Kapitel 59

Donnerstag, 15. September

»Du hast es ja ziemlich nett hier, Anton«, sagte sein Vater, als er in das Zimmer kam. Er stellte eine Tragetasche aus dem Supermarkt auf dem Fußboden ab. »Du meine Güte. Flachbildschirm und alle Schikanen.« Er zeigte auf die andere Tür. »Und ein eigenes Bad?«

»Mit Dusche.«

»Na, ich muss schon sagen.« Der Vater setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett und ließ seinen bewundernden Blick abermals durch den sterilen Raum gleiten.

»Schon was anderes als das Krankenhaus, in dem ich damals in der Türkei gelandet bin. Das weißt du noch, oder? Als ich eine Lebensmittelvergiftung hatte. Kebab hab ich seitdem nie wieder angerührt. Du erinnerst dich doch, Anton?«

Anton nickte, ließ die Männerillustrierte aufs Bett fallen und legte sich hin. Er stopfte sich ein Kissen in den Rücken und saß abwartend da. Sein Vater griff nach der Zeitschrift und betrachtete die Blondine.

»Gott bewahre. Nicht eben klein. Die können doch wohl nicht echt sein, Anton?« Er hielt ihm die Illustrierte hin. »Da braucht’s wohl ’nen Spezialisten, um mit so ’ner Ausrüstung umgehen zu können.« Er warf das Blatt wieder aufs Bett. »Deine Mutter meinte, du hättest höllische Schmerzen, aber eigentlich siehst du doch ganz fit aus, finde ich.«

»Mir geht’s auch schon besser. Der CRP -Wert ist auf 82 runtergegangen, und heute hab ich nur ’ne einfache Paracetamol gegen die Schmerzen genommen.«

»CRP ? Was ist das denn?«

»Daran erkennt man, dass es ein erhöhtes Entzündungsniveau im Körper gibt.«

»Aha. Tja, die sind ja inzwischen ziemlich gut, diese Ärzte.« Der Vater öffnete die Tragetasche. »Ich habe übrigens gestern Henning getroffen. Er hatte das, was du jetzt hast, vor vielen Jahren. Eiterbeule im Sack, oder? War wohl etwas, was er nicht mal seinem schlimmsten Feind gewünscht hat. Insofern also gut, dass es dir besser geht.«

Henning war ein Mann aus dem Viertel, in dem Anton aufgewachsen war. Er war so alt wie sein Vater. Ungefähr gleichzeitig mit dem Beginn von Antons Ausbildung an der Polizeihochschule war er aus der Gegend weggezogen, hatte aber mit Antons Vater noch immer Kontakt.

»Du hast es also Henning erzählt?«

»Ja, ich soll schön grüßen und dir gute Besserung wünschen. Auch von den anderen.«

Anton setzte sich gerade hin, legte die Fingerspitzen aneinander und sagte leise: »Von den anderen …?«

»Den anderen aus der Quizrunde. Ich veranstalte das jetzt jeden Mittwoch. Wirklich sehr nett, weißt du? Du solltest mal vorbeikommen – wenn du wieder in Form bist. Da gibt’s mehrere in deinem Alter. Auch ein paar Single-Frauen.«

»Dass ich im Krankenhaus liege, ist also allgemeiner Gesprächsstoff?«

»Findet du das so seltsam?«

»Ich liege hier nicht mit einem gebrochenen Bein«, sagte Anton verstimmt. »Man darf auch seinen Kopf benutzen, Papa. Bestimmte Dinge sollten nun wirklich in der Familie bleiben.«

Antons Vater winkte ab und sagte: »Schluss damit, Anton. Jeder kann mal krank werden. Vor nicht allzu langer Zeit musste sogar der König wegen irgendeiner Blasengeschichte operiert werden. Das kam sogar in den Abendnachrichten.«

Anton holte tief Luft, lehnte sich zurück und ließ sie langsam wieder ausströmen. Ihm fehlten die Worte. Sein Vater nahm M&Ms, Schokolade und Chips aus der Tasche.

