Kapitel 49

2006
Huntsville, Texas

»Das war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe«, sagte Nathan. »In den Nächten davor hatte ich für kurze Momente geschlafen. Mal eine halbe, mal eine Dreiviertelstunde. Doch in der letzten Nacht an Bord schlief ich nicht. Ich lag bloß da und dachte an Jennifer und Lisa. Gegen halb vier zog ich mich an und ging nach draußen auf das oberste Deck. Kein Mensch war zu sehen. Ich lehnte mich einfach an die Reling und starrte auf das dunkle Meer. Ich muss völlig abwesend gewesen sein, denn als dann die Stille durchbrochen wurde, war es vier Uhr.«

»Was hat die Stille durchbrochen?«

»Ein Platschen«, erwiderte Nathan und holte tief Luft. »Es kam von achtern, also bin ich ein paar Schritte in die Richtung gegangen. Deck 6 und 7 waren im Verhältnis zum Hauptdeck etwas versetzt. Von Deck 6 konnte man auf das Achterdeck darunter sehen. Und von Deck 7, wo ich stand, konnte man das Achterdeck von Deck 5 und 6 sehen. Verstehen Sie?«

»Ja.«

»Da also, achtern auf Deck 5, sah ich sie. Aber sie haben mich nicht gesehen.«

»Wer?«

»Die drei Jungs. Per, Jaran und Terje. Ich war mir sicher, dass sie stockbesoffen waren. Es hätte nichts gebracht, mit ihnen zu reden. Ich war für diese Grünschnäbel nicht in Stimmung, das wäre bloß danebengegangen. Deshalb habe ich mich sofort zurückgezogen. Ich bin die Treppe runtergegangen und habe mich in meiner Kabine eingeschlossen. Dort habe ich mich hingelegt und versucht zu schlafen, aber das konnte ich nicht. Eine Stunde später kam das Schiff zum Stehen. Nach einer weiteren Dreiviertelstunde hörte ich einen Helikopter. Ich dachte, dass jemand krank geworden war und ins Krankenhaus geflogen wurde. Aber der Helikopter flog nur ständig um das Schiff herum, während mit Scheinwerfern nach irgendetwas gesucht wurde. Ich ging hoch zur Rezeption. Überall waren Leute von der Besatzung. Immer mehr Passagiere kamen hinzu. Nur Monica war nicht zu sehen. Ich fragte eine ihrer Kolleginnen, was los sei, und hörte dann, dass sie vermisst wurde. Ich fragte, was passiert sei, aber sie wusste es nicht. Sie sagte nur, dass die drei Jungs Alarm geschlagen hätten. Dass es bei einem blöden Spiel im betrunkenen Zustand passiert sei.«

»Das Platschen, das Sie gehört haben, das war sie

»Diese verfluchten Schweine haben eine ganze Stunde gewartet, bis sie sicher sein konnten, dass Monica nicht gefunden würde. Und dann sagten sie, es sei gerade erst passiert.«

»Aber wie ist Monica denn bei denen gelandet?«

»Vermutlich hat sie das Angebot angenommen und mit den Dreien in der Kabine gefeiert. Sie wusste, dass das nicht gestattet war, aber es war ihre letzte Tour, und sie riskierte allenfalls, ausgeschimpft zu werden. Außerdem war sie wütend auf mich. Ich habe dieses Geräusch in Gedanken immer wieder abspielen lassen, Pater. Es war ein Platschen. Mehr nicht.«

»Sie war schon tot.«

»Ja. Und wenn nicht tot, dann auf jeden Fall bewusstlos. Ich wünschte, sagen zu können, dass mir das einen gewissen Trost bietet. Dass sie nichts gemerkt hat, aber ich weiß auch nicht, was schlimmer ist … Denn man kann sich ja vorstellen, was sich in dieser Kabine zugetragen hat. Es kann nur eine Sache gewesen sein.« Nathan schwieg einen Augenblick und fuhr dann fort: »Auf dem Hauptdeck herrschte totales Chaos. Die Besatzung versuchte, sowohl einander als auch die Passagiere zu trösten. Und dann, nach etwa zwei Stunden, wurde die Suche eingestellt.«

»Sie haben aber gesagt, was Sie gesehen und gehört hatten?«

Nathan schüttelte den Kopf.

