I need a hero. I’m holding out for a hero ’til the end of the night. And he’s gotta be strong, and he’s gotta be fast … and he’s gotta be larger than life.26

Diese Worte singt Bonnie Tyler, während sie nach ihrem Helden Ausschau hält. Doch: Umreißt ihre Definition eine Art »Universalhelden«? Es gibt viele verschiedene Arten von Geschichten und damit auch – keineswegs überraschend – genauso viele verschiedene Typen von Helden. Und wie das spezielle Exemplar einer seltsamen Gattung in einer sonderbar literarisch anmutenden Naturdokumentation pflegt jeder (oder jede) von ihnen gut angepasst zu sein an die Welt, die er oder sie bewohnt, ist vielleicht auf merkwürdige Weise sogar deren Produkt.

Außerdem bewegen sich die meisten Helden irgendwie jenseits der Grenzen unserer gewöhnlichen Welt. Diese Männer und Frauen haben Erfahrungen mit Feuer und Schwert gemacht, durch die sie erst wirklich zu dem wurden, was sie sind. Hier einige Namen wohlbekannter Helden, vornehmlich aus der Welt der Literatur: Achilles. Odysseus. Aeneas. Der heilige Georg. Beowulf. Karl der Große. Roland. Lanzelot. Hamlet. Und Bilbo.

Viele würden der Feststellung zustimmen, dass alle diese Männer in die Kategorie Held gehören. Doch ebenso einig wären sie sich in der Beobachtung, dass sie nicht alle auf dieselbe Art und Weise heroisch sind. Achilles ist der Inbegriff eines klassischen Helden – um mit Bonnie Tylers Worten zu sprechen: Er ist schnell, stark und überlebensgroß.

Odysseus eilt sein Beiname »der Listige« mit der Geschwindigkeit eines Steppenbrandes voraus. Wir haben »pius Aeneas«, den Gottesfürchtigen, Pflichtbewussten, sein Schicksal Annehmenden als Grundpfeiler des neuen römischen Heroentums.27 Auf der eher heiligen Seite finden wir Sankt Georg mit seinem Drachen. Außerdem können wir in Dutzenden von Hagiografien die heroischen Taten anderer Heiliger nachlesen, die ähnlichen Mustern folgten. Beowulf schlug sich im Kampf mit seinem Monster besser als alle seine Kritiker, während andere Helden, manchmal sogar mithilfe derselben Kritiker, selbst zu literarischen Tropoi wurden. Auf Lanzelot, Vater des einzigen Mannes, welcher auf dem siege perilous sitzen durfte, jenem gefährlichen Platz an Artus’ Tafelrunde, der dem Ritter vorbehalten war, welcher dereinst den Heiligen Gral finden würde, gehen zum Beispiel in großen Teilen sowohl die Vorstellung des Viktorianischen Zeitalters wie auch unser moderner Begriff vom Rittertum zurück. Hamlet, der in einem unausweichlichen Zirkel tragischer Rache gefangene existenzialistische Denker, wurde zu einem der beliebtesten und bekanntesten literarischen »Heroen« und fand Nachahmer und Bewunderer auf der ganzen Welt.

Und Bilbo? Es braucht weder Kritiker noch Akademiker, um festzustellen, dass er in einer völlig anderen Liga spielt als alle zuvor genannten Helden. Versuchen Sie doch mal, ihn sich zum Beispiel bei der Belagerung von Troja vorzustellen oder wie er Grendels Mutter in den dänischen Sümpfen entgegentritt oder wie er Rolands Horn bläst … Es funktioniert nicht so ganz.

Was für eine Art Held ist also Bilbo? Die Antwort dürfte überwiegend lauten: Bilbo ist ein Jedermann, eine Art von Held, für den, und das vielleicht sogar mehr als für jeden anderen, die Begegnung mit Feuer und Schwert eine echte Prüfung darstellt. Die Untersuchung von Bilbos Jedermann-Heldentum ist Gegenstand dieses Beitrags.

JEDERMANN UND DIE REISE DES HELDEN

Unsere erste Frage muss lauten: Wer oder was ist ein »Jedermann«? Das Oxford English Dictionary definiert einen Jedermann als »gewöhnlichen oder typischen Menschen«. Tatsächlich begleitet uns der Begriff »Jedermann« schon seit langer Zeit. Er lässt sich bis zu den mittelalterlichen Mysterienspielen zurückverfolgen. Eine genauere Betrachtung dieser Moralstücke führt in Verbindung mit der Definition des Wörterbuchs recht schnell zu dem Schluss, dass ein Jedermann-Held gewöhnlich oder typisch ist und dass sein Zweck in einer besonders intimen Kommunikation mit dem Leser oder Zuschauer liegt, weil er ganz alltägliche menschliche Wesenszüge anspricht.

