Jeder junge Halblingsbursche aus den Dörfern und Weilern entlang der Windungen des Blauen Jockels träumte davon, in den Reihen der Grenzgarde von Spitzbärtlingen dienen zu dürfen. Dieser Dienst an der Gesellschaft galt als große Auszeichnung. Jarik hatte seinem Vater die letzten Jahre, immer kurz bevor sich sein Geburtstag gejährt hatte, so eindringlich in den Ohren gelegen, dass dieser schließlich seufzend nachgegeben und ihn in die Rolle der Aspiranten hatte eintragen lassen – verbunden mit einer zünftigen Feierstunde im »Wilden Eichhorn« verstand sich, der Spitzbärtlinger Gaststätte. Und so nahm der Bursche Jarik Grünblatt das gelb leuchtende Ehrenband am Tag der Ernennungszeremonie mit vor Stolz geschwellter Brust und freudig gerötetem Kopf entgegen. Diese Schärpe trugen die Grenzler ständig, sei es während des Dienstes in den Flussauen, beim Einkauf auf dem Großwurzener Bauernmarkt oder bei dem wohlverdienten Humpen Bier oder Met zum Feierabend.

In die Reihen der Grenzgarde wurden jedoch nur die vielversprechendsten Kandidaten aufgenommen, von denen man sich erhoffte, den Herausforderungen des Dienstes in der Wildnis sicher zwanzig Meilen von jeglicher Zivilisation entfernt gewachsen zu sein. Zumindest sagten das die Grenzler, die Halblinge munkelten, dass die alten Herren der Garde in Spitzbärtlingen immer dann einen neuen Rock spazieren trugen oder ein neues Paar Stiefel vorzeigen konnten, wenn im Frühling die Frischlinge, wie sie sie nannten, berufen worden waren. Doch diese bösartigen Gerüchte schmälerten weder den Ruhm, den der Dienst bei den Grenzlern mit sich brachte, noch das Ansehen, das die neuen Rekruten von nun an in der Gesellschaft genossen. Denn man wusste, dass sie eine lange und anstrengende Ausbildung vor sich hatten, bis sie sich wahrhaftig »Veteranen der Grenzgarde von Spitzbärtlingen« nennen konnten und zu der Schärpe auch noch ein kurzes Schwert tragen durften – das Standessymbol eines vollwertigen Mitglieds.

Doch es gab auch Neider, wie Jarik sogleich erfahren musste. Sein bester Freund Warlin Frischtrümmler, ein Jahr jünger als er und bislang untrennbar mit ihm verbunden, war nicht in die Reihen der Frischlinge berufen worden, obwohl auch sein Vater den Jungen bei den Grenzlern als neuen Anwärter vorgeschlagen hatte. Dies hatte der Freundschaft zwischen den beiden einen Knacks versetzt, den Jarik zwar bemerkte, von dem er aber nicht wusste, wie er ihn heilen sollte. Wann immer er auf Warlin zuging, wandte der Freund sich zornig von ihm ab.

So kam es, dass Jarik trotz seiner Freude und Aufregung sein Met allein im Wilden Eichhorn trank, das von den Gästen liebevoll »Im Hörnchen« getauft worden war. Die Veteranen prosteten sich gemeinsam zu und schlossen ihn in diesen Gruß aus der Ferne ein, doch der Junge merkte schmerzlich, dass er sich in dieser Gemeinschaft erst einmal beweisen musste, bevor er dazugehören würde. Umgekehrt schien ihn die gelbe Schärpe den Rängen seiner Freunde bereits entfremdet zu haben, denn sie hatten sich an einem Ecktisch ohne ihn zusammengefunden. Warlin saß unter ihnen und stürzte grimmig einen Krug Met nach dem anderen hinunter.

An diesem so ereignisreichen Tag dachte Jarik bereits freudlos darüber nach, früh ins elterliche Haus zurückzukehren, um für den ersten Dienst am morgigen Tag gut ausgeschlafen zu sein. Allein die Tatsache, dass das Schankmädchen Lilly noch spät arbeitete, hielt ihn zurück. Heute stellte sie ihm stets einen besonders vollen Krug Met auf den Tisch und blickte ihn dabei mit einem Funkeln in den Augen an, das er dort bislang vermisst hatte.

Die Schwärmerei für die unerreichbare schöne Lilly hatte Warlin und Jarik stets besonders verbunden. Viele Nächte hatten sie auf der Wiese hinter dem einen oder anderen elterlichen Hof gelegen und darüber gefachsimpelt, ob ihr langes Haar eher dem Gold der Sonne oder dem Silber des Mondes ähnelte – Jarik war stets auf der Mondseite gewesen – und ob ihre blauen Augen eher tiefen Sommerseen oder wilden Sturmnächten glichen – Jarik hatte vehement für die Sturmnächte argumentiert. Oft hatten sie lange bis in die frühen Morgenstunden im Hörnchen gesessen, nur um ein Lächeln von Lilly zu erhaschen oder ein fröhliches »Gute Nacht, Jungs!« zu hören. Doch keiner von beiden hatte sich bislang dazu durchringen können, einen Schritt weiter zu gehen und Lilly anzusprechen – nicht auf die normale, beiläufige Art, wie man »Guten Morgen!« oder »Schönes Wetter heute!« sagt, sondern sie auf ein Picknick im Grünen oder einen Spaziergang am Blauen Jockel einzuladen. Und so war es bei der jungenhaften Schwärmerei geblieben, die das Herz oftmals mehr entzündet als erfüllte Hoffnungen.

»Das Band steht dir prächtig«, hörte Jarik Grünblatt Lilly heute Abend sagen und glaubte, seinen Ohren nicht trauen zu können. Die Schankmaid hatte weder Warlin noch ihn jemals aus eigenen Stücken angesprochen – zumindest hatte sie nie mehr gesagt als »Was darf’s denn heute sein, Jungs?« oder »Das macht drei Schilling.«

»D-danke«, stotterte Jarik und errötete ob der Tatsache, dass ihm plötzlich selbst dieses simple Wort nicht mehr glatt über die Zunge kommen wollte. »Dein Kleid steht dir auch prächtig«, fügte er noch hinzu. Dann schloss er den Mund und lächelte, bevor er sich noch weiter blamieren konnte.

