Durch die dünne Wand des kümmerlichen Badezimmers konnte er Lars Hox’ Stimme hören. Magnus verstand nur Bruchstücke des Telefonats. Er drehte den Hahn auf, ließ das Wasser laufen und spritzte es sich dann ins Gesicht. Zwischen unzähligen winzigen Zahnpastaflecken blickten ihn müde Augen aus dem Spiegel an.
Abermals klatschte er sich kaltes Wasser ins Gesicht und ging zurück zu Hox, der das Telefonat gerade beendete.
»Heute Nachmittag soll auf der Polizeidienststelle in Sarpsborg eine Pressekonferenz abgehalten werden.«
Magnus nahm einen Stuhl, rollte ihn über den Boden und setzte sich vor Hox’ Schreibtisch.
»Woran der verantwortliche Ermittler teilnehmen soll«, fuhr Hox fort.
»Mist«, sagte Magnus leise.
»Was?«
»Nichts … Wann findet das statt?«
»14 Uhr.«
Noch drei Stunden. Zeit genug, um Anton vorzubereiten. Es musste doch wohl möglich sein, ihm ein paar Pillen zu verabreichen, die die Schmerzen in Schach hielten, ohne dass er davon high wurde, sichtbar high jedenfalls. Wichtig war allein, dass er dort vor den Kameras und Mikrophonen saß.
»In Ordnung«, sagte Magnus. »Kannst du mir die Liste von Hellums Besuchern in Ila geben?«
»Was willst du denn damit?«
»Durchsehen, was sonst?«
»Das habe ich schon getan.«
»Mag sein, aber Anton will, dass wir das noch einmal machen.«
»Das ist reine Zeitverschwendung. Die Besucher sind allesamt überprüft worden.«
»Anton möchte es aber.«
»Brekke ist doch nicht einmal hier«, sagte Hox unverblümt.
»Kannst du mir nicht einfach einen Ausdruck geben, damit wir weiterkommen?«, entgegnete Magnus.
»Jetzt hör mal zu, was ich dir sage, Torp.« Hox beugte sich etwas vor, als wollte er ein ernstes Wort mit einem Kind reden. »Die sind überprüft. Jeder einzelne Name. Keiner kommt da für irgendwas infrage.«
Magnus wollte etwas erwidern. Zögerte. Überlegte. Sollte er es sagen oder lieber nicht? Denn egal wie man es betrachtete, so war Hox gescheitert. Zwei Jahre lang hatte er versucht, Hellum zu fassen, doch das Einzige, was er in die Hände bekommen hatte, waren ein paar Haare aus einem Abflussrohr in irgendeinem Slum auf der anderen Seite des Globus. Niemand erwartete noch etwas von ihm. Nicht nach zwei Jahren. Die Verantwortung für diesen Fall lag bei Anton und Magnus. Und in diesem Augenblick nur bei Magnus. Es spielte keine Rolle, ob Hox die Besucherliste zehnmal oder tausendmal durchgesehen hatte. Denn der Name, den sie suchten, stand darauf. Es musste so sein.
Abgesehen davon gefiel ihm der Ton nicht, den der gleichaltrige Kollege ihm gegenüber angeschlagen hatte. Magnus hatte seine Überlegungen schließlich abgeschlossen und sagte: »Genauso wie ihr Otto Stenersen überprüft habt?«
Magnus zählte langsam in sich hinein. Er war bei vier angelangt, als Hox antwortete.
»Otto Stenersen habe ich getroffen.«
Magnus erzählte von dem Besuch bei dem alten Mann am Abend zuvor.
»Wir haben ihn zweimal im Cato-Zentrum besucht, wo er zur Reha war«, sagte Hox. »Beim letzten Mal war er noch deprimierter als davor und hatte eigentlich auch kein Interesse, mit jemandem zu reden.« Hox lehnte sich zurück. »Aber ein Auto hat er uns gegenüber nicht erwähnt.« Er biss sich auf die Unterlippe.
»Deswegen möchten Anton und ich uns noch mal die Liste mit den Besuchern in Ila ansehen. Das ist doch nicht als Kritik gemeint.«
»Nein …?« Hox drückte auf ein paar Tasten. Am anderen Ende des Raums begann ein Drucker zu summen. Hox legte die Füße auf den Schreibtisch und verschränkte die Arme. »Bitte sehr.«
Die Liste umfasste dreizehn Namen.
Bodil Hellum hatte ihren Sohn seit der Urteilsverkündung einmal pro Woche besucht. Ab Dezember 2012 war sie, wie Victor Wang berichtet hatte, nur noch alle 14 Tage zu Besuch gekommen.
Im Juni 2003 hatten ihn drei Männer und eine Frau, allesamt mit dem Familiennamen Hellum, besucht. Es war das einzige Mal, dass sie im Gefängnis gewesen waren.
