Kapitel 65

Freitag, 16. September

Einige Stunden nachdem der vierte Spatenstich erfolgt und der Leichengestank von Stig Hellum aus der Erde gedrungen war, füllten der aufgerissene Mund und die langen Zähne desselben Mannes die Leinwand im Sitzungsraum aus.

Anton saß auf demselben Stuhl wie vor fünf Tagen. Am Tisch neben ihm befanden sich Magnus, Hox, der Kripochef Odd Gamst, PR -Referentin Gina Lier sowie der Leiter der taktischen Abteilung, Roar Skulstad. Der Fall hatte einen Quantensprung nach vorn gemacht, in eine Richtung allerdings, die niemand hatte vorhersehen können. Im Laufe der letzten zweiundzwanzig Minuten hatte Magnus erläutert, was er und Hox unternommen hatten, seit Hedda Backs Leiche am Montagmorgen aufgetaucht war.

»Und hier«, Magnus deutete auf die Wand, »sind wir jetzt also.«

»Als Skulstad mich vor einer Dreiviertelstunde angerufen hat, habe ich gesagt: Das kann nicht wahr sein .« Kripochef Odd Gamst drehte sich von der Leinwand weg. »Das würde ich auch jetzt gern sagen. Torp, kannst du es? Kannst du trotz der Stahlplatte sagen, dass noch immer Zweifel bestehen? Oder seid ihr«, er richtete den Blick auf Anton, »genauso sicher, dass es Stig Hellum ist, wie ihr es am Montag wart, als es um die neuen Morde ging?« Seine Augenbraue schoss in die Höhe. »Und falls ihr mich jetzt als etwas sarkastisch erlebt, dann trifft das völlig zu.«

»Es ist Hellum«, sagte Anton. »Poulsen ist unterwegs, um es anhand der odontologischen Funde zu bestätigen. Vermutlich dauert es einige Tage, bis wir wissen, wie lange er dort gelegen hat. Vielleicht hat er da schon seit dem Abend der Flucht gelegen.«

»Seit dem Abend der Flucht?«

»Hedda Back und Oda Myhre wurden an öffentlichen Orten abgeladen, sodass sie gefunden werden mussten – und zwar schnell. Aber dass wir Hellum finden sollten, war kein Bestandteil des Plans. Wir sollten hinters Licht geführt werden und glauben, dass er hinter allem steht – und das taten wir. Die Annahme, dass er vor zwei Jahren Hilfe bekam, um abzuhauen, ist durch den Wagen untermauert worden, der in Solli stand. Wenn wir herausfinden, wer den dort abgestellt hat, dann finden wir auch den Mörder von Hedda Back, Oda Myhre und Stig Hellum.«

»Und dass er ins Ausland geflohen ist, wie die Hellum-Gruppe frühzeitig konstatiert hat, ist demnach nur dummes Zeug?«

»Dummes Zeug würde ich das nicht nennen. Es ist gar nicht so abwegig, dass sie diesen Schluss gezogen haben. Es erschien logisch. Ich glaube, er ist damals direkt in diese Waldhütte in der Østmarka gefahren. Laut dem Einsatzleiter, der am Abend der Flucht für die Fahndung verantwortlich war, hatte Hellum einen Vorsprung von fünfzehn Minuten, ehe die Polizei überhaupt verständigt wurde, und die erste Streife war erst fünfundzwanzig Minuten später vor Ort. Der Helikopter suchte nach einer einzelnen Person im Waldgebiet rund um Solli. Nicht nach einem Auto, das mit erhöhter Geschwindigkeit über die E6 nach Norden raste. An diesem Abend gab es wahrscheinlich eine der seltenen Möglichkeiten, mit zweihundert über die Autobahn zu jagen, ohne in eine Kontrolle zu geraten. Denn alle Streifen in Østfold, einschließlich der Einsatztruppe, befanden sich in oder auf dem Weg nach Solli.

»Er hatte auch seiner Mutter gesagt, dass überhaupt nichts schiefgehen könnte«, sagte Magnus.

»Na ja, schiefgegangen ist es schon«, warf Skulstad ein. »Aber was genau? Haben Hellum und sein mysteriöser Helfer sich in jener Nacht wegen irgendwas zerstritten? Und wer würde es wagen, mit Stig Hellum im Wagen nachts in die Østmarka zu fahren?«

»Sieh es mal von der anderen Seite«, sagte Anton. »Wem konnte Hellum so blind vertrauen? Denn an jenem Abend wusste keiner besser als Hellum selbst, dass er der Gefährdete war. Dass er der Verletzbare war und abhängig von jemand anderem. Nicht derjenige, der ihm geholfen hat. Denn der hatte in diesem Moment die Kontrolle. Dieser andere hatte alles geplant. Wem von denen, die auf unserer Liste stehen, hat er solch ein Vertrauen geschenkt?«

»Ich habe ein Gespenst gejagt.«

Zum ersten Mal während der Besprechung hatte Hox den Mund aufgemacht. Anton sah zu ihm hinüber. Er hockte allein am Ende des Tisches. Sein Blick zeigte, dass er gerade ganz woanders war.