»Danke schön«, sagte sie und schlug die Augen nieder. »Wann machst du deine erste Patrouille?«

»M-morgen schon«, sagte er. »Gleich in der Frühe.«

»So schnell! Ich hoffe, euch begegnet nichts Gefährliches. Ein Wolf oder ein Ork oder so.«

Jarik lachte.

»Das hoffe ich auch. Aber einen Wolf bekommen wir zu viert sicher klein«, er nickte hinüber zu den drei Grenzlern, mit denen er morgen auf Streife gehen würde. »Und Orks hat schon seit Jahrhunderten kein Halbling mehr im Jockelland gesehen.« Insgeheim stellte er erleichtert fest, dass sich der Knoten in seiner Zunge zu lösen begann.

»Na dann ist ja gut. Noch einen Krug Met, Jarik?« Sie griff nach seinem Krug und wandte sich ab, ohne seine Antwort abzuwarten. Bis sie zu dem Tisch zurückgekehrt war, hatte Jarik sich schwitzend zu einem Entschluss durchgerungen. Heute war der Tag gekommen – heute würde er wagen, sie anzusprechen.

»Lilly?«, fragte er also, als sie ihm den Met auf den Tisch stellte; das Herz hämmerte ihm schnell in der Brust, »d-du hast nicht vielleicht Lust, am Wochenende mit mir einen S-spagierzwang in die Jockelauen zu machen? Spaziergang, meine ich natürlich.« Der Knoten band seine Zunge fester und härter als zuvor.

Sie hielt zögernd inne und strich sich das blonde Haar zurück, das das Schimmern des Mondes so perfekt einzufangen schien. »Doch, warum sollte ich nicht? Vielleicht am Sonntag? Holst du mich ab?«

»J-ja. Ja!«

»Gut, dann ist ja alles geklärt. Und viel Glück bei deinem ersten Grenzgang morgen. Gib auf dich acht, ja?« Damit beugte sie sich über den Tisch und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Jarik saß wie vom Schlag getroffen da. Noch Stunden später hatte er den Lilienduft ihrer Haare in der Nase. Als er schließlich die Rechnung beglich und ein weiteres Lächeln geschenkt bekam, bemerkte er verwundert, dass Warlin das Hörnchen irgendwann bereits verlassen haben musste, denn er saß nicht mehr am Tisch im Kreise seiner Freunde.

Wie auch immer also der junge Jarik Grünblatt zu der Ehre gekommen war, Anwärter in dem ehrwürdigen Vereine der Grenzler geworden zu sein – wir wissen es nicht und erlauben uns kein Urteil –, er durfte am folgenden Tage als einer von fünf auserwählten jungen Halblingen der Lande entlang des Blauen Jockels hinausziehen, um von den alten Hasen zu lernen, was es bedeutete, die Grenzen des Jockellandes zu schützen. Es gab noch vier weitere Gruppen, die in andere Himmelsrichtungen unterwegs waren. Und so streifte Jarik nun zum ersten Mal an der Seite seiner großen Vorbilder durch Wiesen und Wälder und entfernte sich dabei so weit von Spitzbärtlingen, wie er es noch nie zuvor getan hatte. Als er sich umwandte, konnte er nur noch so eben das Dach des Gasthauses sehen – und das war immerhin das höchste Gebäude in dem kleinen Ort und eines der wenigen, die nicht in einen Hügel hineingebaut, sondern aus Holz obenauf gezimmert worden waren.

»Dies, junger Halbling, ist eine gelbstreifige Turmdrossel. So genannt, weil sie gern in hohen Gemäuern und Bäumen überwintert und dort große Nester baut, um ihre ganze Familie unterzubringen«, dozierte Bartholomäus Salzendengler, genannt der Prächtige. Und wahrhaft eindrucksvoll sah er aus mit seinem weit schwingenden Halbmantel, dessen Saum von Zierketten und Pelzstreifen geschmückt wurde. Auf dem Kopf prangte seit Kurzem eine mit Münzen bestickte braune Samtmütze, die wunderbar mit dem ausufernden langen Schnauzbart harmonierte.

»Gelbstreifige Turmdrossel«, murmelte Jarik pflichtbewusst, um sich den Namen gut einzuprägen.

»Die gelbstreifige Turmdrossel wohnt besonders oft in der Nähe des großblättrigen Wurzelknollenstrauches«, fügte Bartholomäus gewichtig hinzu und deutete auf ein Gewächs unter den Bäumen.

»Großblättriger Wurzelknollenstrauch«, wiederholte Jarik. Das Gewächs musste ein schlimmes Gift in sich tragen, dass der Hauptmann ihn darauf aufmerksam machte. Er wollte es sich genau einprägen. Vielleicht gab es zum Abschluss dieses ersten Ganges sogar eine Prüfung über alles, was ihm gezeigt wurde!

»Sieht mir aus wie ein Rhododendron«, entgegnete Veridimus Irksleben, der seine gelbe Schärpe als Einziger nicht gewaschen und geplättet hatte, sondern sie mit Flecken und Knittern trug. Er wirkte auch sonst lustlos und bummelte stets ein wenig hinterher.

»Für den Ungebildeten mag das so wirken«, belehrte Bartholomäus ihn. Er war der unangefochtene Anführer des Vierertrüppchens, das von dem alten Nikodemus Bronn ergänzt wurde. Dieser Greis war Jarik schon immer ein wenig seltsam vorgekommen – immerhin wohnte die Familie Grünblatt direkt an sein Anwesen angrenzend und seine Erdbeerfelder stellten eine stete Verlockung dar – und er tat auch jetzt nichts dagegen, den Eindruck eines düsteren, missmutigen alten Kauzes zu zerstreuen. Er trug grüne und braune Gewänder, die weit weniger prachtvoll als Bartholomäus’ Tracht, aber trotz ihrer Schlichtheit gepflegter als des Herrn Irkslebens wirkten. »Der Ungebildete mag auch einen rotschwänzigen Waldhund mit einem veritablen Grauwolf verwechseln!«, fügte der Hauptmann nun in strafendem Unterton hinzu.