»Monica war nicht mehr da. Es gab nichts, was sie hätte zurückbringen können. In diesem Moment ging es für mich nur darum, von dort wegzukommen, denn ich wusste ja, was im nächsten Hafen wartete.«

»Die Polizei.«

»Genau. Das konnte ich nicht riskieren. Ich habe mich in Honningsvåg von Bord geschlichen. Das nächste Flugzeug ging erst nachmittags, also bin ich mit einem Taxi nach Hammerfest gefahren, dann mit dem Flugzeug nach Tromsø geflogen und dann weiter nach Oslo. Und danach nach Hause, nach New York.«

»Ich verstehe das nicht, Nate. Jetzt habe ich Ihnen zwei und eine halbe Stunde lang zugehört. Und glauben Sie mir: Ich habe versucht zu verstehen – aber nun ist es unmöglich. Wie konnten Sie einfach schweigen? Sie hatten doch fast eine ganze Woche mit ihr verbracht.«

»Sie war tot!«, sagte Nathan und hob zum ersten Mal die Stimme. »Hätte ich es verhindern können, hätte ich mein Leben dafür gegeben!«

»Sie hätten aber dafür sorgen können, dass die drei zur Verantwortung gezogen worden wären.«

»Glauben Sie etwa, dass mich das nicht gequält hat? Glauben Sie etwa, dass es mich nicht noch immer quält?«

»Genau das ist es, was ich versuche, Ihnen verständlich zu machen, Nate. Sie haben doch selbst gesagt, dass Sie damals wussten, was richtig ist und was falsch – und das wissen Sie auch jetzt. Ein junger Mensch verliert das Leben. Eine Frau, in die Sie sich gewissermaßen verliebt hatten. Und Sie hätten dazu beitragen können, dass diejenigen, die sie umgebracht haben, zur Rechenschaft gezogen worden wären. Doch Sie haben entschieden, das nicht zu tun.«

»Ich entschied mich, Prioritäten zu setzen.«

»Ja. Für Sie selbst.«

»Nein. Für Gerechtigkeit.«

»Gerechtigkeit?«, fragte der Pater erbost. »Für wen?«

»Für Jennifer und Lisa.«

»Wovon reden Sie?«

»Es war die ganze Zeit Nir Dayan. Er hat hinter den Kulissen mit den Russen zusammengearbeitet. Er und Grekov haben Informationen ausgetauscht. Als die Mauer fiel, bekam er Angst davor, was alles an die Oberfläche gespült werden könnte. Grekov war Nir Dayans schwacher Punkt. Deswegen wurde Donald und mir ja auch gesagt, dass es wie ein Selbstmord aussehen sollte. Es waren Nir Dayan und drei meiner Kollegen, die Jennifer und Lisa getötet haben, Pater. Es war nie beabsichtigt, dass ich nach Langley zurückkehre. Aber sie machten einen Fehler, und ich bin untergetaucht. Und dann wurde Grekov in Oslo entdeckt. Sie fanden heraus, dass er in Kirkenes lebte, und das Büro fing wieder an, nach mir zu suchen. Indem er mich dort hinschickte, wurde Nir Dayan nicht nur Grekov los, sondern er wusste auch, dass er mich zurückbekäme. Und dass ich loyal bis in den Tod sein würde.«

»Woher wissen Sie das alles?«

»Grekov hat es mir erzählt. Und er zeigte mir Dokumente, die bewiesen, dass er die Wahrheit sagte. Das war das Letzte, was er getan hat, bevor ich ihn erschoss.«

»Aaah«, stöhnte der Pater. »Nathan …«

»Die Russen hielten Nir Dayan unter Beobachtung, machten Fotos von ihm in einem Hotel in Rio, während die drei anderen Ärsche das Segelboot mit meinen Mädels in die Luft jagten. Er hatte das breiteste Lächeln aufgesetzt, als die drei zum Hotel zurückkamen.«

Frische Luft drang in den Gang. Ein Vogelchor draußen wurde von klimpernden Schlüsseln und trampelnden Stiefeln auf Linoleum begleitet.

»Lassen Sie das nicht zu, Nate. Sagen Sie etwas.«

»Nein.« Nathan zog sich das T-Shirt über den Kopf und knöpfte seine Hose auf. »Sie sagten, Sie haben zweieinhalb Stunden versucht zu verstehen, Pater. Aber erst jetzt, nachdem ich mit Ihnen gesprochen habe, verstehe ich

»Was denn?«

»Dass ich es verdiene zu sterben.«