Kapitel 48

November 1994
MS Nordlys, Tag 5

Von Nathans Kabine an der Steuerbordseite aus war nichts anderes zu sehen als Eisschollen, die in der dunklen See trieben.

Er ging ins Bad. Die improvisierte Dunkelkammer war verwüstet, der Spiegel zerbrochen, zwei der drei Plastikschalen befanden sich auf dem Boden. Ein Vergrößerungsapparat lag verkehrt herum im Waschbecken. Zwei Dutzend Wäscheklammern lagen überall verstreut.

Nathan ballte die blutende Hand zur Faust und ließ sie auf dem Waschtisch ruhen, während er sich selbst in dem zerbrochenen Spiegel betrachtete. Er legte den Vergrößerungsapparat auf den Boden, drehte den Warmwasserhahn auf und ließ das Wasser so lange fließen, bis heißer Dampf aufstieg. Dann hielt er die Hand unter den Strahl. Das Wasser färbte sich rot. Ein kleiner Splitter vom Spiegel steckte im Fleisch zwischen zwei Fingerknöcheln. Er zog ihn heraus und sah ihn im Abfluss verschwinden.

Es klopfte an der Tür. Nathan drehte das Wasser ab, nahm ein Tuch und wickelte es sich um die Hand.

Erneutes Klopfen. Er stellte sich an die Kabinentür. Lauschte.

»Nate?«, sagte Monica. »Bist du da?«

Sie klopfte noch einmal.

»Ja … Ich … Ich bin hier.«

»Wollen wir jetzt den Kaffee trinken, oder störe ich?«

»Ich …«, sagte er der Tür zugewandt. »Ich bin nicht so ganz in Form.«

»Was soll das heißen? Bist du krank?«

»Ja. Ich habe Fieber. Anscheinend war ich in Kirkenes nicht dick genug angezogen.«

»Lass mich mal sehen. Mach auf.«

»Ich möchte dich nicht anstecken, Monica. Ich dachte, ich versuche, ein paar Stunden zu schlafen.«

»Brauchst du was? Soll ich dir was zu essen bringen?«

»Danke, nicht nötig.«

»Oder was gegen das Fieber?«

»Nicht nötig, wirklich. Ich muss mich nur ausruhen. Wir sehen uns morgen.«

»Okay …«

Er konnte hören, dass sie vor der Tür stehen blieb. Nach einer Weile sagte sie: »Meld dich, wenn was sein sollte, ja?!«

Sechseinhalb Stunden später, um exakt zehn Uhr, betrat Nathan das Restaurant. Monica saß mit einer Kollegin am Kücheneingang. Sie hielten Papiere in den Händen, zeigten darauf und besprachen etwas. Es dauerte nicht lange, bis sie ihn bemerkte. Sie sagte etwas zu ihrer Kollegin, stand auf und kam mit einem großen Lächeln rasch auf Nathan zu.

»Wie fühlst du dich? Geht’s dir besser?«

»Ich wollte mich eigentlich nur verabschieden.«

»Es dauert noch fast fünf Tage, bis wir nach Bergen kommen.« Sie strich mit der Hand über seinen Oberarm. »Vielleicht etwas früh, sich zu verabschieden?«

Nathan entzog sich ihrer Berührung.

»Ich war an der Rezeption«, sagte Nathan. »Da haben sie mir erklärt, dass ich morgen Vormittag in Hammerfest von Bord gehen und von dort aus nach Tromsø und dann weiter nach Oslo fliegen kann.«

»Wovon redest du?«

»Ich komme nicht mit nach Bergen, Monica. Ich reise morgen früh ab. Es tut mir leid.«

»Wieso? War ich zu aufdringlich?«

»Nicht im Geringsten.«

»Was stimmt denn nicht? Ich sehe dir doch an, dass irgendetwas ist.«

»Ich habe keine passende Antwort für dich. Ich muss einfach abreisen.«

Sie blickte ihn forschend an.

»Einfach so …?«

Er nickte.

»Warst du überhaupt krank?«

Er schüttelte den Kopf.

»Herrgott«, sagte sie leise, und nach einem Augenblick zischte sie: »Sag doch, was los ist!«

Ihre Augen wirkten verzweifelt, der Mund war halb geöffnet.

»Ich habe an der Rezeption etwas für dich hinterlassen«, sagte er.

»Ich will nichts haben. Ich will dich . Verstehst du das nicht? Hast du das nicht begriffen?«

Er senkte den Kopf und sagte: »Ich habe deine Gesellschaft sehr genossen. Es hat mir viel bedeutet, und ich werde dich nie vergessen.«

»Weißt du …«, sagte sie, wischte sich über die Wangen und zog die Nase hoch. »Als wir in Ålesund waren, hatte ich plötzlich das Gefühl, dass wir uns wiedersehen würden – nach dem Ende dieser Reise. Und je weiter wir nach Norden kamen, desto stärker wurde dieses Gefühl.«

»So war es auch für mich. Es tut mir so leid.«

»Ich werde dich also nicht wiedersehen?«

»Nein.«

Monica presste die Lippen aufeinander.

»Verzeih mir«, sagte Nathan.

»Ist das alles, was du zu sagen hast?«

»Ja.«

Monica drehte sich um, ging auf die Küche zu und legte dabei die Hand vors Gesicht.

»Monica …«, rief Nathan ihr nach.

Sie beschleunigte ihre Schritte.