»Das war nur ein einziges Mal«, beschwerte sich Irksleben. »Und er ist vorbeigezogen, ohne dass er uns etwas getan hätte. Ich glaube, er hat sogar gegrüßt.«

»Papperlapapp!«, brachte ihn Bartholomäus zum Schweigen. »Fast umgebracht hättest du uns!«

»Rotschwänziger Waldhund«, murmelte Jarik Grünblatt wie ein Echo.

Bartholomäus Salzendengler verfiel nun in einen langen Monolog über die Kunst des Schwertkampfes und die Einheit eines Kämpfers mit seiner Klinge, die ihm schon so manches Mal das Leben gerettet hatte, da machte Nikodemus Bronn »Pssst!«.

»Wie, psst?«, fragte Salzendengler konsterniert. Er schätzte es nicht, wenn man ihn unterbrach, und schon gar nicht so rüde.

»Psst wie – halt den Mund. Hab was gehört!«

»Pssst!«, machten nun alle anderen Halblinge und sperrten ihre spitzen Ohren auf. Auch Jarik lauschte angestrengt.

Halblingsohren sind ausgesprochen hellhörig, besonders wenn es um merkwürdige Geräusche aus dem Nachbarhaus oder ferne Gespräche geht. Im Wald aber, wo keine Marktgeräusche oder das Klappern von Wagenrädern ablenken, sind sie von besonderem Nutzen.

»Ich höre eine schwarzflüglige Samtdrossel«, sagte Bartholomäus Salzendengler schließlich.

»Ich höre einen gelbbäuchigen Grünspringer quaken«, verkündete Jarik Grünblatt stolz. Er kannte die Frösche, er hatte sie seinen Schwestern mit Vorliebe in die Wäschekörbe gesetzt.

»Ich höre gar nichts«, sagte Veridimus Irksleben mit einem Gähnen.

Der Einzige, der schwieg, war Nikodemus Bronn. Er wandte den Kopf wie ein witterndes Tier von einer Seite zur anderen. Plötzlich krachten Äste im Gehölz und ein Schwarm Vögel – gelbstreifig oder schwarzflüglig konnte nicht einmal der Hauptmann unterscheiden – flatterte auf und suchte das Weite. Die Halblinge sprangen wie auf ein unsichtbares Zeichen hin in Deckung.

Für ein paar Augenblicke schien der Wald verstummt. Kein Vogelzwitschern war zu hören, kein Froschquaken, kein Halblingsgähnen. Dem jungen Grünblatt schlug sofort das Herz im Halse. Eine halbe Ewigkeit schien zu vergehen, bis er es wagte, den Kopf aus dem Busch zu stecken, den er sich zum Versteck erkoren hatte. Er spähte erst vorsichtig mit einem Auge durch die Blätter. Der Wald lag ruhig da – trügerisch ruhig, wie er fand. Trotzdem stand er vorsichtig auf, bereit, sich beim kleinsten Anzeichen von Gefahr sofort wieder fallen zu lassen. Etwa zum selben Zeitpunkt lugte auch Bartholomäus Salzendengler hinter einem Baum hervor. Die Münzen an seiner Mütze funkelten prächtig in den Strahlen des Sonnenscheins, die zwischen den Blättern bis auf den Waldboden fielen. Ein Halbling nach dem anderen steckte den Kopf hervor und kroch mit angehaltenem Atem hinter das Gebüsch, in dem Jarik bereits hockte.

»Was war das?«, flüsterte Veridimus Irksleben mit einem Beben in der Stimme. »Ein Wolf?«

»Oder Schlimmeres«, ergänzte der Hauptmann gepresst. »Wir sollten hier schnell verschwinden.«

Jarik Grünblatt schlug das Herz bis zum Halse. Was auch immer den Krach verursacht hatte, es hatte groß geklungen und so, als müsse es im Wald nichts fürchten. Das Schlimme war – es lauerte noch immer dort draußen. Ein falsches Geräusch, eine laute Stimme und es würde sie bemerken. Die Chance, dass es sich um einen freundlich gesonnenen Nachbarn handelte, war so weit von der Ortschaft entfernt höchst unwahrscheinlich.

»Wird es uns nicht nachstellen?«, fragte er atemlos.

»Das ist möglich«, brummelte Nikodemus Bronn. »Ich mag es nicht, etwas in meinem Rücken zu haben, das mir vielleicht in selbigen fällt.«

»Ein scheußlicher Gedanke«, murmelte Irksleben. »Was, wenn es wirklich ein Wolf ist? Was, wenn es gar kein Wolf, sondern … sondern ein Ork ist?«

Diese Vermutung verschlug den vier Grenzlern für einen Augenblick die Sprache. Orks kamen in der Nähe des Jockellandes selten vor. Die Erzählungen am Stammtisch des »Wilden Eichhorns« berichteten aber von einigen Wintern vergangener Jahrhunderte, in denen sich viele Stämme dieser wilden Kreaturen aus ihren Löchern in den Bergen gewagt haben sollten, um die tiefer gelegenen Regionen zu plündern. Damals hatten die Grenzler ihnen einen regelrechten Krieg geliefert, um das Jockelland zu schützen.

»Dann will ich ihn noch viel weniger in meinem Rücken wissen«, sagte Nikodemus leise. »Wir sollten herausfinden, worum es sich handelt und es jagen, bevor es uns jagt.«

»Ein noch scheußlicherer Gedanke«, flüsterte Veridimus mit erstickender Stimme. »Ihr wollt doch nicht wirklich dort hinausgehen!«

»Bronn, du bist der beste Fährtenleser hier«, beschloss der Hauptmann gedämpft. »Sieh nach, ob du was findest. Wir warten hier und kommen dir zu Hilfe, wenn etwas passiert.«

Es knackte neuerlich im Gebüsch, und die Halblinge zogen wie ein Mann die Köpfe hinter dem Busch ein. Sie wagten für den vierten Teil eines Stundenglases kaum zu atmen.

»Es entfernt sich«, behauptete Salzendengler schließlich leise. »Bronn, jetzt bist du dran.«

»Alleine …?«, wisperte Nikodemus zögerlich. »Wenn etwas passiert, seid ihr sicher zu weit weg.«

»Das ist nun einmal die Standardprozedur!«

»Ich habe von dieser Standardprozedur noch nie etwas gehört«, beschwerte sich Irksleben.