»Jetzt warte mal, Brekke«, sagte Kripochef Odd Gamst. »Hox hat doch diese Spuren auf den Philippinen gefunden. Haare mit Hellums DNA -Profil. War das nicht so, Hox?«

Hox nickte stumm.

»Will man DNA in Haaren finden«, sagte Anton, »dann braucht man auch die Haarwurzeln.«

»Was willst du damit sagen?«, fragte Odd Gamst.

»Dass es Absicht war. Die Hellum-Gruppe sollte sie finden. Die Haare wurden von derselben Person deponiert, die auch den Wagen in Solli abgestellt hat. Niemand hier wird ja ernsthaft glauben, dass Hellum erst abhaut, um dann gleich wieder zurückzukommen. Denn wann hast du die Haare gefunden, Hox? War das nicht zwei Monate nach der Flucht?«

»Drei.«

»Eben. Ich hatte erst das Gleiche gedacht – dass er zurückgekommen war. Aber diese Vermutung hat jetzt keine Substanz mehr. Er hat Norwegen nie verlassen. Er hat nicht mal die Østmarka verlassen.«

Hox lehnte sich mit einem deutlich hörbaren Stöhnen zurück. »Ihr könnt dem Polizeipräsidenten des Distrikts Ost mitteilen, dass er im Laufe des Tages meine Kündigung auf dem Tisch liegen hat.« Er stand auf und trat auf die Tür zu. »Es tut mir leid.«

»Du hast kein Gespenst gejagt«, sagte Anton und blickte Hox an. »Gespenster töten nicht.«

Hox blieb an der Tür stehen und legte die Hand auf die Klinke.

»Wenn du jetzt da rausgehst«, fuhr Anton fort, »dann kann ich dir garantieren, dass du nie wieder deinen Frieden findest. Egal ob der Fall heute oder in hundert Jahren gelöst wird. Nie wieder. Du musst einfach weiter dabei sein. Du hast viel zu viel Arbeit investiert, um jetzt zu gehen. Es ist dein Fall, und Torp und ich werden alles tun, um dich dabei zu unterstützen.«

Hox dachte einen Augenblick nach, ging dann zurück zum Tisch und setzte sich wieder.

»Gut. Dann machen wir also weiter.« In Antons Hodensack bebte etwas, wie die Membran in einem Lautsprecher mit allzu starkem Bass. Er fischte seine Tabletten aus der Tasche, gab Wasser aus einer Karaffe in ein Glas und sagte: »Es mag uns vielleicht so vorkommen, dass wir wieder am Anfang stehen, aber das stimmt nicht. Es gibt nur eine begrenzte Anzahl von Menschen, die Zugang zu Hellum hatten. Unsere Liste hat sich nicht verändert.«

Er drückte zwei Tabletten aus dem Blister, schluckte sie und spülte mit Wasser nach. »Also, nächste Frage: Warum jetzt? Warum hat der Täter nicht gleich losgelegt?«

Niemand gab eine Antwort.

»Es muss einen Grund dafür geben, dass er gewartet hat.«

»Wie sieht’s eigentlich mit diesem Schriftsteller aus?«, fragte Skulstad.

»Aftenposten hat ihn gestern in Zusammenhang mit seinem Buch interviewt«, sagte Odd Gamst. »Aber da hat er bloß darüber geredet, wie es war, sich mit Hellum in Ila zu unterhalten. Über die beiden Morde hat er kein Wort verloren.«

»Die müssen ihn aber doch danach gefragt haben«, sagte Gina Lier.

»Klar haben die ihn gefragt«, entgegnete Hox. »Aber gut, dass er nicht dazu beiträgt, Panik zu verbreiten.«

Magnus und Hox wechselten einen Blick.

»An seinem Timing kommen wir aber nicht vorbei«, sagte Skulstad.