Wir identifizieren uns stark mit einem Protagonisten, der uns an uns selbst erinnert, und während wir seine (oder ihre) Erlebnisse durch unsere Augen sehen, erblicken wir vielleicht sogar eine Spur des eigenen Ichs im dem Drama, das sich vor uns entfaltet. Der Jedermann-Held macht die Geschichte auf uns selbst anwendbar, er fungiert nicht nur als unser Repräsentant in ihr, sondern übernimmt gleichzeitig auch die Rolle des Vermittlers.

Genau hierin liegt natürlich der Grund, warum die Jedermänner so geschätzt werden. Sie unterscheiden sich von den anderen Vertretern der Gattung Held – den Kriegern, Denkern und Heiligen –, weil sie uns gleichen: Sie sind gewöhnlich und typisch. Jedermann besitzt weder Verbindungen zum Übernatürlichen noch verlorene Königreiche noch einen ermordeten Vater. Er ist an der Hohen Tafel der Helden das schwarze Schaf.

Natürlich gehört zu jedem Helden auch eine Heldenreise. Doch die Reise des Jedermann ist anders: Er sieht sich regelmäßig Umständen gegenüber, die weit über seinen Erfahrungsbereich hinausgehen – manchmal auch jenseits seines Begriffsvermögens liegen – und muss irgendwie seinen Verstand und seine noble Gewöhnlichkeit einsetzen, um sie zu bezwingen. Anfangs ist Jedermann dazu nicht in der Lage. Wir alle kennen die sogenannten »Montage«-Sequenzen in Filmen, welche zeigen, wie er ausgebildet wird, wobei er unzählige Male stolpert und versagt (meist mit musikalischer Untermalung), bevor seine Entschlossenheit durchzuscheinen beginnt und er seine Aufgabe erfolgreich meistert. Hat er dann durch die Praxis seinen letzten Feinschliff erhalten, folgt in der Regel noch eine weitere Etappe der Reise: Der Welt wird vorgeführt, wie das vollkommen Gewöhnliche in den von übermenschlichen Helden bevölkerten Hallen ein Zeichen von Größe setzen kann.

Nach Erfüllung seiner Aufgabe kehrt Jedermann – durch das Abenteuer in jeder Hinsicht, hauptsächlich jedoch im Hinblick auf seine Persönlichkeit bereichert – glücklich nach Hause zurück. Manchmal hilft er sogar noch dabei, ein übles Problem zu lösen, dem sich seine Heimat oder Kultur gegenübersieht. Seine Geschichte ist die von jemandem, der unerwartet aus seinem Alltagsleben gerissen und auf eine Abenteuerreise »hin und zurück« geschickt wird. Diese sind es, welche Shakespeare meint, wenn er von jenen spricht, denen »Größe zugeworfen« wird (Was ihr wollt, 2. Aufzug, 5. Szene). Sie werden unvorbereitet – und manchmal auch gegen ihren Willen – zum Gegenstand einer Veredelungsarbeit in einer Welt weit jenseits ihrer eigenen.

Rufen wir uns doch zum Beispiel einmal die Szene am Beginn des Films Gladiator28 von Ridley Scott ins Gedächtnis. Der alte Imperator teilt dem Helden, Maximus, seinen Wunsch mit, dieser möge seine Nachfolge antreten. Im Gegensatz zum amoralischen Sohn des Herrschers hat Maximus jedoch nicht den geringsten Wunsch, das zu tun. Wir haben hier einen Widerschein jenes Gedankens, den Douglas Adams in seinem Per Anhalter durch die Galaxis so formulierte: »Jeder, der imstande ist, sich zum Präsidenten wählen zu lassen, sollte unter allen Umständen daran gehindert werden, die Stelle anzutreten29

Für Tolkien ist der Vorgang der Heldenwerdung ziemlich ähnlich dem Vorgang der Herrscherwerdung. »Nolo heroizari«, schrieb er, »ist gewiss für einen Helden ein ebenso guter Anfang wie nolo episcopari30 für einen Bischof« (Briefe, S. 284). Zu sagen »Ich will kein Held sein« zeugt von einem Grad an Demut, den man allzu oft nur bei gewöhnlichen Menschen findet. Und eben diese Demut ist es, welche, zumindest in unserer modernen Sichtweise, eine ausgezeichnete Basis für Heldentum bildet.

BILBO: »NOLO HEROIZARI

Bilbo wirkt auf den ersten Blick wie der perfekte Kandidat für einen Jedermann-Helden, und zwar genau deshalb, weil er nicht den geringsten Wunsch hat, einer zu sein, schon gar nicht, wenn das bedeutet, der Protagonist in einem Abenteuer zu sein. »Tut mir leid!«, sagt er zu Gandalf, »Ich wünsche keine Abenteuer, nein danke! Heute nicht. Guten Morgen!« (Hobbit, S. 20) Bilbo versteckt sich vor Abenteuern hinter seinem Mantel aus Gewöhnlichkeit. Er wünscht Gandalf so lange einen »Guten Morgen«, bis er glaubt, die Abenteuer seien »noch mal an ihm vorübergegangen« (Hobbit, S. 20). Wie viele von uns haben sich nicht auch schon einmal potenziell unangenehmen – oder entschieden unerwünschten – Situationen auf exakt die gleiche Weise entzogen?