»Wer von uns beiden ist der Anführer – und wer der faule Sack, der die Prozeduren gar nicht erst liest?«, schimpfte Salzendengler leise.

Irksleben wollte protestieren, doch sie wurden unterbrochen. »Ich gehe mit.«

Aller Augen wandten sich zu dem jungen Jarik Grünblatt. Der zitterte am ganzen Leibe, stand jedoch zu seiner Entscheidung. »Irgendjemand muss es doch tun! Und so lerne ich vielleicht gleich etwas über das Fährtenlesen.«

So kam es, dass die beiden Späher auf leisen Sohlen durch das Gras schlichen, während der Hauptmann und sein Begleiter sich als Nachhut hinter Baum und Busch verbargen und warteten.

Tatsächlich staunte der junge Bursche über seinen eigenen Mut, als er kurz darauf hinter dem knurrigen Alten unter das grüne Blätterdach der Büsche abtauchte, hinter denen sie das erste Mal das Geräusch gehört hatten. Das Herz klopfte ihm wild im Leibe und er reagierte schreckhaft auf jedes Zirpen und Rascheln in den Blättern. Der Wald, den er in den ersten Stunden als so sonnig und aufregend empfunden hatte, wirkte mit einem Mal wie eine trügerische Venusfliegenfalle. Er hätte schwören können, dass ihn etwas aus den Schatten lauernd anstarrte, etwas, das nur darauf wartete, dass er sich bewegte, um ihn zu Tode hetzen zu können … er zwang sich, ruhig zu atmen.

Wie sehr wünschte Jarik sich in diesem Augenblick an den heimatlichen Herd zurück! Seine Frau Mutter würde ihn sicherlich in den Schaukelstuhl am Ofen setzen, ihm einen großen Krug heiße Schokolade mit einem ordentlichen Schuss Rum in die Hand drücken und liebevoll einen Teller selbst gebackener Kekse daneben stellen. Jarik lief allein bei dem Gedanken das Wasser im Mund zusammen. Er erwog kurz, einen Keks aus der Provianttasche zu ziehen, um die Angst zu bezwingen, doch er zwang sich eisern dazu, sich auf seine Umgebung zu konzentrieren. »Entbehrungen im Dienst an Spitzbärtlingen!«, ermahnte er sich. Der Gedanke stillte seine Kekslust nicht – Essen beruhigte ihn immer, und er war hungrig –, ließ ihn sich aber gleich viel nobler fühlen.

»Schau!« Bronns heisere Stimme riss Jarik aus seinen Essensträumen.

Wenige Augenblicke später hatten die beiden Späher sich in eine feuchte Senke hinabgelassen, die von Weiden und Fliederbüschen gesäumt war. Dort konnte Jarik nun auch besichtigen, was Nikodemus’ scharfe Augen von oben gesehen hatten. In dem dunklen und halb mit Blättern bedeckten Matsch zeichnete sich deutlich eine riesige Fußspur ab.

Und was für ein Fuß das sein musste, der solche Spuren hinterließ! Jarik hielt den Atem an. Geformt wie eine lange Hand mit langen Zehen, die mehrgliedrig wie Finger sein mussten, schien dieser Fuß gleichzeitig zum Laufen wie zum Greifen gedacht. Er hatte keine Ahnung, zu welcher Kreatur er gehören mochte.

»Beim Sternenzelt, was ist das?«, fragte Jarik atemlos. Er hielt seinen eigenen Fuß daneben, um die Größe zu vergleichen, und schluckte vor Entsetzen schwer. Vorne und hinten zusammengenommen stand die Spur sicherlich eine ganze Fußlänge über, und rechts und links mochte sicherlich eine Fußbreite Platz sein. »Was hat so riesige Füße?«

Nikodemus antwortete nicht. Stattdessen verglich er ebenfalls seinen eigenen Fuß mit dem Abdruck in dem dunklen Matsch. Dabei murmelte er unverständliche Dinge vor sich hin – Jarik meinte, den einen oder anderen unflätigen Fluch herauszuhören. Dann zog der Alte immer größere Kreise um die Spur und hielt dabei die Nase tief über den Boden wie ein Spürhund. Ein merkwürdiger alter Kauz, fand der junge Halbling, und stieg die Böschung wieder halb hinauf, um aus dem Weg zu gehen. Außerdem – wenn sich diese riesenhafte Kreatur wieder näherte, dann wollte er einerseits frühzeitig gewarnt sein und andererseits nicht direkt in der Angriffslinie stehen. Nicht, dass Jarik feige war – aber immerhin war er bis auf sein Wurstmesser unbewaffnet und fand sich erschreckend wehrlos.

»Da drüben ist erst die nächste Spur«, sagte Bronn schließlich, als er neben ihm zum Stehen kam, und deutete neben eine Birke auf dem Sattel der Böschung nördlich von ihnen. »Nur diese eine. Es gibt nur eine Erklärung.«

»Welche?«, fragte Jarik und hielt den Atem an.

»Ein Riesenork.«

»Ein …« Dem jungen Halbling blieben die Worte im Halse stecken. Ein Ork allein wäre ja schon schlimm – und stark genug, sie beide gleichzeitig in einer Hand hochzuheben und ihnen mit der Faust die Gurgel herauszureißen! Doch ein Ork, der hier wohl nur zufällig oder aus Unachtsamkeit einen Abdruck hinterlassen hatte – wie riesig musste der sein, wenn in der ganzen Senke keine zweite Spur zu finden war! Jariks Blick wanderte an der Birke auf dem Rand der Senke hinauf bis zu der vermuteten Höhe und schluckte entsetzt.

»Komm, wir müssen ihm folgen.«

»Folgen?«, fragte der junge Halbling. Die Stimme entglitt ihm für einen Augenblick. »Aber wir haben doch getan, was die Prozeduren verlangen. Wir haben die Spur gefunden und wissen, wer sie hinterlassen hat – ein Riesenork. Sollten wir jetzt nicht besser zu den anderen zurückgehen und dem Hauptmann Bericht erstatten?«

Bronn schnaubte nur und wandte sich zum Gehen, sodass Jarik die Wahl hatte – entweder hier mitten im Wald bei der Riesenorkspur zu bleiben oder dem alten Kauz in den dunklen Teil des Waldes zu folgen, auf den dieser nun zuhielt. Da der Junge nicht sicher war, ob er den Weg zum Hauptmann zurück allein finden würde, war die Entscheidung schnell getroffen. Inzwischen verfluchte er die Stunden, die er den Vater angebettelt hatte, bei den Grenzlern anfangen zu dürfen. Er hatte Abenteuer erleben wollen, das wohl! Aber niemand hatte von Lebensgefahr gesprochen! Mit einem tiefen Atemzug blickte Jarik in das lauernde, schattige Grün um sich herum. Dann riss er sich zusammen und folgte Bronn todesmutig in das Unterholz. Vielleicht fand er es auch wenig heldenhaft, hier in der Senke eine Orkspur zu bewachen.

