Das Foto war zur Abendzeit von der Straße aus gemacht worden. Ein Weidezaun erstreckte sich um die große Ranch. Mehrere Gebäude standen weiter hinten auf dem Grundstück. Das Hauptgebäude war groß, Licht schimmerte in den Fenstern. Ein Stückchen davor lag eine Scheune. Darüber hinaus gab es zwei weitere Häuser, die anscheinend als Unterkunft für Gäste oder Arbeiter dienten. Beide lagen im Dunkeln. Das Einfahrtstor unten an der Straße stand offen. Oberhalb des Tors waren zwei Stierschädel mit Hörnern befestigt. Drei Streifenwagen standen nebeneinander am Beginn der langen Auffahrt. Zwei Polizisten standen Schulter an Schulter vor dem Tor. Ein gelbes Absperrband verlief hinter ihnen von einem Torpfosten zum anderen.
VIER MENSCHEN ERMORDET
Ein Täter gefasst
Um 23:22 gestern Abend wurde die Polizei in Waller von einem Nachbarn alarmiert, der Schüsse auf der Ranch an der Kickapoo Road gehört hatte. Als die Polizei eintraf, fanden sie eine am Tor sitzende Person vor. Der Mann ließ sich widerstandslos festnehmen. Er trug keine Papiere bei sich und hat vorläufig keine Aussage gemacht, wird aber nach Informationen des Houston Chronicle des Mordes beschuldigt. Als die ersten Polizeibeamten das Grundstück betraten, bot sich ihnen ein grauenvoller Anblick. In einem der Gebäude wurden drei Tote gefunden, der vierte lag im Haupthaus.
Viele Schüsse
Jesse Cranston (29) ist der nächste Nachbar und hat die Polizei verständigt.
– Ich hörte erst drei schnelle Schüsse, dann vergingen einige Minuten, bevor es wieder knallte. Vier oder fünf Mal, aber dieses Mal mit längeren Abständen dazwischen. Vielleicht eine oder zwei Minuten. Dann habe ich die Polizei gerufen, und während ich mit der Notrufzentrale sprach, hörte ich plötzlich drei weitere, schnell aufeinanderfolgende Schüsse. Vom Wohnzimmerfenster aus sah ich einen Mann die Auffahrt hinuntergehen, an deren Ende er sich hinsetzte. Er saß da bestimmt fünf Minuten, ehe die Polizei erschien. Es sah aus, als wollte er verhaftet werden.
Mehrere Täter
Die Polizei in Waller weiß derzeit noch nicht, was der Anlass für die Morde gewesen sein kann.
– Die drei in dem einen Haus hatten ungehinderten Zugang zu Waffen, nichts deutet aber darauf hin, dass es zu einem Schusswechsel zwischen den Ermordeten und dem Täter gekommen ist. Deshalb können wir nicht ausschließen, dass es mehrere Täter waren. Ansonsten muss es sich um einen außerordentlich erfahrenen Schützen handeln, sagt Sergeant Dwan von der Polizei in Waller.
Im Zusammenhang mit dem vierten Opfer fallen Sergeant Dwans Informationen eher spärlich aus.
– Alles, was wir zurzeit sagen möchten, ist, dass der Betreffende nicht sofort starb, wie es bei den drei anderen der Fall war.
Hans Gulland dachte, dass er recht gehabt hatte. Ein Mann, der vier andere erschießt, war langweilig. Wenn es sich beim Täter wenigstens um eine Frau gehandelt hätte, wäre dem Fall ja noch etwas abzugewinnen gewesen. Doch glaubte er nicht, dass allein diese Informationen Magnus Torp zufriedenstellen würden. Er brauchte mehr.
Hans rief die Zeitungsausgabe vom folgenden Tag auf – 22. November 1994. Da stand gar nichts. Die Schüsse in Waller wurden nicht einmal in einer kleinen Nachrichtenspalte erwähnt.
Inzwischen war es Viertel vor neun. Weitere Personen waren in die Bar gekommen. Zwei Piloten hatten an dem Tisch neben ihm Platz genommen. Sie saßen zusammen mit drei Flugbegleiterinnen, aßen Erdnüsse und tranken Limonade, während einer dem anderen – buchstäblich – als Flügelmann diente.
Hans hatte nie einen Flügelmann gehabt. Und während er das zweite Bier bereits zur Hälfte ausgetrunken hatte, dachte er, dass so etwas heute Abend genau das Richtige wäre. Ein Kumpel, der der Barfrau, während sie das Bier brachte, beiläufig erzählte: »Wussten Sie eigentlich, dass dieser junge Mann hier am Donnerstag von Aftenposten interviewt wurde? Nein? Aha. Aber Sie haben doch wohl mitbekommen, dass er am Montagmorgen vier Minuten Primetime bei TV 2 hatte, wo er über ihn gesprochen hat«, um dann nach einem Exemplar der Bücher zu greifen. Und sie würde dann neugierig werden, eine Eins und eine Sieben, und der Flügelmann könnte sagen: »Schätze mal, dass Hans Ihnen mehr als gern etwas über den Titel erzählen würde, bei einem Glas Wein oder zwei.«
Nein. Das wäre too much. Viel zu konstruiert. Es hätte völlig gereicht, sie zu fragen, ob sie schon mal von Stig Hellum gehört hatte. Und wenn sie die letzten Jahre nicht auf dem Mond gewohnt hätte, dann würde es irgendwo bei ihr klingeln. Dann könnte Flügelmann erzählen, dass der schüchterne Kerl neben ihm ein anerkannter und mit Preisen ausgezeichneter Schriftsteller sei. Okay – nicht mit Preisen ausgezeichnet. Jedenfalls noch nicht. Gut, anerkannt auch nicht.
