Kapitel 54

Mittwoch, 14. September

In der Cafeteria des Krankenhauses betrachtete Anton seinen jüngeren Kollegen. Magnus’ Augen waren schwarz umrandet. Die Krawatte hing schief. Er hielt eine Flasche Mineralwasser in der Hand, die ihm jeden Augenblick zu entgleiten drohte. Die Augenlider bewegten sich träge.

»Wann immer ich gerade mit nichts beschäftigt bin, denke ich an sie. Wie jetzt.«

»An wen?«, fragte Anton.

»Das kleine Mädchen in Halden. Glaubst du, sie weiß, dass ihre Mutter nie wieder zurückkommt?«

»Wahrscheinlich. Vergiss nicht, dass wir das alles ihretwegen tun. Oda Myhre ist nicht mehr. Für sie hat es keine Bedeutung, was weiter passiert. Aber für die Angehörigen schon.«

Magnus legte den Kopf in den Nacken. Sein Adamsapfel stach hervor.

»Ich möchte nur schlafen. Aber ich weiß, dass ich das nicht kann, wenn ich nach Hause komme. Typisch, oder? Aber so, wie ich mich jetzt fühle, sollte man sich vielleicht fühlen, wenn man drei Jahrzehnte mit diesem Mist zu tun hatte. Nicht drei Tage.« Magnus ließ den Kopf wieder sinken. »Wie lange hast du gebraucht?« Er riss die Augen auf und blickte Anton an. »Wann ist das bei dir zur Gewohnheit geworden?«

Anton brach drei Stücke von einer Tafel Schokolade ab, die auf dem Tisch lag, und steckte sich eines in den Mund. Er kaute und dachte nach.

»Weshalb bist du Polizist geworden?«, fragte Anton mit vollem Mund. »Und erspar mir bitte diesen Scheiß, den zehn von zehn Studenten beim Aufnahmegespräch an der Polizeihochschule von sich geben. Dass sie gern dazu beitragen würden, etwas zum Besseren zu verändern. Und so weiter. Blablabla. Gib mir ’ne ehrliche Antwort.«

Magnus blinzelte, ehe ihm die Augen zufielen.

»Wieso nicht Schreiner?«, fuhr Anton fort. »Denk nur, all die Kronen, die du dir schwarz in die Tasche stecken könntest.«

»Warum bist du Polizist geworden?«, fragte Magnus, ohne den Kollegen anzublicken.

»Weil ich nicht Arzt geworden bin.«

»Du wärst doch nie im Leben Arzt geworden«, sagte Magnus. »Das sagst du jetzt bloß so.«

»Wieso sollte ich etwas bloß so sagen?«, entgegnete Anton.

»Sag mir den wirklichen Grund für deine Wahl, zur Polizei zu gehen, dann verrate ich dir meinen.«

»Das sind Tatsachen, Torp. Es stand quasi im Manuskript, dass ich das Uhrmachergeschäft meines Vaters übernehmen sollte, da mein langweiliger Bruder sich lieber mit Zahlen beschäftigte. Und als Kind liebte ich es, mit meinem Vater bei der Arbeit zusammenzusitzen. Aber kannst du dir vorstellen, dass ich fünfzig Jahre mit einer Lupe dasitzen und Uhrwerke zusammenschrauben könnte?«

»Nein. Aber als Arzt kann ich mir dich auch nicht vorstellen.«

»Das konnte die Osloer Universität ebenso wenig.«

»Du hast dich für Medizin beworben?«

»Aber ja doch. Ich war so sicher, einen Studienplatz zu bekommen, dass ich mir sogar schon eine Wohnung in Oslo besorgt hatte.«

»So ist das also«, sagte Magnus. »Du durftest nicht Medizin studieren, hast aber schon in Oslo gewohnt und dann die erstbeste Gelegenheit beim Schopf gepackt.«

»Ganz so war es nicht.«

»Doch. Hast du nicht in Fagerborg gewohnt, als du auf die Polizeihochschule gegangen bist?«

Anton nahm sich drei weitere Stückchen von der Schokolade und nickte.

