1.

Tolkien schrieb zwei Fassungen von Der Hobbit.

In der ersten plant eine Gesellschaft von Zwergen eine Reise zu einem weit entfernten Berg, um dort einen großen Schatzhaufen zu stehlen, der von einem mörderischen, feuerspeienden Drachen bewacht wird – oder eher, um ihn sich zurückzuholen, da sie ihn als ihr Eigentum betrachten. Sie sind auf der Suche nach einem professionellen Dieb, der ihnen bei dieser gefährlichen Unternehmung helfen soll. Ihr Ratgeber, der Zauberer Gandalf, bringt die Zwerge scheinbar in erster Linie aus einer Laune heraus dazu, Bilbo Beutlin anzuwerben, einen ganz gewöhnlichen, häuslichen und wenig abenteuerlustigen Hobbit; und er bringt Bilbo dazu, sie zu begleiten.

Die ganze Situation ist vor allen Dingen auf Komik abgestellt, denn Bilbo ist für das Abenteurergeschäft sichtlich mehr als ungeeignet. Und auch die Zwerge scheinen nicht besonders gut für ihre Aufgabe gewappnet zu sein: Ihre Gesellschaft stolpert auf der Reise von einer Katastrophe in die nächste und entgeht ein halbes Dutzend Mal nur um Haaresbreite dem Tod durch Trolle, Orks, Wölfe, Spinnen und feindselige Elben. Zu Beginn werden die Zwerge noch durch Gandalf aus ihren jeweiligen Notlagen gerettet, der, obgleich exzentrisch, doch deutlich fähiger ist als die Zwerge. Später kümmert Gandalf sich jedoch um seine eigenen Angelegenheiten, und die Reisenden müssen selbst für ihre Rettung sorgen. Während sie von einer potenziell fatalen Klemme in die nächste stolpern, gelingt es ihnen durch eine Mischung aus Glück und gesundem Hobbitverstand irgendwie immer, mit heiler Haut davonzukommen.

Tatsächlich ist es eine der besonderen Freuden der Erzählung, Bilbos Entwicklung von einem zutiefst unfähigen zu einem halbwegs fähigen Abenteurer mitzuverfolgen. Als die Gruppe im Verlauf der Geschichte eine Reihe Gänge und Höhlen unter einer Bergkette durchquert, wird Bilbo von den anderen getrennt und trifft eine Gestalt namens Gollum. Die beiden spielen ein Ratespiel miteinander, und als Bilbo gewinnt, übergibt Gollum ihm seinen Einsatz – einen Zauberring, der den Träger unsichtbar macht.

Der Besitz dieses Rings und eine recht flache Lernkurve sorgen dafür, dass Bilbo nach und nach besser im Stehlen und Herumschleichen wird. Als die Gesellschaft entgegen jeder Wahrscheinlichkeit den Berg des Drachen erreicht, hat sie zwar tatsächlich Erfolg, aber mit sehr viel mehr Glück als Verstand. Bilbo benutzt den Zauberring, um sich in den Drachenhort zu schleichen und einen Kelch aus den riesigen Schatzbergen zu entwenden. Mehr bringt er nicht zuwege. Zum Glück der Gesellschaft erzürnt der Verlust dieses einen Stücks den Drachen und veranlasst ihn, auszufliegen und in seinem Zorn die nahe gelegene Menschenstadt niederzubrennen. Einer der Verteidiger dort, der von einem sprechenden Vogel gewarnt wird, tötet den Drachen mit einem glücklichen Schuss. Darauf folgt eine große Schlacht. Heere treffen am Berg und dem nun drachenlosen Hort ein. Der Anführer des Zwergentrupps wird getötet, doch für die Übrigen läuft alles gut. Schließlich, nachdem fast der ganze Roman darauf verwendet wurde, das »Hin« des Untertitels zu erzählen, wird das »und wieder zurück« deutlich abgekürzt, und der materiell bereicherte Bilbo kommt nach wenigen Seiten wieder zu Hause an.

