Berichtsheft aufschlagen und sich auf die nächste Aufgabe vorbereiten.
Jetzt spürte Magnus, dass er genau das vermisste, die unvorhersehbaren, aber dennoch einfachen Dinge. Er wollte zurück zur Polizeidienststelle in Fredrikstad. Mehr als alles andere hatte er sich gewünscht, von dort wegzukommen, aber genau in diesem Moment , während er das Chaos um sich herum registrierte, kam ihm der Gedanke, dass er vielleicht noch nicht bereit dafür war. Wenn Anton dabei wäre, würde es anders aussehen, denn genau das war Sinn und Zweck des Ganzen. Er sollte Anton ein oder zwei Jahre während der Arbeit bei der Kripo begleiten. Und erst wenn er selbst – und Anton – der Ansicht waren, dass er bereit wäre, würden sie ihm die Verantwortung für eigene Fälle übertragen. Bis vor zwei Tagen war er sich sicher gewesen, der Aufgabe schon jetzt gewachsen zu sein. Aber der Anblick des jungen, malträtierten Körpers auf dem Stahltisch des Dänen hatte etwas mit ihm gemacht. Er wusste nicht, was genau. Er hatte schon tote Menschen gesehen, deren Körper sich in weitaus schlimmerer Verfassung befunden hatten. Einmal hatte er einen Motorradhelm vom Seitenstreifen an der E6 aufgehoben, in dem noch der Kopf steckte. Zwei Stunden später hatte er zu Mittag gegessen. Der Anblick von Hedda Back war demnach nicht zu starke Kost für ihn gewesen. Vermutlich hatte es eher mit dem zu tun, worüber Anton in Sandefjord gesprochen hatte. Bosheit.
Lars Hox klopfte abermals auf die Motorhaube. Seine Lippen bewegten sich, aber Magnus konnte weder hören noch erraten, was er sagte.
Er stieg aus und schloss sich Hox an. Die Stimmen der Schaulustigen hinter dem Absperrband summten in seinen Ohren.
Der Polizeibeamte beendete sein Telefonat. Er begrüßte die beiden mit Handschlag und stellte sich als Einsatzleiter vor.
»Das ging ja schnell«, sagte er. »Ich hätte nicht gedacht, dass …«
»Zeig uns, wo sie ist«, unterbrach Magnus ihn.
Der Einsatzleiter führte sie weiter. Sie duckten sich unter dem Absperrband hindurch und gingen Schulter an Schulter auf das Burgwalltor zu.
»Die Tote ist noch nicht offiziell identifiziert«, sagte der Einsatzleiter, »aber sie ist die Eigentümerin von Myhre & Partner. Immobilienmakler. Oda Myhre.«
Die Sonne verschwand irgendwo hinter ihnen. Vom Inneren der Zitadelle führte ein langer, steil abfallender und mit Kopfsteinpflaster bedeckter Weg zwischen den alten Festungsgebäuden mit Walmdach und hübschen Fassaden nach unten. Ein Polizist stand mit dem Rücken zu ihnen am gegenüberliegenden Tor.
Magnus musste langsamer gehen und achtete darauf, mehr Gewicht auf das gesunde Bein zu verlagern.
Der Einsatzleiter informierte sie, dass ein Hausmeister die Tote gefunden habe, als er am Morgen gekommen war, um die Flagge zu hissen.
»Wir müssen da hinauf.« Der Einsatzleiter zeigte auf den Burgwall und blickte sich dann um, wie um sich zu vergewissern, dass die beiden noch da waren. »Das hier hängt also mit dem Fall in Sandefjord zusammen?«, fragte er.
Magnus blieb neben dem Fahnenmast stehen, der an einer grasbedeckten Stelle aus dem Schotter ragte. Weder er noch Lars Hox beantworteten die Frage des Einsatzleiters. Die Flagge lag neben dem Mast auf dem Boden. Sieben Kanonen waren auf das Zentrum der Stadt gerichtet. Der Einsatzleiter bückte sich und hob die Flagge auf, rollte sie zusammen wie ein altes Handtuch und stopfte sie sich unter den Arm.
Die Tote lag vor den 350 Jahre alten Kanonen.
Magnus trat bis dicht an den Rand des Festungswalls. Lars Hox war schon bei der Leiche. Die Morgensonne stand so tief, dass der Schatten der Festung und des Hügels, auf dem sie lag, weit über den Abhang und bis über die halbe Stadt reichte.
Oda Myhres Beine waren mit Rissen und Wunden übersät. Die Augen waren offen. Das Geschlechtsteil war gerötet und geschwollen, der Mund war halb geöffnet. Ihre Haare standen in alle Richtungen ab. Unter den Nasenlöchern war eine getrocknete Schaumperle zu erkennen.
Der Kondensstreifen am Himmel war immer noch da. Aus dem Augenwinkel konnte Magnus sehen, dass Lars Hox die Tote jetzt von der anderen Seite betrachtete.