Schon bald zogen ihm dornige Ranken an Kleidern und Haaren, niedrig hängende Äste peitschten ihm ins Gesicht und Kletten sammelten sich in den Haaren auf seinen Füßen und Beinen. Sie gaben sich alle Mühe, sich lautlos zu bewegen, um den Riesenork nicht frühzeitig auf sich aufmerksam zu machen. Und wenn Halblinge nur wollten, dann konnten sie sehr leise sein und sich selbst für die Augen geübter Fährtenleser beinahe spurlos bewegen. Jarik schwitzte bald vor Anstrengung eine Steigung hinaufzuschleichen. Sie kamen nur langsam voran und fanden immer mal wieder eine der riesigen Spuren, meist in feuchtem Untergrund. Die Schritte dieses Orks mussten wirklich gewaltig sein.

Erst als er auf einer kleinen Lichtung zurücksah und er viele Meilen über den Blauen Jockel hinwegsehen konnte, da erkannte er, welchen Hügel sie gerade bestiegen. »Das ist die Donnerkuppe!«, stieß er aus. Viele Legenden und Geschichten rankten sich um diesen Berg, der in Herbst- und Wintermonaten oft von Gewittern gekränzt war, die dort ihren schlimmsten Zorn abreagierten, bevor sie weiter ins Tal zogen. »Psst!«, machte Bronn.

Jarik Grünblatt duckte sich und lauschte. Das Unterholz, durch das sie sich gekämpft hatten, war hier weniger dicht, nur wenige Büsche behinderten den Blick zwischen den schlanken Fichtenstämmen hindurch. Nach einer Ewigkeit, wie es ihm vorkam, vernahm auch er wieder ein gedämpftes Knacken im Gehölz, in Richtung eines großen Felsvorsprunges, vor dem eine weite Lichtung im Wald klaffte. Darin öffnete sich eine große, finstere Höhle. »Herr Bronn«, flüsterte der Junge entsetzt. »Ihr wollt doch dort nicht hingehen, oder?«

»Von Wollen kann keine Rede sein«, knurrte der alte Kauz zögernd. »Wenn es nach meinem Willen ginge, säße ich jetzt mit einem Pfeifchen auf der Veranda im Schaukelstuhl, immer in der Hoffnung, dass meine Beete nicht von jungen und frechen kleinen Schurken wie dir niedergetrampelt werden. O ja, ich habe dich durchaus erkannt!«

Jarik wurde bleich. Es galt als beliebte Mutprobe unter jungen Halblingen, dem alten Bronn eine Erdbeere aus dem Beet zu stehlen. Wer es gar schaffte, Kirschen von seinem Baum zu pflücken, galt als besonders dreist, denn der Baum stand mitten im Garten und musste erst erstiegen werden.

»Aber wir müssen nun mal herausfinden, ob es sich nur um diesen einen merkwürdigen Ork handelt oder um mehrere. Denn wenn mehr als einer vom Berg hinabsteigt, dann hat Spitzbärtlingen – und das ganze Jockeltal – ein großes Problem.« Der Alte blickte ihn nicht wütend, sondern beinahe mitleidig an. »Aber mir ist klar – wer Erdbeerbeete niedertrampelt, ist noch lange nicht aus dem Holz geschnitzt, aus dem ein wahrer Grenzler gemacht ist. Also wartest du besser hier.« Damit huschte er von Busch zu Busch, bis er aus Jariks Blickfeld verschwunden war.

Der Junge atmete erleichtert auf. Nikodemus Bronn war viel erfahrener als er, wenn es um solche Dinge ging, er würde das schon machen. Außerdem würde Jarik gar nicht viel helfen können, wenn es tatsächlich zu einem Kampf mit dem Riesenork käme – er trug ja nicht einmal ein Schwert! Doch es dauerte gar nicht lange, da wurde Jarik von einer unerklärlichen Unruhe erfasst. Was, wenn Nikodemus sich dort wirklich dem Feind stellen musste, jetzt doch ganz allein, weil er eben nur einen Jungspund, einen feigen Erdbeerdieb, auf seinem ersten Gang in die Wildnis mitgenommen hatte? Und hatte Jarik ihm nicht versprochen, er werde es nicht bereuen?

Schlimmste Bilder entfalteten sich in seinem Geiste. Bronn, erschlagen auf dem steinernen Boden einer Felsenhöhle, der Riesenork mit einem Hammer über ihm stehend, Jarik verloren und verlaufen im Wald. Dann kehrte sich das Bild um und Nikodemus Bronn stand triumphierend mit dem Orkhammer über dem Riesen und kehrte schließlich mit einem kleinlauten Jarik zurück zum Hauptmann, um ihm mitzuteilen, dass man sich getäuscht hatte, dass der Junge eben doch nicht das Zeug zum Grenzler hätte. Wie Jarik es auch drehte und wendete, seine Situation war verzweifelt. Dieser Moment im Leben des jungen Halblings veränderte ihn bis auf die Wurzeln seines Wesens.

Entschlossen schob er das Kinn vor und zog sein Wurstmesser aus der Scheide am Gürtel. Er hatte scheußliche Angst davor, sich dem Riesenork zu stellen. Doch er konnte auch nicht hierbleiben und sein Schicksal abwarten – dann wäre er wirklich nur ein feiger Erdbeerdieb, der zu nichts anderem taugte. Nein, er würde seinen Waffenbruder dort in der Höhle nicht allein lassen. Komme, was wolle, er würde an seiner Seite stehen.

