Kapitel 93

Samstag, 17. September

Magnus hielt den Atem an, als er die Handynummer von Sofie Dalbekk wählte. Ihr Wohnort lag vierhundert Kilometer entfernt und somit nicht in Reichweite der defekten Basisstationen in Østfold. Er klemmte sich den Hörer zwischen Ohr und Schulter und blickte dabei auf das Durcheinander aus Tisch und Stühlen im Konferenzraum.

Es klingelte. Magnus atmete erleichtert auf. Nach fünf Klingeltönen meldete sich eine Frau. Im Hintergrund war Babygeschrei zu hören. Magnus stellte sich vor und entschuldigte sich für die späte Störung, während die Frau versuchte, das Baby zu beruhigen.

»Haben Sie ihn gefunden?«, fragte sie.

»Nein, noch nicht. Dürfte ich fragen, in welcher Beziehung Sie zu Lars stehen?«

»In keiner besonders engen«, entgegnete sie. »Wie ich Ihrem Kollegen heute Vormittag am Telefon schon erklärt habe, wusste ich überhaupt nicht, dass Lars mich als nächste Angehörige angegeben hatte.«

»Ach, nein?«

»Nein. Ich finde das auch seltsam. Seit er umgezogen ist, hatten wir gar keinen Kontakt mehr, und das ist ja jetzt schon zwei Jahre her.«

»Und welche Beziehung hatten Sie zueinander?«

Das Baby wollte wieder Aufmerksamkeit.

»Er hat im Büro des Lensmanns der Gemeinden Lesja und Dovre gearbeitet. Ich war da Sekretärin.«

Die Sekretärin, die nach zwölf Bier plötzlich gut ausgesehen hatte, dachte Magnus. Die Weihnachtsfeier im Moschusgrill, die so geendet hatte, wie sie enden musste.

»Ah ja, dann weiß ich«, sagte Magnus. »Ich hatte gehofft, dass S…«

Das Baby schrie erneut. Sie entschuldigte sich und bat Magnus, einen Augenblick zu warten. Im Hintergrund war eine Männerstimme zu hören. Nach einem Augenblick war sie wieder am Apparat.

»So. Was sagten Sie?«

»Ich hatte gehofft, dass Sie mir etwas mehr über ihn erzählen könnten. Da er Sie als nächste Angehörige angegeben hat, bin ich davon ausgegangen, dass Sie ihn gut kennen.«

Sie stöhnte etwas. »Tja, Gott, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Wie gesagt, wir haben keinen Kontakt mehr. Ist denn etwas Neues vorgefallen?«

»Wir glauben, dass Lars absichtlich verschwunden ist.«

»Warum sollte er das tun?«

»Kennen Sie seine Familie?«

»Nein … Als er mal betrunken war, hat er mir was erzählt. Dass er in verschiedenen Pflegeeinrichtungen groß geworden wäre und dass er keine Eltern hätte. Als ich ihn ein paar Tage danach darauf angesprochen habe, wollte er nicht mehr darüber reden.«

»2009 hat er an der Polizeihochschule angefangen. Wissen Sie, was er vorher gemacht hat?«

»Nein. Ich erinnere mich … Moment bitte, ich geh mal in ein anderes Zimmer.« Magnus hörte Schritte. Eine Tür wurde geöffnet. »Sind Sie noch dran?«

»Ja.«

»Ich erinnere mich an das erste Mal, als ich ihn gesehen habe. Groß. Blond. Gutaussehend. Endlich , dachte ich. Endlich bekommt das Dorf einen Polizisten, der wie ein echter Polizist aussieht. Ich habe mich hoffnungslos verliebt. Nach einer Weihnachtsfeier haben wir ein bisschen geflirtet. Mehr ist nie draus geworden. Gott weiß, dass ich es versucht habe. Aber es war unmöglich, ihn überhaupt näher kennenzulernen. Steinar hat das auch so erlebt.«

»Steinar?«

»Mein Mann. Er … « Sie räusperte sich. »Er arbeitet auch im Büro des Lensmanns. Also, vor zwei Jahren waren wir noch nicht zusammen. Aber vor Kurzem haben wir ein Kind bekommen.«

»Verstehe«, sagte Magnus.

»Aber Lars … Wenn er nicht irgendwelchen Banditen hinterherrannte, lief er mit dem Rucksack durchs Gebirge. Hier oben bei uns ist es ihm wohl etwas langweilig geworden, und als dann diese Hellum-Gruppe aufgebaut wurde, ist er verschwunden, ehe ich mich von ihm verabschieden konnte.«

»Hatte er Hellum zuvor schon mal erwähnt?«

»Ich glaube nicht. Nein.«

»In der Zeit, in der er bei Ihnen gearbeitet hat … Wissen Sie, ob er da mal jemanden in der Haftanstalt Ila besucht hat?«

»Nein … Aber anders als wir hat er montagmorgens auch nicht erzählt, was er am Wochenende so getrieben hatte. Ich weiß, dass er gern weggefahren ist, wenn er frei hatte. Eigentlich hat er sich hier nie so richtig zurechtgefunden. Ich habe ihn noch nie so aufgeregt erlebt wie an dem Tag, als Stig Hellum abgehauen ist.«