Ich betone in dieser Nacherzählung die Unfähigkeit der Hauptfiguren, weil es sich tatsächlich um ihre bezeichnendste Eigenschaft handelt. Es ist eine liebenswerte Unfähigkeit, die zum Teil komödiantischen Zwecken dient, zum Teil dramatischen (indem sie die Spannung verstärkt und dafür sorgt, dass die Geschichte interessant bleibt), und zum Teil dazu, den Leser – uns – an der Geschichte teilhaben zu lassen. Denn seien wir ehrlich: Auf einer gefahrvollen Fahrt würde keiner von uns etwas taugen. Wir sind selbst eher Hobbit-Typen, und unsere Vorstellung von Vergnügen besteht darin, sich mit einem Becher Kakao und einem guten Buch aufs Sofa zu kuscheln, und nicht darin, mit einem Schwert gegen Riesenspinnen zu kämpfen. Genauer gesagt, macht es uns nur in unserer Fantasie Spaß, mit dem Schwert gegen Riesenspinnen zu kämpfen. Der Hobbit verkauft sich unter anderem deshalb so gut, weil die Hobbits (im textuellen Sinne) auf brillante Weise eine Brücke schlagen zwischen unserem modernen, behüteten Blickwinkel und einem doch eher abschreckenden, antiquierten Kriegerkodex aus der erbarmungslosen Welt nordeuropäischer Volkssagen.

Es ist eine der Pointen dieses Abenteuers, dass es insgesamt ein wenig planlos erscheint: Natürlich ist die Geschichte lustiger, wenn eine eindeutig unzulängliche Witzfigur anstelle eines übermächtigen, schwertschwingenden Alphamännchens auf die gefährliche Mission geschickt wird. Die gemütlichen, betulichen Eigenschaften Bilbos und die Art, wie er im Laufe der Handlung von der Bratpfanne ins Feuer und von dort ins nächstgrößere Feuer geworfen wird, sind liebenswerte Aspekte des Buches als Ganzem. Und das müssen sie auch sein, denn diese Geschichte wird von der Idee vorangetrieben, dass das Abenteuer zu dir kommt und dich aus deinem gemütlichen kleinen Schneckenhaus herausholt. Es ist eine verlockende Idee, unter anderem, weil sie das ausbuchstabiert, was eine Geschichte mit uns macht. Inmitten körperlicher Annehmlichkeiten lassen wir uns zum Lesen nieder, doch in unserer Fantasie holt uns die Geschichte aus unserem Loch und nimmt uns auf allerlei gefährliche, aufregende, packende und unterhaltsame Abenteuer mit.

Das ist Der Hobbit in der Form, in der er 1937 erstmals erschienen ist und sowohl Kritikerlob erntete als auch kommerziell erfolgreich war. Aber es gibt noch einen weiteren Hobbit. Damit meine ich nicht den Film, der bald in die Kinos kommt. Ich meine einen zweiten von Tolkien verfassten Hobbit, der aus Änderungen an der Erstausgabe, zusätzlichem Material, das für den Herrn der Ringe und die Anhänge des Herrn der Ringe geschrieben wurde, sowie einigen weiteren Texten besteht. Darunter am wichtigsten zwei kleine Erzählungen, die beide Die Fahrt zum Erebor hießen und 1980 posthum in Nachrichten aus Mittelerde erschienen. Tolkiens erste Revisionen beschränkten sich auf das Kapitel »Rätsel im Dunkeln«. Nachdem er nämlich den ersten Hobbit geschrieben hatte, kam Tolkien zu dem Schluss, dass »der Ring« mehr sein sollte als bloß ein Zauberring, sogar mehr als ein Ring des Gyges12; vielmehr sollte es sich nun um das mächtigste Artefakt der ganzen Welt handeln, das die Leute derart umtrieb, dass sie darüber ihre Seelen verloren. Gollum, folgerte er, würde einen derartigen Gegenstand nicht freiwillig hergeben. Also schrieb er die Szene um. Doch das ist nur ein Symptom einer grundlegenden Änderung – einer Neukonzipierung (Tolkien-Puristen würden vielleicht sagen: einer Verdichtung oder Destillation) des heute so gefeierten Tolkien-Legendariums. Nun ging es ihm nicht mehr nur ums Märchenerzählen, sondern um ein großes, bekenntnishaftes Drama von Fleischwerdung, Buße und Erlösung. Ich will auf Folgendes hinaus: Tolkiens gefeierter Essay von 1939, Über Märchen, feiert seinerseits eigentlich zwei Spielarten der modernen Fantasy, die heimelige und die transzendente. Traditionelle Märchen, die Tolkien als wunderschöne und tiefschürfende Geschichten über Flucht und Wiederherstellung betrachtet; und das Neue Testament, das in seinen Augen die Qualitäten des Märchens teilt, aber auch auf einer höheren, wahreren und wichtigeren Ebene Bestand hat. Mit seinen eigenen Worten:

Das Evangelium hat die Legenden nicht abgeschafft, es hat sie geheiligt, insbesondere den »glücklichen Ausgang«. Noch immer muss der Christ sich mühen, mit Leib und Seele; er muss leiden, hoffen und sterben. Doch nun kann er sehen, dass all seine Neigungen und Fähigkeiten einen Sinn haben, der eingelöst werden kann. So groß ist die ihm verliehen Gabe, dass er nun vielleicht mit Recht vermuten darf, dass er selbst durch seine Fantasie daran mitwirken könne, die Schöpfung mit vielerlei Laubwerk zu bereichern.13