»Da jetzt noch eine Leiche aufgetaucht ist«, begann Magnus, »stellt sich die Frage, wie lange es wohl dauert, bis wir Hans Gulland und sein verfluchtes Buch in irgendeiner Zeitung sehen, wo er dann verkündet, dass Stig Hellum zurück ist.«
»Hat er nicht gesagt, dass er nichts dergleichen tun will?«
»Das war am Montag. Da hatten wir es mit einer Leiche zu tun. Jetzt haben wir zwei.«
»Wir werden vermutlich kaum zum Arbeiten kommen, wenn dieses Hellum-Geschwür jetzt platzen sollte.«
Die beiden Polizisten blickten einander an. Dann sagte Hox: »Wer ruft an und bittet ihn, die Klappe zu halten? Du oder ich?«
»Schaffst du es, nett und freundlich zu sein?«
»Natürlich. Ich weiß ja jetzt, wie wenig er erträgt.«
»Gut. Dann ruf ihn gleich an. Ich gehe zurück zum Wagen und spreche mit Anton.«
Die Zuschauermenge auf der Rückseite der Festung war angewachsen. Inzwischen hatte man ein weiteres Absperrband zum Schutz vor den Schaulustigen angebracht. Ein Übertragungswagen des Fernsehsenders NRK Østfold war auch schon eingetroffen. Ein Journalist vom Halden Arbeiderblad versuchte, einem der Polizisten einen Kommentar zu entlocken. Magnus ging über den Platz und öffnete die Beifahrertür des Wagens. Gerade als er sich hineinsetzen wollte, hörte er hinter sich einen Motor aufheulen.
Ein Wagen kam angeschossen. Eine dicke Staubwolke folgte dem Fahrzeug. Die Polizeibeamten auf dem Platz wichen zurück und streckten schützend die Hände aus. Der Fahrer bremste hart ab und parkte den Wagen schräg vor dem Burgtor. Noch während der Motor lief, stürzte der Mann aus dem Wagen und rannte auf das Absperrband zu. Er war gut gekleidet, trug eine dunkle Anzughose und ein weißes Hemd, er hatte dunkle Haare mit grauen Schläfen. Ein Polizist trat ihm entgegen. Der Mann rief nach Oda. Er wiederholte den Namen mehrmals und wurde dabei immer lauter. Der Polizist breitete die Arme aus, um ihn am Weitergehen zu hindern. Der Mann lief einfach weiter, als hätte er den Polizisten gar nicht wahrgenommen.
Der Polizeibeamte packte ihn mit beiden Händen und schloss die Arme um seinen Oberkörper. Der Mann versuchte, sich loszureißen. Er trat um sich und schlug nach dem Polizisten, während er wieder und wieder Odas Namen brüllte. Auf der Rückbank des Wagens konnte Magnus einen kleinen blonden Kopf und zwei dünne Arme sehen, die am Fensterrahmen klebten. Ein kleines Mädchen hatte das Gesicht an die Scheibe gepresst.
Ein neuer Aufschrei entfuhr dem Mann, gefolgt von einem Schluchzen. Er kämpfte nicht mehr gegen den Polizisten an und sank auf den Boden. Die hintere Tür des Wagens wurde geöffnet. Die Kleine sprang heraus. Magnus ließ sein Handy auf den Beifahrersitz fallen, stieg aus und ging ihr entgegen. Keiner der anderen Polizeibeamten hatte mitbekommen, dass das Mädchen sich mit schnellen Schritten näherte. Alle standen in einem Kreis um den Mann auf dem Boden.
»Hallo«, sagte Magnus und ging vor dem Kind in die Hocke.
Ihr Gesichtsausdruck wirkte ernst. Die Augen waren bekümmert.
»Wir suchen Mama.«
Der Mann saß immer noch auf dem Boden. Ein Polizist stand über ihn gebeugt und hatte ihm einen Arm auf die Schulter gelegt. Magnus streckte die Hand aus und sagte: »Möchtest du mit mir zu dem Streifenwagen kommen?«
Die Kleine beugte sich zur Seite und sah an ihm vorbei. Magnus machte einen Schritt und versperrte ihr die Sicht.
»Ich heiße Magnus. Und wie heißt du?«
»Lotte.«
»Magst du mit mir kommen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Es ist nicht gefährlich«, fuhr er fort. »Wir können uns auch in einen Streifenwagen setzen.«
»Bist du Polizist?«
»Ja.«
»Warum trägst du dann keine Uniform?«
»Weil nicht alle sofort sehen müssen, dass ich Polizist bin.« Magnus führte die Hand zum Rücken und zog die Handschellen hervor, die diskret unter dem Jackett verborgen waren. Er zeigte sie ihr. »Siehst du?«
Sie blickte ihn mit großen Augen an. »Du bist Geheimpolizist.«
Er nickte. »Komm.«
Sie ließ sich von Magnus an die Hand nehmen. Er führte sie zu dem Streifenwagen, der am weitesten vom Burgtor entfernt stand, und drehte sich dabei immer wieder um. Er hob die Kleine auf den Fahrersitz und ging selber an der Türöffnung in die Hocke. Sie drehte sich herum, kniete sich auf den Sitz und spähte aus dem Heckfenster. Dann sank sie wieder auf den Sitz hinunter und fasste nach dem Lenkrad.
»Ich werde Montag operiert.« Sie strich sich mit dem Finger über die Lippenspalte. »Mama sagt, dass alles gut wird.«