Am ganzen Leibe zitternd schob er sich durch die Büsche, immer auf der kaum sichtbaren Spur von Nikodemus Bronn. Oder waren das nicht seine Fußabdrücke? Der Alte hatte große, knorrige Zehen, diese hier wirkten eher kleiner. Doch Jarik hatte keinen Kopf dafür, über solche Dinge nachzudenken, er hörte nur ein nervöses Rauschen in den Ohren und musste sich den Schweiß aus den Augen blinzeln. Er näherte sich der Baumgrenze und schob vorsichtig den Kopf zwischen den Blättern hervor, um die Lichtung zu beobachten.

Vögel zwitscherten im Nachmittagslicht, Grillen zirpten, und Jariks Magen knurrte vor Hunger. Er hatte mindestens zwei Mahlzeiten verpasst. Doch er achtete nicht darauf, sah nach rechts und links und schlich dann so leise wie ein Nebelstreif über die freie Fläche zur linken Seite des Höhleneingangs. Dort angekommen, presste er sich gegen den Fels und versuchte, seinen hektischen Atem zu beruhigen. Dabei lauschte er auf Geräusche aus dem Innern. Merkwürdiges hörte er da – Zischen, Knurren und Wimmern. Vor seinem geistigen Auge steckte Nikodemus Bronn bereits im Riesenkochtopf des Riesenorks und starb einen qualvollen Tod. Der Schweiß lief dem Burschen den Hals hinab, doch er konnte Bronn nicht im Stich lassen!

Vorsichtig betrat Jarik Grünblatt die Höhle und hatte doch noch nie im Leben so viel Angst verspürt. Er tastete sich erst blind an der Wand lang und stieß sich die Zehen dabei an einem spitzen Vorsprung. Er biss sich auf die Lippen und gab keinen Laut von sich, bis der Schmerz wieder abgeklungen war. Dabei starb er tausend Tode. War er entdeckt worden? Würde der Riesenork ihn im Dunkeln zerschneiden, bevor er überhaupt ahnte, welche Gefahr hier lauerte?

Etwas klackte. Jarik erstarrte in der Bewegung und hielt den Atem an. Waren das die Scheren eines Riesenhöhlenkäfers gewesen? Das Poltern eines sich lösenden Steines, als sich eine Riesenspinne an der Wand herabließ? Oder das Schnalzen eines Orks, der seine Gefährten rief, um ihn zu fangen, auf einen Spieß zu stecken und über kleiner Flamme langsam zu rösten? Der junge Bursche war vor Furcht zur Salzsäule erstarrt, denn jede Bewegung konnte nun eine falsche sein.

Ein neuerliches Klacken erklang und Funken sprangen auf. Sie fraßen sich in ein Bündel trockenes Gras, sprangen auf ein ölgetränktes Stück Stoff über und weiteten sich zu einem kleinen Feuerlein aus. »So. Nun lass dich mal ansehen«, brummte jemand. War das der Ork, der ihn entdeckt hatte? Jarik entdeckte im zuckenden Schein eines wachsenden Feuerchens einen Furcht einflößenden, breiten Schemen auf der gegenüberliegenden Höhlenwand. Er griff sein Wurstmesser fester und wagte sich trotzdem voran – für Nikodemus, beschloss er, würde er wenigstens einen Blick riskieren.

Jarik traute seinen Augen nicht. Im Schein des Lagerfeuers sah er Nikodemus Bronn in der Höhlenmitte stehen. Der hatte das Schwert in der Linken, die Rechte hatte er am Ohr eines jungen und schlanken Halblings, der eine Art Hammer in der Hand hielt. Beide zusammen mussten den breiten Schemen gebildet haben, den er eben gesehen hatte. »Warlin!«, entfuhr es dem jungen Grenzler entrüstet. »Was machst du denn hier?«

Die beiden Halblinge sahen verduzt zu ihm herüber. »Ah, er hat sich doch getraut. Und er kennt den Burschen sogar?«, fragte Nikodemus belustigt. »Das wundert mich nicht.«

»Das ist Warlin Frischtrümmler, ein Freund von mir.« Jetzt sah Jarik, dass das Gerät in der Hand seines besten Freundes kein Hammer war, wie er eigentlich gedacht hatte. Dabei handelte es sich um die riesenhafte hölzerne Attrappe eines langgliedrigen Fußes. Langsam begriff er. Es gab gar keinen Riesenork! Warlin hatte sie alle hinter’s Licht geführt! Als die Furcht von ihm abfiel, stellte sich die Empörung ein. »Zumindest war er das mal, bis er sich entschlossen hat, ehrbare Grenzler mit falschen Orkspuren zu foppen!«

»Pah«, machte Warlin. »Wir waren einmal Freunde, bis du vor Stolz und Einbildung darüber, dass du nun ein ehrbarer Grenzler geworden bist, nichts mehr mit den normalen Halblingen zu tun haben wolltest, Jarik Grünblatt! Und Lilly hast du mir auch weggeschnappt mit deiner neuen gelben Schärpe!«

»Das ist nicht wahr. Sie hätte dich eh nicht gewollt!«

»Ist es wohl!«

»Nicht!«

»Doch!«

»Jetzt klärt sich einiges auf«, murmelte der alte Bronn mit einem breiten Grinsen. »Deshalb die merkwürdigen Orkspuren, die keine Schritte sein konnten, es sei denn, der Ork hätte durch Baumstämme schreiten können, ohne sie umzuknicken – und wäre dabei auf einem Bein gehüpft.«

»Ihr wusstet davon, dass es kein echter Ork ist?«, fragte Jarik bestürzt. »Und Ihr habt nichts gesagt? Ich bin tausend Tode gestorben!«

»Ich bin nicht erst seit gestern ein Grenzler, Junge«, sagte der Alte mit einem Schmunzeln. »Und warum hätte ich es wohl sagen sollen? Du hättest die Schlüsse ja selbst ziehen können.« Warlin kicherte dazu hämisch. »Tausend Tode, hah! Das ist mir ein mutiger Grenzler!«

»Wer ist ein mutiger Grenzler?«, erklang von der Höhlenöffnung her die Stimme von Bartholomäus Salzendengler. Kurz darauf stand er mit Veridimus Irksleben neben dem kleinen Grüppchen und stützte sich mit den Händen auf den Knien ab, um nach dem anstrengenden Aufstieg wieder zu Atem zu kommen. Beide hatten ihre Schwerter gezogen. »Wir sind euch in einigem Abstand gefolgt. Standardprozedur.«

Doch Jarik kümmerte die Ankunft des Hauptmannes nicht. Mit ein paar langen Schritten stand er neben Warlin und griff ihn beim Schlafittchen. Zum Glück des jungen Schelms ließ Bronn das Ohr los, denn sonst wäre es für ihn sehr schmerzhaft geworden: Jarik schüttelte ihn so kräftig durch, dass er beinahe eine Genickstarre bekam. »Neidhammel, verräterischer!«, rief er dabei.