Ich störe mich dabei nicht an Tolkiens religiösen Anschauungen, die (wenn ich sie auch nicht teile) eindeutig essenziell für die Stoßrichtung seines Schreibens sind. Was mich stört, ist die Vorstellung, dass »all unsere Neigungen und Fähigkeiten einen Sinn haben«. In Tolkiens zweiter Fassung von Der Hobbit sind es genau diese Planlosigkeit und die Andeutungen von wunderbarer, menschlicher, komischer Unfähigkeit, die abgefeilt und geglättet werden müssen. Es genügt nicht mehr, dass Gandalf einfach an der Tür des denkbar unwahrscheinlichsten Kandidaten für ein Abenteuer auftaucht, weil schrullige alte Zauberer so etwas eben machen. Jetzt muss er es tun, weil er einen umfassenderen Plan verfolgt. In der ersten Version der Geschichte spielt die Frage, warum Gandalf ausgerechnet einen Hobbit auswählt, eigentlich keine große Rolle, oder besser gesagt geht es in der Geschichte genau um die Grundlosigkeit seiner Wahl. (»Ich stecke in den Vorbereitungen für ein Abenteuer und suche jemanden, der noch mitmacht. Es ist sehr schwer, jemanden zu finden«14, sagt Gandalf und klingt damit in meinen Ohren recht verzweifelt.) Das liegt daran, dass es im Roman nicht um Gandalfs Beweggründe geht, sondern um Bilbos Abenteuer. Warum er ausgewählt wird, ist weniger wichtig als die Art und Weise, auf die er sich im Laufe der Reise später beweist, und das Maß, in dem er seinen Mangel an Heldenhaftigkeit ablegt und zu einem besseren Gefährten wird. Das ist das eigentlich Wichtige, weil wir Bilbo sind. So funktioniert unser Leseerlebnis.

Aber in Tolkiens zweiter Fassung von Der Hobbit muss sich alles aus einem bestimmten Grund ereignen. Gandalf hat nicht einfach nur zum Spaß ein Abenteuer arrangiert; er hat einen entscheidenden Zug seiner Strategie im großen Krieg gegen das Böse ins Werk gesetzt:

Ich wusste, dass Sauron sich aufs Neue erhoben hatte und sich bald im wahren Licht zeigen würde, und ich wusste, dass er sich auf einen großen Krieg vorbereitete … Der Stand der Dinge im Norden war ein sehr schlechter. Das Königreich unter dem Berg und die starken Menschen von Thal gab es nicht mehr. Um einer Streitmacht zu widerstehen, die Sauron aussandte, und die nördlichen Pässe in den Bergen und die alten Lande von Angmar zurückzugewinnen, gab es nur die Zwerge von den Eisenbergen, und hinter ihnen lagen eine Wüstenei und ein Drache. Den Drachen konnte Sauron mit furchtbarer Wirkung einsetzen. Oft sagte ich zu mir selbst: »Ich muss irgendwelche Mittel finden, um mit Smaug fertigzuwerden.«15

Nur, damit das klar ist: Ich habe in diesem Fall nichts gegen das einzuwenden, was SF-Fans als »Retconning« bezeichnen – die nachträgliche Änderung der Welt einer Geschichte. Tatsächlich verstehe ich einen »Text« als etwas grundlegend im Fluss Befindliches und Anpassbares. Ich würde sogar behaupten, dass zu den Dingen, die Tolkiens Schreiben Tiefe und Bedeutung verleihen, genau die Art und Weise gehört, in der er das Medium und die ferne historische Vergangenheit in seiner in der Gegenwart angesiedelten Geschichte übereinanderlegt. Diese ergänzende Perspektive auf den Hobbit bereichert den Text um eine Art Nachhall, einen traurigen Glanz. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass diese nachträgliche Änderung Sinn ergibt. Im Gegenteil: Man will uns glauben machen, dass Gandalf, der Smaugs Beseitigung für einen höchst wichtigen strategischen Schritt erachtet, nicht etwa auf die Idee kommt, eine Armee zu schicken, und erst recht nicht darauf, sich den Drachen mit seiner Zauberkraft persönlich vorzunehmen. Stattdessen denkt er sich: »Ich gehe bis ans andere Ende des Kontinents, rekrutiere ein paar Zwerge, von denen einige dieser Aufgabe eindeutig nicht gewachsen sind (Bombur?), und einen Hobbit, der keinerlei Erfahrung mit derlei Missionen und auch keinerlei Neigung dazu hat, und schicke sie vorbei an zahllosen Gefahren durch die halbe Welt, in der Hoffnung, dass sie dem alten Wurm irgendwie den Rest geben.«