»Mit allem Respekt, Skulstad«, sagte Hox entschieden, »aber vergesst Hans Gulland.«

»Ich muss Hox hier zustimmen«, sagte Anton. »Die Frage, die wir uns eher stellen sollten, lautet, ob die Morde tatsächlich aus reinem Zufall parallel zum Erscheinen des Buchs passiert sind oder ob unser Mann darauf gewartet hat – um den Verdacht auf Gulland zu lenken.«

»Gut«, meinte Skulstad. »Morde zu begehen, um ein paar extra Bücher zu verkaufen, ist vielleicht etwas zu abwegig. Ich sage zwar nicht, dass Gulland nicht unser Mann ist, aber das Motiv ist sicher nicht, Bücher zu verkaufen. Das glaube ich einfach nicht.«

»Welche Informationen wollen wir jetzt eigentlich an die Öffentlichkeit lassen?«, fragte Gina Lier.

»Wenn wir unbedingt etwas verlauten lassen müssen, dann: Funde in der Østmarka stehen in Verbindung mit den Morden an Hedda Back und Oda Myhre. Nicht mehr und nicht weniger. Wer es getan hat, wird verstehen, dass wir eine Leiche gefunden haben. Aber es ist nicht sicher, dass diese Person auch von der Metallplatte weiß, die Hellum eingesetzt wurde. Der Betreffende geht womöglich davon aus, dass es noch ein paar Tage dauert, bis wir Hellum identifiziert haben. Und deswegen veröffentlichen wir diese Information nicht.«

»Einverstanden«, sagte Odd Gamst.

»Die Waldhütte ist ein neuer Ausgangspunkt. Unser Mann hat sich den Ort ausgesucht, weil er sich da sicher fühlte. Irgendein Name auf unserer Liste muss eine Verbindung zu dieser Hütte haben.«

»Gillesvik«, sagte Hox leise. »Wie Anton schon sagte, ist alles vielleicht so arrangiert, um den Scheinwerfer auf Gulland zu richten. Wenn es jemanden gibt, der in der Lage ist, so viele Züge vorauszudenken, dann Gillesvik. Außerdem war er nach der Flucht sechs Monate in Thailand. Es hätte ihn nicht viel gekostet, einen Flieger auf die Philippinen zu nehmen, die Haare zu deponieren und wieder nach Thailand zurückzufliegen.«

»Die Theorie gefällt mir«, sagte Anton. »Kennen die beiden sich? Gulland und Gillesvik?«

»Ganz entfernt«, sagte Hox. »Vor einiger Zeit hat Gillesvik mir mal erzählt, dass Gulland ihn angerufen und ihm mehrere SMS geschickt hätte. Gillesvik hat nie darauf reagiert, dann stand Gulland eines Tages vor der Tür. Er wollte mit ihm über Hellums Kindheit und Jugend reden, aber Gillesvik hat ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen.«

»Dann muss Gillesvik doch gewusst haben, dass ein Buch in der Mache ist?«

»Ja«, sagte Hox. »Das wusste er.«

»Wir lassen Gillesvik beschatten, aber ich möchte auch Gulland noch nicht ganz vom Haken lassen. Ich möchte, dass der ebenfalls beschattet wird. Skulstad?«

»Ich kümmere mich darum«, sagte der Leiter der taktischen Abteilung und griff zu seinem Handy.

»Ich würde die Beschattung von Gillesvik gern selbst übernehmen«, sagte Hox. »Ich will dabei sein, wenn er in den Scheißhaufen tritt.«

»In Ordnung«, sagte Skulstad. »Du kannst die Abend- und Nachtschicht übernehmen. Aber vergiss nicht, Proviant mitzunehmen.« Skulstad lächelte Hox freundlich an.

»Und ’ne Pinkelflasche«, sagte Anton. »Aber was hätte Gillesvik eigentlich davon?«

Die Frage galt der ganzen kleinen Versammlung.

»Er meinte zu mir, dass er Hellum sein Leben verdankt«, sagte Magnus nach einer Weile. »Als ich mit ihm gesprochen habe. Hellum hat ihn damals in der Schule vor dem Mobbing der Mitschüler gerettet.«

»Und dann bedankt er sich, indem er ihn tötet und verscharrt?«

»Ich weiß nicht … Aber … Nein, vergiss es.«

»Raus damit«, sagte Anton. »Wir machen jetzt Brainstorming. Gillesvik hilft Hellum zu fliehen, um ihn dann im Wald zu liquidieren. Zwei Jahre später fängt er an zu töten, auf die gleiche Art wie Hellum. Weshalb?«