Aber doch immerhin Schriftsteller. Und vielleicht wäre das genug gewesen, damit sie gefragt hätte, ob sie nach ihrer Schicht zusammen ein Bier trinken wollten. Oder vielleicht hätte sie auch gar nichts gesagt, sondern wäre nur ohne Vorwarnung auf Zimmer 319 erschienen.
In irgendeinem reizvollen und freizügigen Ensemble.
Hans nahm einen großen Schluck.
Nein, es musste gar nicht reizvoll und freizügig sein. Sie dürfte gern so kommen, wie sie war. Sie konnte tragen, was immer sie wollte, solange sie nur käme. Und dann würde er mit ihr spielen.
Würde sie dazu bringen, laut nach ihrem Vater zu rufen, so wie Stig es mit seinen getan hatte.
»Was ist?« Magnus sah Anton fragend an.
»Heute Vormittag habe ich Cornelius Gillesvik gefragt, ob er schon mal von Hurtigruten gehört hat. Er sagte: Wie jedem anderen Norweger ist mir Hurtigruten ein Begriff. Weißt du, wie Oda Myhres Lebensgefährte reagiert hat, als ich ihn das Gleiche gefragt habe?« Anton streckte den Kopf leicht vor. »Er hat mich gefragt, wo es mir denn weh tut, und mir starke Schmerztabletten angeboten, bevor er mir eine Antwort gab.« Anton reichte Magnus die Zeugenaussage von Terje Ness. »Jetzt weiß ich auch wieso.«
Magnus legte den letzten Pizzabissen zurück auf den Tisch, nahm das Zeugenprotokoll und las.
»Ich verstehe nicht, was du meinst.«
»Wenn du ihn aufgesucht hättest, wäre es dir klar geworden.« Anton hielt eine Hand hoch. »Das ist keine Kritik. Ich weiß ja, dass er unter Berücksichtigung dessen, was wir von unserem Täter wissen, nicht interessant war. Jedenfalls haben wir das geglaubt. Und es macht nur insofern etwas aus, als dass du den Zusammenhang dann schon gestern gesehen hättest. Okay – eine kleine Kritik: Unsere Aufgabe besteht in erster Linie darin, den Täter oder die Täter zu fassen. Aber eine nicht minder wichtige Aufgabe ist es, mit den Angehörigen der Opfer zu reden.«
Anton erhob sich und ging zur anderen Seite des Tisches. Wo am Vormittag der Polizeipräsident gesessen hatte, stand ein Telefon.
»Ist Terje Ness der Lebensgefährte von Oda Myhre …?«
»Ja. Und seit gestern Abend haben wir einen gemeinsamen Nenner.«
Anton nahm den Hörer ab. Drückte auf den Knopf, der ihn direkt mit der Einsatzzentrale verband. Er schaltete den Lautsprecher ein und legte den Hörer auf den Tisch. Der Leiter der Einsatzzentrale ging nach anderthalb Klingeltönen an den Apparat. Anton erklärte, wer er war und dass er Hilfe bei der Überprüfung eines Namens beim Einwohnermeldeamt benötigte. Auf seinem Handy suchte er den Obduktionsbericht von Mogens Poulsen heraus, auf dem die persönliche Identifikationsnummer verzeichnet war. Anton gab sie am Telefon durch.
»Hedda Back, ja«, sagte der Leiter der Einsatzzentrale.
»Sehen Sie doch bitte mal nach, ob sie oder ihr Ehemann mit einem Jaran Opsahl verwandt sind.«
»Das ist Hedda Backs Vater. Sie hat nach ihrer Heirat den Familiennamen Back angenommen.«
»Scheiße. Augenblick mal bitte.« Anton trat zurück an den Tisch, nahm die Zeugenaussage des dritten jungen Mannes und las die persönliche Identifikationsnummer vor, die oben auf dem Blatt stand.
»Per Romberg«, sagte der Mann von der Zentrale nach einer Weile.
»Richtig«, sagte Anton. »Ist er verheiratet?«
»Momentan nicht, aber er hat drei Ehen hinter sich. Die letzte endete 2010.«
»Töchter?«
»Eine. Stine Romberg. Zwei Söhne. Markus und Mathias Romberg.«
»Sie müssen sofort nach Stine Romberg fahnden.«
»Alle Mannschaften sind draußen und suchen nach eurem Kollegen Hox, Brekke.«
»Sie ist in Lebensgefahr. Ihr müsst sie finden. « Er nahm den Hörer und knallte ihn auf die Gabel. »Wir müssen Oda Myhres Lebensgefährten in Halden aufsuchen. Irgendwer da draußen begleicht alte Rechnungen.«