Warum die Zwerge? Tja, ich schätze, sie sind zumindest leicht zu überzeugen, da sie Erebor als ihr rechtmäßiges Eigentum betrachten. Trotzdem fragt man sich, warum ein Militärstratege, wenn er nicht gerade wirklich senil ist, sich nicht zuerst an die Menschen der Seestadt wenden sollte. In keinem Fall gibt es einen guten Grund, warum Bilbo die erste oder auch nur die tausendunderste Wahl für diese Mission sein sollte. In seiner zweiten Fassung der Geschichte nennt Tolkien drei Gründe dafür, den Erfolg der gesamten Unternehmung von Bilbo abhängig zu machen – einer Gestalt, von der Thorin zu recht sagt: »Er ist weich …, so weich wie der Schlamm seines Auenlandes, und er ist einfältig«, und Gandalf pflichtet ihm bei (»›Ihr habt ganz recht‹, sagte ich«16). Die drei Gründe lauten:

1. Hobbits tragen im Gegensatz zu den Zwergen keine Schuhe. (»Plötzlich fügten sich diese drei Dinge in meinem Kopf zusammen: … die derben, schwergestiefelten Zwerge …; und der behende leichtfüßige Hobbit.«17) Das ist sicher nicht ganz unwichtig, da Drachen scharfe Ohren haben. Aber vielleicht wäre es doch weniger gewagt, den Zwergen zu raten, dass sie ihre Stiefel ausziehen sollen, anstatt den Erfolg der gesamten Unternehmung von einem pelzfüßigen Homer Simpson Mittelerdes abhängig zu machen.

2. Smaug würde Bilbos Geruch nicht erkennen, während er den Geruch von Zwergen sehr wohl erkennen würde, obwohl Tolkien das anscheinend erst im Nachhinein zu seinem Manuskript hinzufügte. (»Ein Geruch, der nicht so leicht einzuordnen ist, zumindest nicht für Smaug, den Feind der Zwerge.«) Ein Geruch, den Smaug überhaupt nicht aufspüren kann, hätte mehr Sinn ergeben, aber in Ordnung. Der Umstand, dass er einen Dieb in seinem Hort riecht, die Herkunft dieses Diebs aber nicht auf Anhieb feststellen kann, bringt ihn wahrscheinlich für vielleicht, hm, sechs Sekunden aus dem Konzept

Der dritte Grund ist der willkürlichste:

3. Gandalf hat einfach das Gefühl, dass es eine gute Idee wäre: »Hört mich an, Thorin Eichenschild! … Wenn dieser Hobbit mit euch geht, werdet ihr Erfolg haben. Wenn ihr ihn nicht mitnehmt, werdet ihr scheitern. Ich sehe es voraus, und ich warne euch.«18 Es ist schwer, darin nicht die verschlüsselte Botschaft zu erkennen: »Ich habe diese Geschichte schon geschrieben, und ich weiß, wie sie ausgeht«, was fast schon geschummelt ist.

In Der Herr der Ringe geht es darum, dass selbst »die kleinen Leute« (womit natürlich wir gemeint sind) ihre Rolle bei den großen historischen und kriegerischen Dramen ihrer Zeit spielen – und das ist eine mächtige und wahre Geschichte, die hier gut erzählt wird. Aber Der Hobbit ist erst in der zweiten Fassung eine solche Geschichte. In der ersten, um die es hier vorrangig geht, handelt Der Hobbit nicht von den großen Dramen seiner Zeit, sondern von Dramen, die so klein sind wie wir, und die Leuten widerfahren, die aus ihrer sicheren und vertrauten Umgebung gerissen werden – fortgeweht von einer Geschichte.

Ich bin froh, dass es zwei Fassungen von Der Hobbit gibt und verspüre keinerlei Drang, sie zwanghaft und mehr schlecht als recht miteinander in »Einklang« zu bringen. Nur narrative Fundamentalisten, literarische Taliban, glauben, dass man alle Geschichten derart starr in Übereinstimmung bringen muss. Aber ich mag die eine Geschichte (gemütlich, lustig, ein bisschen was zum Lachen und ein bisschen was zum Staunen) einfach lieber als die andere (groß, fast schon bombastisch, theologisch, episch und bemüht – um einen Begriff zu prägen eutragisch). Dennoch liebe ich beide. Und ich liebe die Zwerge weit mehr als noch so viele Elben. Ich liebe gerade ihren Mangel an Anmut und Eleganz.