»Du hast dich da beworben, weil die Hochschule so nah an deiner Wohnung lag. Da konntest du morgens ein kleines bisschen länger schlafen. Jetzt verstehe ich auch, wieso du an deiner Ich wollte so gern Arzt werden -Geschichte festhältst. Klingt halt viel besser, als zu sagen, dass man Polizist wurde, weil man zufällig ganz in der Nähe wohnte.«

»Alles ist zufällig. Ich sollte eigentlich gar nicht in Fagerborg wohnen. Ich hatte mir gleich was hinter dem Schloss besorgt, in Uranienborg. Die Wohnung in Fagerborg wollte sich ein Kumpel von mir ansehen. Simon Haugen, den kennst du ja. Ich bin nur zur Besichtigung mitgegangen. Aber als wir zu dem Haus kamen, ist zufällig die wohl schönste Frau der Welt mit uns hineingegangen. Sie hatte drei schwere Tüten dabei, und ich habe mich angeboten, ihr tragen zu helfen. Noch ehe wir an der richtigen Tür waren, hatte ich beschlossen, diese Frau zu heiraten. Ich lief runter in die Wohnung, wo Simon stand und gerade den Vertrag unterschreiben wollte. Aber ich habe ihn zu einem Tausch überredet. Die Wohnung in Uranienborg war schöner und größer, aber Simon sollte ja an der Polizeihochschule beginnen, die gleich um die Ecke lag. Er hat dem Tausch dann auch erst zugestimmt, nachdem ich ihm angeboten habe, die ersten sechs Monatsmieten zu übernehmen.«

»Dann hast du also ein halbes Jahr lang für zwei Wohnungen bezahlt? Wie konntest du dir das leisten?«

»Ich habe Karten gespielt. Ich hatte mit Anfang zwanzig mehr Geld, als ich jetzt habe. Jetzt verstehst du vielleicht auch, was für ein mieses Leben ich habe. Fast fünfzig und bis über die Ohren verschuldet.«

»Richtig. Du schuldest mir noch neunzehntausend.«

»Achtzehn.«

»Neunzehn.«

»Du sollest das einfach komplett streichen. Immerhin hab ich dir diesen Job besorgt.«

»Vergiss es«, sagte Magnus und grinste. »Diese Frau, das war Elisabeth, stimmt’s?«

»Ja.«

»Und am Schluss hast du sie also geheiratet. Hübsche Geschichte, auch wenn sie kein Happy End hat.«

»Ich bin eine Woche später eingezogen. Aber Elisabeth war plötzlich verschwunden. Wie sich zeigte, hatte sie da nur vierzehn Tage gewohnt, um auf die teuflische Katze ihrer Freundin aufzupassen, der die Wohnung gehörte.«

Magnus lachte.

»Tja, da saß ich dann. Ohne Traumfrau, aber mit doppelter Miete. Gegenwind, Torp. Der hat mich mein ganzes Leben lang gequält.«

»Und so wurde es dann die Polizeihochschule.«

»Genau.«

»Aber du musstest dich doch bewerben?«

»Simons Onkel kannte da jemanden, was bedeutete, dass meine Bewerbung auf dem richtigen Stapel landete – wenn auch etwas verspätet.«

»Du hast dich also auch damals schon an der Warteschlange vorbeigeschlichen?«

»Ich schleiche, wo ich schleichen kann, Torp.«

»Haha. Allerdings. Aber was ist weiter passiert?«

»Ich habe die Nachbarin jeden Freitag und Samstag auf einen Drink zu mir eingeladen. Elisabeth war nie dabei. Und ich konnte natürlich nicht erzählen, wie es wirklich war. Dann wäre ich gleich als Psycho abgestempelt worden, und sie hätte womöglich die Hochschule benachrichtigt. Mir blieb also nichts anderes übrig, als ein netter Nachbar zu sein und Rakel – so hieß sie – zu mir einzuladen.«

»Und war sie hübsch?«

»Ein echter Knaller. Aber ich hatte dahingehend keine Absichten, sie hat mich nicht interessiert. Und dann, nach drei oder vier Monaten, tauchte eines Samstagsabends Rakel in Begleitung derjenigen Person an meiner Tür auf, die Ursache dafür war, dass ich überhaupt dort wohnte.«

»Lass mich raten: Ab dann war es das reinste Kinderspiel? Du bist einmal mit der Hand durch deine Mähne gefahren und hast irgendwas gesäuselt, und da ist sie gleich in dein Schlafzimmer gesprungen und hat die Beine breit gemacht?«

»Nein, so einfach ließ sie sich nicht umgarnen. Hat bestimmt einen ganzen Monat gedauert, bis ich mich getraut habe, sie auf die Wange zu küssen. So, und jetzt du.«

»Mein Vater ist ein Säufer.« Magnus sprach leise und blickte zur Decke. »Das weißt du ja, und …«