»Diese vier Hellums«, sagte Magnus.
»Drei Cousins und eine Cousine«, entgegnete Hox. »Die wohnen alle in Westnorwegen.«
»Bist du dort gewesen und hast mit denen gesprochen?«
»Was glaubst du, Torp?«
Magnus zuckte mit den Schultern und sagte: »Gehen wir mal davon aus, dass du dort gewesen bist.«
»Ja, oder genauer: nicht ich. Aber zwei von uns sind ein paar Tage nach der Flucht da rübergefahren. Diese Verwandten haben Hellum ein einziges Mal besucht und hatten danach keinen Kontakt zu ihm.«
Magnus hielt den Blick auf die Namen gerichtet und saugte dabei an einem Kugelschreiber. Diese Verwandten konnten jedenfalls gestrichen werden.
»Weißt du, wann Hellum erfahren hat, dass er nach Halden verlegt werden sollte?«
»Am 18. August«, erwiderte Hox, ohne viel nachdenken zu müssen.
Das Datum lag zwei Wochen vor dem Fluchtzeitpunkt. Die Liste musste eingegrenzt werden.
Magnus benötigte ein paar Minuten, um alle Datumsangaben auf der Liste durchzusehen und die Namen derjenigen Personen herauszusuchen, die Hellum in den letzten vierzehn Tagen in der Haftanstalt Ila besucht hatten.
Am Ende blieben vier Namen übrig, die er auf einem Klebezettel notierte: Bodil Hellum, Hans Gulland, Cornelius Gillesvik und Siw Fludal.
»Ich denke, wir sollten uns noch mal mit Hans Gulland unterhalten«, sagte Magnus. »Ich werde aus ihm nicht ganz schlau.«
»Das brauchst du auch nicht. Weil ich alles über ihn weiß.«
Magnus betrachtete den anderen Namen, den Hox während der Besprechung in Bryn erwähnt hatte: Cornelius Gillesvik. Magnus verglich den Namen mit den Zeitangaben auf dem anderen Blatt. In zwölf Jahren hatte Cornelius Gillesvik Stig Hellum siebenundachtzig Mal besucht. Nur die Mutter stand häufiger auf der Liste.
»Der letzte Besuch erfolgte zwei Tage vor der Flucht«, erklärte Hox, ehe Magnus es selbst sah. »Aber Gillesvik ist am Tag der Flucht nach Thailand geflogen. Er kam erst ein halbes Jahr später zurück.«
»Wie hast du die Vernehmung durchgeführt?«
»Wir haben telefonisch mit ihm gesprochen. Und in den letzten anderthalb Jahren war ich häufiger bei ihm zu Hause, als ich zählen kann.« Hox schnalzte mit der Zunge. »Da bleibt wohl nur noch ein Name übrig, oder? Denn du hast doch diejenigen aufgeschrieben, die ihn in den letzten vierzehn Tagen seiner Haft in Ila besucht haben? Du hättest mich auch einfach fragen können, weißt du.«
»Siw Fludal.«
»Jetzt kommt die große Enttäuschung«, sagte Hox. »Fludal ist die Anwältin.«
»Ja …«, seufzte Magnus. »Ich hab den Namen gleich erkannt.«
»Frag einfach.« Hox lächelte freundlich. »Wenn irgendwo etwas geschrieben steht, was mit diesem Fall zusammenhängt, dann hab ich’s hier.« Er klopfte sich mit dem Finger an die Schläfe.
Magnus knüllte den Klebezettel zusammen und ließ ihn auf dem Schreibtisch liegen. Abermals warf er einen Blick auf die Besucherliste. Cornelius Gillesvik wohnte in Missingmyr. Eine Viertelstunde entfernt. Die Pressekonferenz fand erst in knapp drei Stunden statt. Magnus hatte mehr als genug Zeit, um zu Anton zu fahren und ihn vorzubereiten, einen Abstecher nach Missingmyr zu machen, um mit Cornelius Gillesvik zu reden, danach Anton abzuholen und auf die Polizeidienststelle nach Sarpsborg zu bringen.
»Wohin willst du?«
»Nach Missingmyr.«
»Zu Gillesvik?«, sagte Hox mit lauter Stimme und lachte. »Du meine Güte, Torp. Er hat ein Alibi! Wie oft muss ich das noch sagen? Alle wurden überprüft. Wenn du alles kontrollieren willst, was ich in diesem Fall getan habe, kommst du zu nichts anderem mehr.«
»Das Alibi, das Gillesvik für den Tag von Hellums Flucht hat, interessiert mich gar nicht mal so sehr. Das Gleiche gilt für Hans Gulland. Was mich interessiert, ist, wo sie an dem Abend davor gewesen sind. Aber das kannst du ja vielleicht auch beantworten?«