Zugegeben, Thorin Eichenschild schwingt in Der Hobbit ein paar hehre Reden. Aber eigentlich sind seine Zwerge besser darin, sich mit Essen und Trinken vollzustopfen und sich (mit herzerwärmender Unfähigkeit) aufs Lächerlichste in die Bredouille zu bringen.

2.

Ich schätze, die Frage, die sich an diesem Punkt stellt, lautet: Warum gibt es zwei Hobbits? Eine Möglichkeit, an ihre Beantwortung heranzugehen, bestünde darin, die grundlegendere Frage zu stellen: Was ist ein Hobbit? Tolkien selbst liefert auf der (abgesehen vom Index) letzten Seite des Herrn der Ringe eine Erklärung für diese Bezeichnung. Hobbit, sagt er, ist das englische Äquivalent des auenländischen Worts »kuduk«. »Dieses Wort habe ich aus den dargelegten Gründen mit holbytla übersetzt; und Hobbit ist ein Wort, das gut und gerne eine verballhornte Form von holbytla sein könnte, wenn dieser Name in unserer alten Sprache vorgekommen wäre.« Das ist halbwegs einleuchtend. Tom Shippey schlägt allerdings eine andere fiktive Etymologie vor:

Hol bedeutet natürlich hole, Loch. Bottle, heute noch in manchen englischen Ortsnamen erhalten, bedeutet Wohnung, Behausung, und altenglisch bytlian heißt bewohnen. Holbytla also: »Loch-« oder »Höhlenbewohner«.19

Diese Herleitung gefällt mir. Sie gefällt mir sogar besser als Tolkiens eigene. Aus ihr folgt unter anderem, dass es in Der Hobbit mindestens fünf Völker gibt, die ohne Übertreibung als Hobbits bezeichnet werden können: Bilbos Volk; die Zwerge; die Orks und Gollum (welche beide in den Höhlen unter den Nebelbergen wohnen) und Smaug selbst. Der titelgebende Hobbit im Singular wirkt mit einem Mal wie eine ironische Untertreibung. Dieses Buch ist voller Hobbits, weil es voller Löcher ist, und die Löcher sind voller Leben.

Tatsächlich ist es bemerkenswert, wie hohl die Landschaften in Der Hobbit und Der Herr der Ringe sind – soll heißen, wie oft die Figuren immer wieder unter ihnen hindurchreisen anstatt an ihrer Oberfläche, wie oft Tolkien sie also immer wieder in Löcher stößt. Wie lautet schließlich der bekannteste erste Satz in der gesamten englischen Literatur? »In einem Loch in der Erde lebte ein Hobbit.« Was lässt sich über Löcher in Der Hobbit sagen?

Bilbo lebt in einer Höhle, die Beutelsend heißt. Er kommt aus ihr hervor (beziehungsweise, er wird von Gandalf und den Zwergen aus ihr hervorgetrieben), um nach Osten zu reisen. Aber als die Gesellschaft das Nebelgebirge erreicht, überquert sie es nicht, sondern sie geht darunter hindurch, durch einen Bau aus Felshöhlen, Gängen, Räumen, Löchern und Leere. Dort stellt Bilbo, der auf der Flucht ist, mit einem Mal fest, dass der herkömmliche Raum um ihn herum sich radikal auflöst, und entdeckt in diesem Moment das entscheidende löchrige Artefakt, den Ring:

Er entschied sich auf gut Glück für irgendeine [Richtung] und kroch ein ganzes Stück weit dahin, bis seine Hand am Boden plötzlich auf etwas traf, das sich wie ein kleiner Ring aus kaltem Metall anfühlte. Das war ein Wendepunkt in seinem Leben, aber er wusste es nicht. Ohne sich viel dabei zu denken, steckte er den Ring in die Tasche; gewiss konnte er damit im Augenblick nichts anfangen.20