»Vielleicht gewagt, aber ein Gedanke: Auf die Spitze getrieben, hatte Hellum ja nichts anderes als seinen Ruf. Gillesvik glaubte, ihm das Leben zu schulden. Was, wenn Hellum Gillesvik überredet hat, ihn zu töten und die Leiche zu vergraben? Auf diese Weise würde er nie vergessen werden. Er wäre nicht nur ein verurteilter Serienmörder gewesen. Sondern ein verurteilter Serienmörder, der fliehen und für immer verschwinden konnte. Denn wer weiß? Er wäre ein Mythos. Der Typ, von dem man am Lagerfeuer Horrorgeschichten erzählen würde. Überlegt mal, wie loyal Gillesvik gegenüber Hellum war, als er ihn all die Jahre im Gefängnis besucht hat. Es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, den Kontakt abzubrechen. Und ein glaubhaftes Alibi für den Abend vor der Flucht hat er auch nicht.«

»Der Unterschied zwischen Genie und Wahnsinn mag ja gering sein«, sagte Anton, »aber das ist doch ziemlich dünn, Torp. Außerdem war Gillesvik gar nicht in Norwegen, als Hellum geflohen ist und dann angeblich ermordet wurde.« Er richtete seinen Blick auf Hox. »Denn wir wissen doch, dass Gillesvik an jenem Montagmorgen nach Thailand geflogen ist?«

»Wir wissen, dass er ein Ticket von Göteborg nach Bangkok hatte und dass der Name, der da draufstand, mit dem Namen im Pass übereinstimmte.«

»Für einen so klugen Kopf wie Gillesvik wäre es doch nicht schwer gewesen, dass zu fingieren«, sagte Magnus. »Wir reden von einem weißen Mann, der aus Schweden ausreisen sollte. Was anderes wär’s, wenn er ein schwarzer gewesen wäre, der einreisen wollte. Dann wär’s wohl nicht bei einem flüchtigen Blick auf den Pass geblieben.«

»Du meinst also, dass er jemand anderen unter seinem Namen fliegen ließ?«

Skulstad hatte die Frage gestellt.

»Ja«, erwiderte Magnus. »Einen, der ihm ähnlich sieht, zum Beispiel.«

»Was ist mit Gulland?«, fragte Anton. »War der mal auf irgendwelchen Auslandsreisen?«

»Nicht dass ich wüsste«, erwiderte Hox. »Ich überprüfe das, aber Gulland ist es nicht. Ich wette um mein eigenes Leben.« Hox schien über etwas nachzudenken. Sein Mund öffnete sich, aber er sagte nichts. Alle blickten ihn an. »Wisst ihr … Da ist mir ein Gedanke gekommen. Gerade erst.« Er sprach leise. »Was, wenn Hellum die Morde 2002 nicht allein begangen hat? Kann Gillesvik daran beteiligt gewesen sein?«

Stille. Alle am Tisch blickten einander an.

»Habt ihr so etwas 2002 mal erörtert, Skulstad?«, fragte Anton.

»Nein …«, erwiderte Skulstad nachdenklich. »Er wurde ausschließlich im Zusammenhang mit seiner Freundschaft zu Hellum befragt. Es war nie ein Thema, dass wir es mit zwei Tätern zu tun haben könnten.«

»Es wurde auch nie DNA von mehreren Personen gefunden?«, fragte Magnus.

»Es wurde überhaupt keine DNA gefunden«, sagte Skulstad.

»Hellum hat die Körper schließlich gründlich gewaschen«, rief Anton ihm ins Gedächtnis.

»Ja, stimmt«, sagte Magnus. »Aber das könnte die vielen Besuche in Ila erklären. Vielleicht hatte er ein schlechtes Gewissen.«

»Die Frau, die entkommen ist – Karoline Birkeland – hat nie davon gesprochen, dass da neben Hellum noch ein anderer war«, sagte Skulstad.

»Genau«, sagte Hox. »Aber vielleicht konnte sie abhauen, weil Hellum an diesem Abend allein über sie hergefallen ist.«

»Wenn da irgendwas dran ist«, sagte Anton, »lässt sich das unmöglich beweisen. Dann müsste Gillesvik gestehen.«

»Du hast gesagt, dass Hellum sich bei demjenigen, den er im Wald in der Østmarka getroffen hat, absolut sicher fühlen musste. Und wer käme da eher infrage als der beste Freund?«

»Aber wieso hat Gillesvik ihn dann umgebracht?«

»Die Antwort darauf können wir vermutlich nur erraten«, sagte Hox. »Möglicherweise ist es auch durch einen Unfall passiert. Jedenfalls besteht kein Zweifel, dass Gillesvik ein größeres Teil in diesem Puzzle ist, als wir dachten.«

Magnus’ Handy klingelte. Er blickte auf das Display, nahm den Anruf dann entgegen und machte sich Notizen auf einer Serviette, während er zuhörte. Anton las, was darauf stand. Walther Tangen. Magnus bedankte sich und legte auf.

»Wir haben den Eigentümer der Hütte gefunden.«