»Ich hab dir ein paar Snacks mitgebracht«, sagte er, legte alles auf den Nachttisch und stellte die Tasche wieder ab. »Ich wollte eigentlich schon gestern Vormittag vorbeikommen, aber ich hatte mal wieder viel zu viel zu tun.«

»Bist du nicht Rentner?«

»Ja, schon. Es klingt vielleicht seltsam, aber ich hatte nie so viel zu tun wie jetzt.«

»Aber doch nicht mehr als früher bei der Arbeit.«

»Das kannst du ja gar nicht wissen.«

»Doch, tue ich.«

»Marvin verlangt eben Aufmerksamkeit. Und da deine Mutter ja immer noch etwas arbeitet, bin ich es, der in der Regel mit ihm rausgeht.«

»Hattet ihr euch nicht einen Mops angeschafft, um es etwas ruhiger angehen zu lassen?«

»Marvin ist in Topform«, sagte der Vater. »Wenn er nicht viermal täglich auf Tour gehen kann, wird er rastlos. Zwanzig Grad plus oder zwanzig Grad minus – Marvin muss raus. Wir haben unseren Spaß zusammen.«

»Diese Hunderasse wurde dazu erschaffen, faul auf dem Sofa herumzuliegen.«

»Marvin nicht.« Antons Vater nahm die Fernbedienung vom Nachttisch. »Wo ist denn das Zweite?« Er drückte eine Taste. »Die Nachrichten fangen jetzt an.« Nichts geschah. Er packte die Fernbedienung und drückte entschieden auf den Tasten herum. »Das Zweite. Welcher Kanal?«

»Zwei.«

Der Vorspann der Nachrichten war gerade beendet, als Antons Vater sich zu Kanal 2 vorgearbeitet hatte. Der Ton war leise. Nach einem Kameraschnitt war auf dem Bildschirm eine Kolonne mit Pick-ups zu sehen. Auf den Ladeflächen standen Männer mit verhüllten Gesichtern und schossen in die Luft. An mehreren der Fahrzeuge war eine schwarze Flagge mit weißer arabischer Schrift befestigt.

»Sieh dir bloß mal die Cowboys da an«, sagte der Vater, schüttelte den Kopf und drehte sich zu Anton um. »Die kommen da unten nie zur Ruhe. Erinnerst du dich an Reidun?«

»Ja«, stöhnte Anton. »Ich erinnere mich.«

»Willst du nicht was von den Süßigkeiten aufmachen?«

»Ich habe gerade keine Lust darauf.«

»Nicht mal ein winziges M&M-Kügelchen?«

Anton schüttelte den Kopf.

»Na dann nicht. Reidun wohnt ja in Lisleby, weißt du. In dieser Terrorstraße. Die kannte einen von denen, die da runtergefahren sind, und zwar seit er mit seiner Familie nach Norwegen gekommen war. Kannst du dir so was vorstellen? Plötzlich ist da Allahu akbar und voll baluba. Am Ende sei er gar nicht mehr wiederzuerkennen gewesen, meinte Reidun. Die kriegen da alle ’ne Gehirnwäsche. Ich meine, wir reden hier von einem Kerl, der quasi auf Reiduns Treppe groß geworden ist. Dann lässt er sich ’nen langen Bart wachsen und kennt einen nicht mehr. Und plötzlich sitzt er in einem Flieger nach Syrien. Oh!« Antons Vater zeigte auf den Fernseher. »Da ist er. Dein Kumpel.«

Es war ein Ausschnitt von der Pressekonferenz am Tag zuvor. Magnus füllte den ganzen Bildschirm aus. Unten am Bildrand stand: Auf der Jagd nach dem Täter . Der Moderator kommentierte den gezeigten Einspieler, aber der Ton war zu leise, als dass Anton etwas hätte verstehen können.

Die Nachrichten wechselten nach einer Weile zu den Meldungen vom Sport, ehe eine lächelnde Frau auf dem Bildschirm erschien und mit der Hand auf ein dunkelblaues Tiefdruckgebiet zeigte, das vom Kontinent nach Ostnorwegen hereintrieb.

»Morgen Vormittag scheint noch die Sonne, aber nachmittags ist mit kräftigen Regenwolken zu rechnen. Im Gebirge und an der Küste werden Windböen mit bis zu dreißig Metern pro Sekunde erwartet, während es im Landesinneren we…«

Antons Vater wechselte zu NRK und schüttelte den Kopf. Eine Diskussionsrunde stand auf dem Programm.

