Kapitel 58

Donnerstag, 15. September

Über zwölf Stunden waren vergangen, seit der Helikopter mit Hox und Magnus an Bord in Sarpsborg abgehoben hatte.

Im Eingangsbereich des Krankenhauses und in der Cafeteria war es so tot wie im Speisesaal eines Hotels, nachdem die Bedienung das Buffet abgeräumt hat. Im Licht der Straßenlaternen draußen fielen Regenschauer auf das Parkplatzgelände.

Anton kaute langsam auf einem Bissen von dem Krabbensandwich herum, das er gerade noch hatte kaufen können, ehe der Kiosk zumachte. Von der Titelseite einer Männerillustrierten blickte ihn eine Blondine verführerisch an, während sie ihre Brustwarzen mit den Zeigefingern bedeckt hielt. Sie war 21 und kam aus Jessheim.

»Dachte mir schon, dass ich dich hier finde, da du nicht in deinem Zimmer warst.«

Es war Magnus. Er hatte die Krawatte abgenommen und die Anzugjacke ausgezogen. Sein Gesicht war grau. Die Augen wirkten noch deutlicher schwarz umrandet als am Abend zuvor. Sein Hemd war am Bauch und an den Schultern zerknittert, an den Ärmeln war Schmutz. Magnus sank Anton gegenüber auf einen Stuhl.

»Ich warte auf meinen Vater. Er hat vorhin angerufen und gefragt, wo er langgehen müsste und so weiter. Und nachdem ich es ihm dreimal erklärt habe, dachte ich, es wäre einfacher, ihn hier zu treffen«, sagte Anton und schob Magnus das halb aufgegessene Baguette über den Tisch. »Iss.«

»Hast du keinen Hunger?«

»Doch«, erwiderte Anton, »aber das taugt nichts. Fast neunzig Kronen für etwas Gummibrot mit einer Handvoll Krabben. Ich versteh überhaupt nicht, wie diese Bude da überleben kann.«

Magnus griff nach dem Baguette, nahm ein paar Bissen und sagte schmatzend: »Wir haben übrigens nichts gefunden.«

»Da ich nichts von dir gehört habe, war mir das schon klar.«

»Wir sind zwölf Mal runtergegangen. Und dabei sind die drei Zwischenlandungen zum Auftanken in Rygge nicht mitgezählt. Im Laufe des Nachmittags musste sogar der Pilot ausgewechselt werden.« Er nahm noch einen Bissen. Eine Krabbe fiel heraus und landete auf dem Tisch. Er fegte sie auf den Boden. »Leider eine tote Spur.«

Anton sagte nichts. Magnus legte das Baguette zur Seite. Sein Kiefer arbeitete. Er schluckte und erzählte dann von dem Besuch bei Bodil Hellum am Abend zuvor.

»Westnorwegen ist vermutlich etwas zu weit weg«, sagte Anton. »Außerdem gibt es da keine Drachenkopfglanzkäfer. Wie gründlich habt ihr gesucht?«

»Gründlich. Wir haben in der Østmarka angefangen. Mein Bauchgefühl hat mich zuerst dahin geleitet. Den See haben wir auch gleich gefunden, aber da zu landen wäre völlig sinnlos gewesen. Nur Wald, Unterholz und Büsche. Einen Kilometer entfernt gibt es eine schmale Straße, aber die ist viel zu weit vom Wasser weg, als dass man mit einer Leiche über der Schulter da entlanggehen könnte. Und wo sollte er … mitten im Dschungel?«

»Gab’s da irgendwo eine Hütte in der Nähe?«

»Zero. Wir sind einige Minuten lang in einem Radius von sechs- oder siebenhundert Metern über den See gekreist. Nicht die kleinste Blockhütte in der Nähe.«

»Aber ihr habt alle Orte auf der Karte, an denen es diese Pflanzen gibt, überprüft?«

»Natürlich. Allein neun der Markierungen beziehen sich auf Brønnøya. Auf der ganzen verdammten Insel gibt es Häuser.«

»Und ihr habt den ganzen Tag damit zugebracht?«

»Ja, wieso?«, gab Magnus zurück. »So was dauert seine Zeit. Jedes Mal, wenn wir gelandet sind, haben wir die Bewohner befragt. Keiner hat irgendwas Ungewöhnliches gehört oder gesehen.«

Anton sagte nichts. Er saß bloß da, guckte in die Luft und dachte nach.

»Du glaubst, dass ich was übersehen habe?«

»Das habe ich nicht gesagt«, entgegnete Anton.

»Du kannst es ruhig sagen.«

»Ich glaube, die Antwort steht auf der Karte.«

»Ich bin mir da nicht so sicher. Der Nachteil an diesem Käfer ist, dass er fliegen kann. Der kann ja auch losgeflattert sein und hat vielleicht ein Ei zu dieser Draco-wie-auch-immer-Pflanze mitgenommen. Oda Myhre kann an einem Ort ermordet worden sein, von dem niemand weiß, dass dieser Käfer überhaupt dort lebt.«

»Hast du mit dieser Frau von der Universität gesprochen, mit der der Däne in Kontakt war?«

»Ja.«

»Und was sagt sie?«

»Dass das theoretisch möglich ist.«

»Theoretisch . Sonst irgendwelche Neuigkeiten?«

»Nein. Nur dass mich etwa acht oder zehn Journalisten angerufen haben.«

»Zwei haben sich auch bei mir gemeldet.«

»Und was hast du gesagt?«

»Nichts. Ich habe auf Gina Lier verwiesen.«

»Genau wie ich, aber die rufen trotzdem weiter an.«

»Wahrscheinlich weil du neu bist, da hoffen sie darauf, dass dir irgendwas rausrutscht.«

»Wenn ich diesen Fall nicht löse, werde ich kündigen.«

»Glaub mir, ich hatte noch schwierigere Fälle! Albtraumfälle, die sich über mehrere Jahre hingezogen haben und immer noch ungelöst sind. Und du triffst also bei deinem ersten Fall auf etwas Widerstand und möchtest gleich kapitulieren, weil ich nicht neben dir stehe und deine Hand halte? Reiß dich zusammen!« Anton richtete den Blick erneut auf die Blondine auf der Titelseite der Illustrierten. »Fahr nach Hause und schlaf dich aus.«

Er blickte nicht auf, ehe er hörte, wie Magnus aufstand und sich entfernte. Im Erschöpfungszustand trat sein hinkendes Bein deutlicher hervor als sonst. Fast wirkte es so, als ob es ihm zu anstrengend wäre, den Makel zu verbergen. Schließlich verschwand er hinter einer Ecke.

Die Uhr auf dem Handy zeigte 20:45. Antons Vater sollte schon vor einer Viertelstunde angekommen sein.