»Er ist verschwunden, als du noch ein kleiner Junge warst?«

»Lass mich ausreden.« Magnus setzte sich anders hin. »Mein Vater hatte seine Arbeit verloren. Natürlich weil er stockbesoffen dort aufgetaucht war. An jenem Abend war er völlig außer sich. Er brüllte und schrie. Völlig unzusammenhängendes Zeug. Ich weiß noch, dass meine Mutter weinte. In erster Linie wohl deswegen, weil er gefeuert worden war. Wir waren ja daran gewöhnt, wie er in betrunkenem Zustand sein konnte, aber dieses Mal war es besonders schlimm. Er sagte böse Dinge zu meiner Mutter und zu mir, schmiss den Fernseher um und warf die Teller auf den Boden. Riss Bilder von den Wänden. Mutter wurde immer verzweifelter. Sie versuchte, ruhig mit ihm zu reden, aber ohne Erfolg. Am Ende hat er sie aufs Sofa runtergestoßen und gesagt, sie solle das Maul halten. Ich bin dann auf Socken zum Nachbarhaus gelaufen, wo sie die Polizei verständigt haben. Ich weiß noch, dass sie schnell kamen. Die ganze Straße war blau erleuchtet. Kurz danach kam noch ein Streifenwagen. Der erste Wagen hat meinen Vater mitgenommen, und die beiden Polizisten, die zuletzt gekommen waren, blieben eine Weile bei uns und haben mit Mutter und mir geredet. Eigentlich haben sie gar nichts Besonderes getan, sie sind nur gekommen, haben aufgeräumt und meine Mutter beruhigt. Mein Vater ist am folgenden Nachmittag nach Hause gekommen. Kurz danach ist er wieder gegangen. Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen. Das Letzte, das ich gehört habe, war, dass er in Drammen wohnt.«

»Und dann wolltest du das Gleiche für andere Menschen tun, wenn du mal groß wärst?«, sagte Anton.

»So was in der Art. Aber du hast meine Frage noch nicht beantwortet: Wann ist das hier für dich zur Gewohnheit geworden?«

»Das ist nie geschehen. Aber mit der Zeit wird es einfacher, damit klarzukommen. Worauf ich hinauswollte, war, dass jeder Idiot mit Führerschein Polizist werden kann. Guck dir bloß diese ganzen Hohlköpfe bei der Streifenpolizei an. Mancherorts kommt man sich fast vor wie in einer betreuten Einrichtung. Nur die wenigsten haben eben das Zeug zu einem guten Ermittler. Du hast es, und wenn dir irgendwas in die Quere kommt, dann denk genau daran. Du könntest diese Arbeit nicht machen, wenn ich – und nicht zuletzt Skulstad – dich nicht für geeignet hielten.«

Magnus und Anton saßen eine Weile schweigend da und betrachteten die Menschen, die das Krankenhaus betraten oder verließen.

»Ich weiß, dass du erschöpft und müde bist, aber eine Sache musst du heute Abend noch erledigen. Fahr zu Bodil Hellum. Zeig ihr die Landkarte.«

»Sie ist blind«, entgegnete Magnus.

»Dann erzähl ihr davon. Frag sie, ob ihr irgendwas bekannt vorkommt. Es kann sich vielleicht um einen Ort handeln, wo sie hingefahren sind, als er noch klein war.«

»Es dauert fast eine Stunde, um da hinzukommen.«

»Ich weiß. Und ich würde dich nicht darum bitten, wenn ich es nicht für nötig hielte. Wir kommen näher. Du wirst das schon hinkriegen. Lass mich mal die Karte sehen.«

»Ich hab sie dir zugemailt.«

Anton griff nach seinem Handy. Die weitergeleitete E-Mail, die von Mogens Poulsen stammte, enthielt lediglich ein PDF -Dokument. Anton tippte auf den Anhang. Eine Landkarte erschien auf dem Display. Es war der Ausschnitt einer Karte von Ostnorwegen, von Vikersund im Westen bis zur Østmarka im Osten, und von Fagerstrand im Süden bis Hønefoss im Norden. Achtundzwanzig rote Markierungen waren auf der Karte zu sehen. Direkt am Oslofjord lagen die Markierungen fast übereinander. Der nördlichste Punkt, den die Meeresbiologin der Universität Bergen bestimmt hatte, war Klekken, gleich östlich von Hønefoss. In der Østmarka gab es nur eine Markierung. Am Tyrifjord gab es sechs. Bei Fagerstrand war eine Stelle draußen am Fjord markiert worden.