»Eingebildetes Muttersöhnchen!«

»Taugenichts!«

»Aufgeblasenes Warzenschwein!«

»Quastenkröte, verruchte!«

Und so ging es hin und her, bis die beiden Jungs sich auf dem Höhlenboden balgten und mal der eine, mal der andere ringend oben saß. »Ich glaube, wir kommen gerade recht. Was geht hier vor?«, fragte Salzendengler gewichtig.

Doch zu einer Antwort kam niemand mehr.

Hinter den beiden Streithammeln erklang ein ungeheuerliches Brüllen aus der Tiefe der Höhle. Jarik, der gerade auf Warlin saß, hielt ebenso entsetzt inne wie alle anderen. Er schaute auf den anderen herab und fragte: »Du hast dir doch den hinteren Teil der Höhle angesehen, nicht wahr?«

Schwere Schritte ließen den Felsen erbeben und kleine Steine von der Decke rieseln. »Keine Zeit gehabt«, keuchte der unten Liegende bleich.

Jarik reagierte, ohne nachzudenken. Er riss Warlin am Kragen mit hoch und zog ihn weg von der dunklen Finsternis, die ein weiterer Gang tiefer in den Berg sein musste. Keinen Augenblick zu früh.

Ein Hammer sauste dorthin, wo sie eben noch miteinander gerungen hatten. In das Licht des kleinen Feuers trat ein großer Ork. Kein Riesenork, so wie die falschen Spuren draußen es ihnen glauben gemacht hatten, doch immerhin ein Ork, der jeden der Halblinge um mindestens zwei Köpfe überragte. Die Schultern waren so breit wie die eines Ochsen, der Kopf auf dem kurzen Hals saß so tief, dass er ihn gedrungen wirken ließ. Sein ganzer Körper war mit schwarzem Haar bedeckt und sein vorspringendes Maul war gespickt mit einem Raubtiergebiss. Mit kleinen funkelnden Augen sah er sie an, verzog die Lippen zu einem hämischen Grinsen und hob den Hammer.

Zwei Schwerter fielen klirrend zu Boden und zwei Halblinge ergriffen schreiend die Flucht. Der Ork schlug nach Bronn, dem es knapp gelang, sich mit einem Hechtsprung zur Seite zu retten. Dabei griff er eines der am Boden liegenden Schwerter, warf es mit dem Heft voran in Jariks Richtung und zog sein eigenes. Dann stürzte er dem Feind entgegen.

Die Klinge landete mit einem Poltern vor den Füßen des jungen Grenzlers. Er sah darauf herab, wieder auf zu Nikodemus, der dem Ork inzwischen einen blutigen Stich auf den Oberschenkel versetzt hatte, und wieder hinab zu dem Schwert. »Feigling«, keuchte Warlin neben ihm, hob das Schwert auf und wollte schon voranspringen. Doch Jarik reagierte endlich und fasste ebenfalls nach dem Griff. Mit verbissenen Gesichtern rangen sie um das Schwert, das mal der eine, mal der andere dem Konkurrenten beinahe aus der Hand gedreht bekam. Sie starrten einander grimmig an, denn sie wussten beide, dass hier mehr auf dem Spiel stand als bloß eine Klinge – wer auch immer diesen Kampf gewann, war der größere Held und würde darüber entscheiden, ob Lillys Haar mehr dem Schein des Mondes oder der Sonne glich. Keiner von beiden würde sich bei diesem Wettstreit leichtfertig geschlagen geben.

Ein Schrei von Nikodemus Bronn lenkte Jarik ab. Er sah, dass der Ork den Alten am Schlafittchen hielt und sein Gesicht zu seinem Maul zog. Bronn wehrte sich mit Händen und Füßen, doch das Ungeheuer triumphierte Zoll für Zoll.

Jarik seufzte. Als er das Heft des Schwertes fahren und Warlin mit einem hämischen »Aha!« gewinnen ließ, da dachte er nicht mehr an Lilly. Er erkannte plötzlich, dass es hier nicht um die Hand einer schönen Schankmaid ging, sondern um das blanke Überleben. Warlin glotzte ihn verdutzt an, ging mit dem Schwert in Position und wandte sich bleich dem Feinde zu.

Jarik hechtete zu dem zweiten Schwert, das noch dort lag, wo Bartholomäus Salzendengler es fallen gelassen hatte. Doch so weit kam er nicht. Von der Rückhand des Orks weggefegt, purzelte Warlin in ihn hinein und riss ihn mit sich zu Boden. Dort blieb der Freund benommen liegen. Grünblatt zerrte ihn ein Stück beiseite und bog ihm die Finger auf, um sich das Schwert zu greifen. Dann sprang auch er, ohne nachzudenken, zu dem Ork und hieb auf ihn ein, so wie er es an den armen Baumstämmen der Umgebung des Hauses seiner Eltern in den letzten Tagen geübt hatte. Offenbar überraschte er den Feind, denn die Klinge drang durch seine Deckung und traf den Unterschenkel. Der Ork brüllte vor Schmerz und fuhr zu ihm herum.

»Oh-oh«, entfuhr es Jarik, denn er fand sich mit dem Rücken zur Wand in die Enge gedrängt. Der Ork türmte über ihm und holte mit dem Hammer aus, um ihn zu Brei zu zermalmen. Der Junge sah nur einen einzigen Ausweg und nahm ihn, ohne nachzudenken: voran. Er bückte sich und rutschte dem Ork zwischen den Beinen hindurch. Dann sprang er auf und versetzte ihm einen Streich gegen das Hinterteil. Womit er nicht gerechnet hatte, war, dass der Ork den Hammer einfach wieder rückwärts über den Kopf schwang. Zu spät wich Jarik aus, erkannte jedoch noch in der Bewegung, dass er nicht schnell genug sein würde. Das schwere Gerät erwischte ihn mit einer Kante an der Schulter, schleuderte ihn herum und gegen die Felswand.