Sein Weg durch den durchlöcherten Berg führt Bilbo zu Gollum, und hier in diesem Hohlraum beginnen die beiden nichtsahnend einen geistigen Wettstreit – nichtsahnend in dem Sinne, dass vom Ergebnis dieses Wettstreits (wie in Der Herr der Ringe deutlich wird) und vom Besitz des Rings das Schicksal von ganz Mittelerde abhängt. Jeder stellt dem anderen Rätsel, aber das unlösbare Rätsel, mit dem Bilbo den Wettstreit gewinnt, besteht in der Anrufung eines weiteren Lochs: »Was habe ich da in meiner Tasche?« Tatsächlich kann ich durchaus die Position nachvollziehen, dass Gollum das Rätsel mit seinem letzten Rateversuch (nach »Hände«, »Messer« und »Schnur« ruft er »nichts!«) eigentlich halbwegs richtig beantwortet. Schließlich ist der Ring in seiner physischen Gestalt, aber auch in Bezug auf seine theologische und metaphysische Kraft eben gerade die Negation, das Zunichtemachen, das Nichts. Genauer gesagt, ist die eine physikalische Wirkung des Rings, von dem man als Leser des Hobbits erfährt, dass er seinen Träger unsichtbar machen kann. Letztlich verbirgt er ihn damit vor aller Augen in einem Loch und verwandelt die gesamte Umwelt in einen durchlöcherten Raum. In diesem Sinne ist der Ring erst einmal genau das: ein tragbares Versteck, eine Möglichkeit, sich den Blicken zu entziehen.

Nach dem Nebelgebirge wird die Topografie des Romans zunehmend löchrig: Ein holperiger Pfad führt die Gefährten unvermittelt an eine Kluft mit losem Geröll (»Sie rutschten mit, dicht zusammengedrängt in einem wüsten Durcheinander«21). Sie übernachten bei Beorn, der in einer Reihe ineinander verschachtelter Kammern wohnt (»Sie kamen auf einen Hof … Sie kamen in eine geräumige Halle mit einem Herd in der Mitte … und traten durch eine andere, kleinere Tür.«22) und sich unzählige Stöcke angriffslustiger Bienen hält (und was sind Bienenstöcke, wenn nicht die archetypische Matrix durchlöcherter Räume?). Beorn selbst ist ein Gestaltwandler und verwandelt sich von Zeit zu Zeit in einen riesigen Bären. Man könnte auch sagen, so wie Bilbo im gewöhnlichen Stoff seiner Jackentasche einen Gegenstand von gewaltiger magischer Macht verbirgt, so verbirgt Beorn unter seiner scheinbar menschlichen Haut ein sehr viel größeres magisches Wesen. Als sie ihn das erste Mal treffen, ist der Bär allerdings im Menschen versteckt.

Bilbo und die Zwerge reisen weiter zum Düsterwald, einem Waldraum, der ständig in Begrifflichkeiten des Unterirdischen beschrieben wird: »Den Waldpfad, einen dämmerigen Tunnel, betraten sie durch eine Art Torbogen, bestehend aus zwei großen zueinander geneigten Bäumen […] Bald war das Licht am Eingang nur noch ein kleines, helles Loch hinter ihnen.«23 Sie durchqueren die verschiedenen gefährlichen Bereiche dieser Topografie, bis sie von Waldelben gefangen genommen werden, die ihrerseits eine große Höhle bewohnen, »von der zu jeder Seite zahllose kleinere abgehen«. Die Zwerge werden »in den innersten Höhlen« und »Verliesen« gefangen gesetzt. Mithilfe des Zauberrings entgeht Bilbo der Gefangenschaft und befreit seine Freunde, indem er sie in Holzfässern versteckt, Hohlräumen, die über einen Fluss getreidelt werden. Schließlich nimmt uns das Buch zu einem weiteren Berg voller Höhlen, Löcher, Schächte, Gänge und Leere mit: dem Einsamen Berg.

Man könnte eine Lesart des Herrn der Ringe skizzieren, die sich an den Momenten orientiert, in denen Schlüsselfiguren diese löchrige Wahrheit im Kern der von ihnen bewohnten Welt erkennen (eine Wahrheit, von der wir vermuten dürfen, dass Hobbits, Zwerge und sogar Orks sie bereits ansatzweise begreifen): Gandalf erfüllt sein Potenzial erst, als er in Khazad-dûm stürzt und sich durch ein gewaltiges Netzwerk unterirdischer Höhlen, Gänge und Schächte kämpfen muss. Von dieser Erfahrung kehrt er als Gandalf der Weiße zurück, voll neuer Kraft und mit neuem Wissen über die Welt. Auch Aragorn kann sein Schicksal erst erfüllen, nachdem er die unterirdischen Pfade der Toten beschritten hat; und Sams kurzes Erlebnis als Ringträger findet in den löchrigen Zwischenräumen der Schattenberge statt. Das Böse lauert in Löchern, von den Grabunholden bis zu Saruman in seinem Turm; aber gleichzeitig müssen die Agenten des Guten die durchlöcherten Räume bestmöglich nutzen, um die panoptische Macht zu umgehen, mit der sie im Widerstreit stehen. Dabei handelt es sich sozusagen um die Substanz Mittelerdes selbst: ein endloser, ineinander verschachtelter Raum von Löchern, Lücken, Tälern, Taschen, Abwesenheiten, Höhlen und Leeren, der von einer konfliktgeladenen Ontologie geformt wird, welche wiederum von der Dialektik zwischen Überwachung (das alles sehende Auge des Romanautors) und der Flucht aus der Überwachung bestimmt ist – die Magie der Versetzung, der Traum des Entkommens, die Straße, die immer fortgleitet. All das hat enorm viel mit dem anhaltenden Reiz zu tun, den diese Bücher auf so viele Leser ausüben.