»Der Ort liegt vermutlich geschützt, muss gleichzeitig aber einfach zu erreichen sein. Wir wissen mit Sicherheit, dass Hedda Back und Oda Myhre zum Goksjø beziehungsweise zur Festung Fredriksten transportiert wurden. Aber vorläufig wissen wir nur, dass der Tatort für den Mord an Oda Myhre einer von diesen Orten sein muss.« Anton hielt die flache Hand über die Markierungen auf der Landkarte. »Wenn ich raten sollte, dann wurde Hedda Back am selben Ort getötet.« Er legte den Finger dicht an den Oslofjord. »Von diesen Stellen kannst du vermutlich absehen. Um Ekeberg und auf Nesøya gibt es viel zu dichte Bebauung.« Anton verschob den Finger nach links, über Oslo hinweg, durch die Nordmarka bis hinauf zum Tyrifjord. »Ringerike liegt ein ganzes Stück weit weg. Hätte er es riskiert, mit einer Leiche im Wagen quer durch Oslo zu fahren?«

»Aber ist es nicht merkwürdig, dass er Oda Myhre weit wegbringt, sie tötet, nur um sie dann wieder zurückzutransportieren? Denn wenn wir den nächstliegenden Ort nehmen, an dem dieser Käfer lebt und wohin man anscheinend auch mit dem Auto kommen kann, dann ist das Fagerstrand. Und mit dem Wagen dauert es von Halden eine Stunde bis dorthin. Vielleicht eine und eine viertel Stunde.«

»Stimmt, es ist ein unnötiges Risiko, aber«, Anton klopfte mit dem Finger auf das Display, »sieh dir trotzdem jeden Ort genau an.«

»Morgen wird ein langer Tag.«

»Ich kümmere mich um einen Helikopter, der euch abholt, sobald die Sonne hoch genug steht und die Sicht gut ist.«

Anton legte die Hände auf den Tisch und stemmte sich vom Sofa hoch.

»Bekommst du abends auch Morphium?«, fragte Magnus und stand ebenfalls auf.

»Rate mal.«

Die Türen am Haupteingang des Krankenhauses glitten auf.

»Scheiße«, sagte Magnus und deutete auf die Frau, die gerade hereinkam. »Sieh dir die an.«

»Bleib ganz ruhig«, sagte Anton leise. »Kaja!«, rief er dann.

Sie blieb stehen, spähte in Richtung Cafeteria und hob die Hand zum Gruß. Anton und Magnus gingen zu ihr. Sie trug enge Jeans und eine kurze Lederjacke mit weißer Bluse darunter.

»Sie haben sich heute Abend also bis in die Vorhalle getraut?«, fragte sie mit einem Zwinkern. »Fühlen Sie sich besser?«

»So viel besser«, sagte Anton und hielt Daumen und Zeigefinger dicht aneinander.

»Das ist schön.« Sie musterte Magnus von Kopf bis Fuß und wieder zurück, lächelte und reichte ihm die Hand. »Kaja Hornseth.«

»Magnus Torp.«

»Ich weiß.« Sie entblößte die Zähne. In ihren braunen Augen leuchtete es. »Hab Sie im Fernsehen gesehen.«

Die beiden blickten einander an. Anton räusperte sich und sagte: »Arbeiten Sie heute zwei Schichten hintereinander?«

»Nein, ich will nur einer Kollegin etwas bringen.«

»Lassen Sie sich von ihm nicht zu sehr quälen«, sagte Magnus. »Er ist viel zu verwöhnt.«

»Torp«, sagte Anton. »Die Uhr tickt. Vergiss nicht, dass du noch nach Askim fahren willst.«

Magnus seufzte und sah auf die Uhr. »Wenn ich jetzt fahre, dürfte ich gegen Mitternacht im Bett liegen.«

»Weißt du, was ich vorschlagen würde?«

»Nein?«

»Dass du jetzt fährst. Sofort.«

»Yes.« Magnus trat auf den Ausgang zu, drehte sich auf halbem Weg aber noch einmal um. »Soll ich anrufen, wenn was ist?«

»Was glaubst du?«

»Schön, Sie kennengelernt zu haben, Kaja«, sagte Magnus und ging nach draußen.

»Wollen wir zusammen gehen?«, fragte Anton an Kaja gerichtet.

»Das können wir gern.« Sie warf einen langen Blick durch die großen Fenster, die auf das Gelände vor dem Haupteingang hinausgingen. Magnus war nur halbwegs bis zum Parkplatz gekommen. »Er sieht erschöpft aus.«

»Ja, es war ein langer Tag für ihn.« Anton schnaubte. »Und dann ist wohl auch Schluss mit seiner Beziehung zu diesem Typen.«