»Herrje«, seufzte der Vater. »Ich begreife nicht, wieso die das unbedingt in Neunorwegisch untertiteln müssen. Bei dieser blöden Sprache geht doch jeder Witz verloren.«

»Niemand zwingt dich, diese Untertitel zu lesen«, sagte Anton.

»Wenn da was steht, dann liest man es auch. Aber das stört bloß.« Der Vater schaltete erneut um. Bruce Willis stand zusammen mit Samuel L. Jackson in einer Telefonzelle. Antons Vater nahm die M&M-Tüte vom Nachttisch, riss sie auf und gab Schokonüsse in seine hohle Hand.

Anton erwachte, als sein Vater den Stuhl über den Fußboden schob. Zum Klang einer Instrumentalversion von When Johnny Comes Marching Home rollte der Abspann über den Bildschirm.

»Bin wohl weggedöst«, sagte Anton schläfrig.

»Kommst du morgen nach Hause?«

»Ja. Ich bekomme morgen früh eine Ladung Antibiotika und am Nachmittag noch eine. Danach kann ich wohl nach Hause und die Penicillin-Kur in Pillenform weitermachen.«

Sein Vater beugte sich vor, um die Tragetasche vom Boden aufzuheben. Sein Hemd und seine Jacke rutschten dabei ein Stück nach oben. Über der Hose kam sein Rettungsring zum Vorschein. Er griff nach der Tasche und richtete sich wieder auf.

»Zieh mal deine Jacke hoch«, sagte Anton.

»Was?«

Anton sagte es noch einmal. Irgendetwas an seinem Tonfall ließ den Vater tun, was er verlangte, ohne noch einmal nachzufragen. Er hatte eine Wunde an der Seite. Ein schmaler roter Streifen, der sich über die Taille nach oben zog.

»Woher hast du das?«

»Ach, ich war bloß ungeschickt. Die Nachbarhündin ist gerade läufig, und Marvin flippt immer aus, sobald er eine Pfote in den Garten setzt. Gestern Abend ist er dann total durchgedreht. Hat sich im Rhododendron verhakt und kam nicht mehr raus. Also musste ich auf alle viere runter und ihn befreien.« Antons Vater zog Hemd und Jacke ein Stück höher. Ein roter Strich zierte seinen Rücken unterhalb des Nackens. »Aber ich hab gleich diese gelbe Salbe draufgeschmiert, die wir im Schrank haben, damit es sich nicht infiziert.«

Anton nahm das iPad vom Nachttisch, fuhr mit dem Finger über den Schirm und gab seinen Code ein. Er öffnete die E-Mail von Mogens Poulsen, die den vorläufigen Obduktionsbericht zu Hedda Back enthielt. Er rief die angehängten Fotos auf. Das erste zeigte die unbedeckte Leiche auf dem Stahltisch. Das Foto war von oben aufgenommen und zeigte den ganzen Körper. Anton navigierte zurück zum Posteingang. Öffnete die Mail mit der Betreffzeile: Vorläufiger Obduktionsbericht – Oda Myhre. Sie hatte dieselben Wunden und Schnitte, nur nicht so viele.

Anton hätte es wissen müssen, sobald er Hedda Back auf dem Tisch beim Dänen gesehen hatte.

Leise fluchte er in sich hinein.

»Was machst du da?«, fragte sein Vater, stellte sich neugierig neben Anton und blickte auf das iPad. »Oh Gott, nein, das will ich nicht sehen.«

Er wandte den Blick ab. Anton griff nach Hemd und Jacke seines Vaters und zog beides noch einmal hoch. Er ließ den Blick zwischen den Verletzungen seines Vaters und dem nackten toten Körper auf dem Bildschirm hin- und herwandern.

»Ich sollte mal sehen, dass ich nach Hause komme«, sagte der Vater und trat auf die Tür zu.

Anton verabschiedete sich, ohne vom Schirm aufzublicken. Dann öffnete er den Kartenausschnitt mit den achtundzwanzig Markierungen. Denn jetzt wusste er, wonach er suchen musste.