Jarik schrie erst vor Schmerz auf, doch bald fühlte er gar nichts mehr – der Arm war taub. Mit einem gutturalen Knurren wandte sich der Ork zu ihm um. Er machte einen Schritt auf ihn zu und ragte drohend über ihm auf. Er verzog das Gesicht zu einem Raubtiergrinsen und hob den Hammer. Der junge Halbling blickte hilflos zu ihm auf und versuchte, rückwärts an der Felswand wegzukriechen, doch er fand keinen Ausweg. Ein zweites Mal würde der Ork ihn nicht zwischen seinen Beinen durchrutschen lassen. Er wusste, dass dies sein Ende war.

Was dann geschah, drang nur noch wie ein Traum zu Jarik durch. Er sah, wie Nikodemus Bronn dem abgelenkten Ork von hinten auf den Rücken sprang und die Klinge tief in die Schulter stach. Das Blut spritzte auf den am Boden liegenden jungen Grenzler herab. Der Ork bäumte sich auf, schrie wie ein verwundeter Bär und ging in die Knie. Mit einem gewaltigen Schwung schüttelte er Bronn von seinem Rücken. Dann sprang er auf und rannte aus der Höhle. Sein Gebrüll hallte weit in dem Wald wider.

Stille kehrte in die Höhle auf der Donnerkuppe ein. Als Jarik Grünblatt sich wieder bewegen konnte, spürte er etwas Kaltes auf der Schulter. Bronn, selbst nicht ohne Blessuren davongekommen, drückte ein mit Wasser getränktes Stück Stoff über seinem Arm aus. »Das wird schon wieder«, murmelte er dabei. »Warlin?«, fragte Jarik schwach. Nikodemus deutete mit einem Daumen zu seiner Rechten.

Dort lag Warlin Frischtrümmler genauso an die Höhlenwand gelehnt wie Jarik auf der anderen Seite. Auch er war versorgt worden und lächelte nun schwach zu seinem alten Freund hinüber. »Zwei wackere Gesellen sind wir, was?«, fragte er. Auch Jarik musste grinsen. Er wusste nicht genau warum, aber obwohl der Ork entkommen war und trotz seiner Wunden überkam ihn eine merkwürdige Euphorie. »Ja, ein Stupser mit dem Hammer und wir sind aus dem Spiel.« Sie glucksten miteinander, als hätte er einen Scherz gemacht – und als hätte es die Rivalität um Lilly nie gegeben.

»Immerhin seid ihr beiden nicht gelaufen. Allein hätte ich den Ork nie verjagen können. Der hätte mich zum Frühstück verspeist«, sagte der alte Bronn schnaufend. »Ihr seid beide mehr Grenzler als der Geck und sein fauler Geselle.«

Als wäre dies sein Stichwort, tauchte Bartholomäus Salzendengler mit Veridimus Irksleben im Schlepptau wieder in der Höhle auf. »Er ist fort«, erklärte er gewichtig. »Ich glaube, er kommt nicht wieder.«

»Oh doch, der kommt wieder«, widersprach Bronn. »Und er wird seine Freunde mitbringen.« Er deutete zu dem dunklen Bereich, aus dem der Ork gekommen war. »Ich habe einen Blick in die Höhle geworfen, als ihr alle … auf die eine oder andere Weise verhindert wart. Der Schurke hatte nicht nur eine Jagdausrüstung dabei, sondern Gepäck. Viel Gepäck. Warum auch immer, aber dieser Ork verlässt das Gebirge. Und ich glaube nicht, dass er der Einzige ist, der das tut.«

»Die Orks kommen in die Auen?«, fragte Irksleben mit entsetzt aufgerissenen Augen. »Das müssen wir den Leuten in Spitzbärtlingen sagen. Wir müssen eine Verteidigung aufbauen, Leute rekrutieren!«

»Dafür gibt es Prozeduren«, erwiderte Bartholomäus bestimmt. »Der Hauptmann berichtet dem Bürgermeister über große Gefahren. So ist es schon immer gewesen und so wollen wir es auch weiterhin halten. Los, auf! Wir können es noch bei Tageslicht nach Hause schaffen.«

»Das Gasthaus hat heute Eintopftag«, rief Irksleben bei dem Gedanken an die Ortschaft.

Jarik und Warlin blickten einander an und grinsten schwach. Beiden knurrte der Magen, und ihnen stand der Sinn nach einem guten Essen im Hörnchen.

»Na, dann lasst uns mal«, sagte auch Bronn. Er half den beiden jungen Halblingen auf die Füße. Als Jarik jedoch das Schwert aufsammeln wollte, mit dem er soeben gefochten hatte, trat ihm Bartholomäus Salzendengler in den Weg. »Ich denke, das gehört mir, junger Halbling.«

Jarik verspürte weder Kraft noch Lust, sich zu streiten. Das Gefühl kehrte langsam in seinen Arm zurück – und er wünschte, es wäre anders, denn der Schmerz war überwältigend. »Manche Dinge ändern sich nie«, sagte Bronn und zuckte mit den Schultern. »Lasst uns im Hörnchen einen Krug Met miteinander trinken, was meint ihr beiden?«

Warlin trat neben ihn, blickte Jarik fragend an und hob eine Augenbraue. »Das ist eine gute Idee«, sagte dieser schließlich, heilfroh, dass sie wieder beste Freunde waren. Damit grinsten die beiden Freunde einander an und stützten sich auf dem Weg hinunter zum Gasthaus gegenseitig. An Lilly und den Spaziergang dachten sie beide nicht einmal mehr, als diese ihnen im Hörnchen mit bewunderndem Augenaufschlag den Rindereintopf servierte.

Die Geschichte von dem Riesenork auf der Donnerkuppe aber ging in die Legenden von Spitzbärtlingen ein, ohne dass ein Schatten des Zweifels am Heldenmut der drei erfahrenen Grenzler und ihrer beiden jungen Anwärter bestand, die in den schweren nächsten Monaten bereits zu den kampferprobten Veteranen zählten.