Mit anderen Worten: Dieser entzückende kleine Roman ist ein Rätsel, in dessen textuellem Loch etwas versteckt ist, und dieses versteckte Etwas bringt uns zurück zu Tolkien selbst. Bilbo der Hobbit ist ein angesehener, rechtschaffener Mann der Mittelklasse, in wohlvertrauter Weise englisch und (mit den Worten Tolkiens) durchaus jemand, der in eine Gemeinde gehört, »die mehr oder weniger an ein Dorf in Warwickshire etwa zur Zeit des 60. Thronjubiläums der Queen Victoria erinnert«. Mit anderen Worten: Der Hobbit hat den Hintergrund und die Werte von Tolkien selbst und den sozialen Stand, den Tolkien in seiner eigenen Jugend hatte. Aber Bilbo ist mehr als das. Er wird aus seinem gemütlichen, ländlichen Loch gescheucht und gezwungen, in ein weit entferntes Land zu reisen und in einem Krieg mitzukämpfen. John Garths Studie Tolkiens eigener Erlebnisse im Ersten Weltkrieg macht dazu einige vorsichtige Andeutungen:

Es wäre irreführend zu behaupten, dass Der Hobbit in Wirklichkeit nur ein Deckmantel sei, unter dem Tolkien von seinen Kriegserlebnissen erzählen würde; trotzdem ist leicht zu erkennen, wie einige seiner Erinnerungen dieser Behandlung des adelnden Übergangsritus in den Klauen des drohenden Todes mehr Nachdruck verliehen haben. Der Held aus der Mittelschicht wird mit stolzen, aber tumben Gefährten zusammengeworfen … Auf dem Weg ans Ziel ihrer Reise durchquert die Gesellschaft eine Ödnis, ein ehemals grünes Land, auf dem nun »weder Busch noch Baum wuchs und nur zersplitterte und geschwärzte Stümpfe von denen kündeten, die es vor langer Zeit einmal gegeben hatte«. Mit einem Mal folgen Szenen der Gewalt und des Untergangs … Wir treten an die Lager der Kranken und Verwundeten und hören das Gezänk über Befehle und Strategien.24

Ich habe weiter oben zwei mögliche Etymologien für das Wort »Hobbit« angesprochen, aber ich möchte eine weitere vorschlagen. Obwohl Tolkien sich als zutiefst englisch empfand, war er sich seines deutschen Nachnamens sehr bewusst. Natürlich haben Namen eine Bedeutung, sowohl in unserer wirklichen Welt als auch in Tolkiens Fantasiewelt. Was bedeutet »Tolkien«? Tol bedeutet »närrisch, dumm, überstürzt« (»Tölpel« ist ein anderes deutsches Wort für »Narr«); und kien ist mit dem deutschen Wort »kühn« verwandt, heißt also »tapfer« oder »mutig«. Gelegentlich spielte Tolkien mit der Bedeutung seines eigenen Namens – er schrieb eine Figur namens »John Jethro Rashbold«, bei der es sich um eine Version seiner selbst handelt, in The Notion Club Papers hinein (einen unvollendeten Roman, den er 1945 begonnen hat und der posthum in Sauron Defeated, dem 9. Band der History of Middle Earth veröffentlicht wurde). Das Wort Rashbold ist eine Möglichkeit, das Oxymoron von Tolkiens Nachnamen auszudrücken – mit der er anscheinend seinen Spaß hatte. Eine weitere Möglichkeit in Englisch wäre dull-keen, und sie hat den Vorteil, dass sie sich stärker an den Klang des Originalnamens anlehnt. Auf Englisch bedeutete dull nämlich ursprünglich »närrisch, dumm« (das Wort stammt laut Oxford English Dictionary von derselben althochdeutschen Wurzel ab: tol, »närrisch«) und nahm erst später die Bedeutung »stumpf« an. Keen ist in gewisser Weise interessanter. Ursprünglich bedeutete das Wort »scharf« (im Sinne von: scharfsinnig, schlau, geschickt); und im heutigen Englisch bedeutet es noch immer buchstäblich »scharf« – man bezeichnet eine scharfe Klinge auf Englisch nach wie vor als keen blade, genau wie Chaucer 1385 von »a knyfe as a rasour kene« schrieb. Aber keen bedeutet auch »eifrig, kühn, tapfer«. Das OED vermutet, dass die Bedeutung »scharf« der Bedeutung »mutig« vorausgeht.

