Kapitel 56

Mittwoch, 14. September

Eine Fliege hatte sich zwischen Fenster und Jalousie verfangen. Sie summte laut. In der Küche tropfte es leicht aus dem Wasserhahn. Auf dem Küchentisch standen eine Digitaluhr und ein Teller Kekse. Magnus hörte dieselbe CD spielen wie am Abend zuvor. Edith Piaf.

Mit durchgedrücktem Rücken und gefalteten Händen saß Bodil Hellum am Tisch. Magnus las die Namen der Orte auf der Karte von seinem Handy ab. Jedes Mal schüttelte sie schwach den Kopf. Er legte das Handy weg. Die Beleuchtung des Displays erhellte eine Hälfte seines Gesichts. Die grauen Murmelaugen fixierten ihn. Die CD war zu Ende, und Bodil Hellum schaltete um auf einen Radiosender.

»Sind Sie sicher?«, fragte Magnus.

»Ich weiß nicht, wo er sein könnte. Ich glaube, ich würde es Ihnen sagen, wenn ich es wüsste. Sie wirken nett. Aber Sie alle missverstehen Stig. Er ist kein Idiot, auch wenn diese scheußlichen Journalisten es gern so darstellen. Er weiß genau, dass er keinen Kontakt zu mir aufnehmen kann. Das hat er mir gesagt.«

»Was hat er gesagt?«

»Dass er immer an mich denkt, falls er plötzlich verschwinden sollte, auch wenn er sich dann nicht meldet.«

»Wann hat er das gesagt?«

»Ein paar Tage bevor er weg ist.«

»Wussten Sie, dass er abhauen würde?«

Sie schob die Hand über den Tisch und zog sie wieder zurück. Magnus wiederholte die Frage in strengem Tonfall.

»Er hat mir keine Details verraten. Er sagte bloß, dass alles in Ordnung käme, sobald er nach Halden verlegt würde«, sagte Bodil Hellum.

»Was hat er noch gesagt?«

»Ich wollte, dass er es sein lässt. Ich hatte Angst, dass was passieren würde. Da meinte er, dass es gar nicht schiefgehen könnte.«

»Er hat doch sicher mehr als das gesagt?«

»Er sagte, es würde eine schwierige Zeit für mich werden. Ich müsste auf das Chaos vorbereitet sein, was dann käme.«

»Was ist mit den ganzen Orten, die ich eben vorgelesen habe? Haben Sie Familie oder vielleicht alte Freunde, die irgendeine Beziehung zu einem dieser Orte haben?«

»Wir hatten nicht viele Freunde, und unsere Familie kommt ursprünglich aus Westnorwegen. Es gab eine Hütte, zu der wir jeden Sommer mit der Familie gefahren sind.« Sie kratzte sich an der Wange. »Stig hat den Ort geliebt und darum gebettelt, dass wir da hinziehen, sodass er mehr mit seinen Cousins und seiner Cousine zusammen sein könnte.« Bodil Hellums faltiger Mund verzog sich zu einem Lächeln. »Er ist oft stundenlang im Wald herumgewandert. Am liebsten allein. Erforschen , so hat er das genannt.« Das Lächeln erstarb. »Aber nach dem Sommer, in dem er sieben wurde, wollte er nicht mehr dahin zurück. Er hatte schreckliche Angst vor diesem Wald.«

Magnus hörte zu und nickte.

»Torodd – Stigs Vater – wurde stinksauer. Erst auf Stig, weil er sich an dem Tag, als wir im Jahr danach wieder da hinfahren wollten, strikt geweigert hat mitzukommen. Und dann auf mich, weil ich sagte, dass ich bei dem Jungen zu Hause bleiben könnte. Aber ich ließ ihn einfach toben. Wir sind nie wieder da hingefahren.«

»Weil er plötzlich Angst vor dem Wald hatte?«

»Ja. Tagsüber ging es. Stig und ich sind da oft gewandert, aber plötzlich wollte er immer vor Einbruch der Dunkelheit wieder da raus sein.«

»Es ist zweiundzwanzig Uhr dreißig – halb elf«, informierte eine monotone Stimme aus dem Radio.

»Es ist spät geworden«, sagte Bodil Hellum.

»Ich breche gleich auf, gute Frau«, sagte Magnus. »Aber was ist in Westnorwegen geschehen, in dem Sommer, als Stig sieben wurde?«

»Er hat es nie erzählt, aber etwas muss ihn zu Tode erschreckt haben. Seitdem hat er sich immer vor Bäumen gefürchtet. Torodd hat Stig einmal in den Wald hier bei uns mitgenommen, nachdem es dunkel geworden war. Man fürchtet sich nicht plötzlich vor dem Wald , sagte er. Stig hat vor lauter Angst in die Hosen gemacht. Groß und klein.« Die toten Augen glänzten. Sie blinzelte. Ein paar Tränen rannen an den alten Wangen herab. »Torodd ist explodiert und hat ihn verprügelt.« Sie fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. »Torodd hat Stig nie besonders gerngehabt. Er meinte, der Kleine würde ihm überhaupt nicht ähneln, obwohl ja alle sehen konnten, dass es sein Sohn war. Aber Stig war kein mutiger Junge. Er war schüchtern und vorsichtig, wollte am liebsten in Ruhe gelassen werden. Steckt also doch ein Mann in dir, hat Torodd zu ihm gesagt, nachdem er mit seinen Vettern ein Baumhaus gebaut hatte in jenem Sommer, als er sieben wurde. Das war am Mittagstisch. Alle haben es mitbekommen. Stig hat sich so geschämt.«

»Torodd ist gestorben, als Stig noch ein Kind war?«

Bodil lehnte sich zurück. Der hölzerne Küchenstuhl knirschte.

»Er ist in dem Jahr gestorben, als Stig acht wurde.«

»Was ist passiert?«

Bodil legte den Kopf schräg und fuhr wieder mit der Hand über den Tisch. Magnus wiederholte die Frage.

»Sie haben die Kekse gar nicht angerührt.« Sie griff nach dem Teller und hielt ihn Magnus vor die Nase. »Probieren Sie mal.«

»Nein, danke.«

Sie stellte den Teller wieder zur Seite, nahm einen Keks und zerbrach ihn in zwei Teile. Magnus stellte die Frage noch einmal. Bodil Hellum legte eine Hälfte des Kekses zurück auf den Teller und steckte sich die andere in den Mund. Es knirschte. Sie kaute zu Ende und schluckte.

»Er ist unten in der Badewanne ertrunken.«

»War er besoffen?«

»Nicht besonders.« Die Murmelaugen glitten über den Tisch und blickten Magnus an. »Aber genug.«