Närrisch-schlau, dull-keen, Tolkien. Auf Altnordisch – eine Sprache, für die Tolkien selbstverständlich ein Experte war – lautete das Wort für »scharf« oder »kühn« bitr; genau wie das altenglische bîtan »beißend, schneidend, scharf« bedeutet. Das moderne englische Wort bitter enthält noch eine Ahnung davon. Ursprünglich nannte man etwas bitter – einen bitteren Wind oder einen bitterkalten Morgen – weil es beißt; weil es scharf ist, also keen. Hob hingegen bedeutet ursprünglich »rustikal«, »heimelig«, »albern«. Spenser hatte diese Bedeutung im Sinn, als er den einfältigen Mann vom Lande in seinem Naturgedicht The Shepheard’s Calender (1579) als »Hobinall« bezeichnete. Und ungeschickte, linkische, lächerliche Gesellen wurden bis ins 19. Jahrhundert hinein als hobbledehoys bezeichnet. Die Stumpfheit des hob ist von ländlicher, heimeliger Art; aber trotzdem handelt es sich um Stumpfheit. Und es wäre genauso wie die Verbindung von dull und keen, »stumpf« und »scharf«, ein Oxymoron, aus diesen beiden Bestandteilen das Wort hob-bitr zu bilden.

Ich habe den Eindruck, dass diese spezielle Rätselantwort (»Was ist ein Hobbit?« »Er ist stumpf-scharf, dull-keen, also: Er ist Tolkien«) der umfassenderen Logik der Geschichte entspricht. Bilbos Gewöhnlichkeit erlaubt es uns, an der Geschichte teilzuhaben; und Bilbos Erlebnisse sind tolkienisch. Darüber hinaus war diese Art von etymologischer Decodierung, das Herauslesen der ursprünglichen Bedeutungen aus modernen Worten und Namen, Tolkiens täglich Brot. Und Tolkien selbst schrieb an Deborah Webster: »Ich bin (abgesehen von der Größe) eigentlich ein Hobbit. Ich mag Gärten, Bäume und nicht maschinisierte Äcker; ich rauche Pfeife und mag gutes, einfaches Essen (nicht tiefgefroren), aber verabscheue die französische Küche. Ich mag verzierte Westen und wage selbst in unseren langweiligen Zeiten, sie zu tragen. Ich habe eine Vorliebe für Pilze (wild gesammelte); einen sehr einfachen Sinn für Humor (den selbst meine wohlwollenden Kritiker ermüdend finden); ich gehe spät zu Bett und stehe spät auf (wenn möglich). Ich reise nicht viel.«25

Das ist also, worauf ich hinauswill: Die beiden Hobbits sind im Kern Manifestationen der beiden Tolkiens, des Offiziers, der für seinen Dienst bei der Schlacht an der Somme ausgezeichnet wurde, und des tölpelhaften, bescheidenen, ländlichen Hobbit-Menschen; des stumpfen Kerls und des scharfen; des hob und des bitr. Es ist das Zusammenspiel dieser beiden Aspekte, welches dem Buch eine solche Tiefe verleiht.

12 Der sagenumwobene lydische König Gyges gelangte, so schreibt Platon, durch einen magischen, unsichtbar machenden Ring an die Königsherrschaft.

13 J. R. R. Tolkien: Die Ungeheuer und ihre Kritiker. Gesammelte Aufsätze, Stuttgart 1987, S. 201.

14 J. R. R. Tolkien: Der Hobbit, Stuttgart 1998, S. 17.

15 J. R. R. Tolkien: Nachrichten aus Mittelerde, Stuttgart 1983, S. 421 422.

16 Ebd., S .427.

17 Ebd., S. 424.

18 Ebd., S. 427.

19 Tom Shippey: J. R. R. Tolkien. Autor des Jahrhunderts, Stuttgart 2002, S. 89.

20 J. R. R. Tolkien: Der Hobbit, Stuttgart 1998, S. 9899.

21 Ebd., S. 135.

22 Ebd., S. 162163.

23 Ebd., S. 189.

24 John Garth: Tolkien and the Great War – The Threshold of Middle Earth, New York 2003, S. 307308.

25 Brief an Deborah Webster, 25. Oktober 1958. In: Carpenter (Hrsg.): Letters of J. R. R. Tolkien, New York 1995, S. 288 (Übersetzung: Jakob Schmidt).