Tolkien selbst gibt uns den Rahmen vor, durch den wir Bilbo als den Jedermann sehen. In einem Brief an Milton Walden schrieb er, Der Hobbit sei »letztlich … eine Studie über einen schlichten, gewöhnlichen Menschen, weder kunstbegabt, noch edel oder heroisch« (Briefe, S. 211). Bilbos Gewöhnlichkeit wird in allen Details nicht nur als grundlegender Wesenszug bei der Einführung seines Charakters ausgearbeitet, sondern auch in der Art und Weise, wie in den ersten Passagen der Geschichte die Gesellschaft und Kultur dargestellt werden, in denen er lebt: Bilbo ist von einem schützenden Wall aus Briefen und Rauchringen, dem Bühl und der Wässer, Tee und Kuchen, Gästebetten und Taschentüchern umgeben.

Von seinem Auftritt als bedrängter und frustrierter Gastgeber, der versucht, höflich zu bleiben, bis hin zu dem träge hingeworfenen »Guten Morgen« – Bilbo stellt das fein ausgearbeitete Porträt eines nicht über die Maßen reichen und beruhigend durchschnittlichen englischen Landedelmanns dar.

Und doch ist da ein Funke in Bilbo, der ihn Geschichten von der Welt jenseits seiner eigenen lieben lässt:

Bei diesem Gesang spürte der Hobbit … etwas in ihm [erwachte], das er von den Tuks haben musste, und er wünschte sich, mit fortzuziehen und die hohen Berge zu sehen, die Kiefernwälder und die Wasserfälle rauschen zu hören, die Höhlen zu erkunden und statt des Spazierstocks ein Schwert bei sich zu tragen. Er blickte aus dem Fenster. Die Sterne standen am dunklen Himmel über den Bäumen. Er dachte an die schimmernden Edelsteine der Zwerge in ihren dunklen Höhlen. Plötzlich leuchtete im Wald am andern Flussufer eine Flamme auf – wahrscheinlich machte jemand ein Lagerfeuer –, und er dachte an raubgierige Drachen, die auf seinen kleinen Hügel herabstießen und alles in Brand steckten. Er erschauerte, und gleich darauf war er wieder der solide Herr Beutlin von Beutelsend unter dem Bühl. (Hobbit, S. 31 f.)

Diese Passage trägt Entscheidendes zu unserem Bild von Bilbo als Jedermann bei: Das Lied der Zwerge weckt etwas in ihm, das der Abenteuerlust ziemlich nahekommt – doch die Vorstellung, was Drachen in der realen Welt anrichten könnten, holt ihn schnell wieder auf festen Boden zurück.

Ungefähr an dieser Stelle geraten wir mit unserer Definition von Bilbo als Jedermann in Schwierigkeiten, denn Bilbo mag zwar gewöhnlich sein, trotzdem ist er nicht typisch in unserem modernen Sinn. Immer wieder wird der Tuk betont, der in ihm steckt, und die Tatsache, dass der Gesang der Zwerge überhaupt etwas in ihm auslöst, ist ein zusätzlicher Beweis: Bilbo ist atypisch. Andere Hobbits, wie zum Beispiel Timm Sandigmann im Herrn der Ringe, würden solche Lieder einfach als baren Unsinn abtun. Auf Bilbo üben sie jedoch eine große Wirkung aus.

Es scheint daher, dass Jedermann-Helden in mindestens zwei Gruppen eingeteilt werden können: den typischen Jedermann und sein gewöhnliches Gegenstück. Arthur Dent aus Per Anhalter durch die Galaxis, der ohne seinen geliebten Tee und im Morgenmantel kreuz und quer durch die Galaxis trudelt, gibt ein schönes Beispiel für einen typischen Jedermann ab. Bilbo hingegen scheint ein gewöhnlicher Jedermann zu sein. Mit anderen Worten: Es gibt etwas an und in ihm, das ihn von den anderen, typischen Hobbits in seiner Umgebung unterscheidet, etwas, das ihn beinahe außergewöhnlich macht.

Tolkien merkte dazu an: »Bilbo wurde dank Gandalfs Einsicht und Autorität als ein abnormer Hobbit ausgewählt« (Briefe, S. 476). Und wenn wir noch einmal zu seinem Brief an Walden zurückkehren, dann finden wir die Aussage, dass es sich bei Tolkiens Studie eines einfachen, unkünstlerischen Menschen (in diesem Fall Bilbo) eigentlich um die Studie eines Menschen handelt, der »nicht ohne die unentfalteten Keime all dessen« ist (Briefe, S. 211; Hervorhebung der Autorin).

Im Gegensatz zum typischen Jedermann trägt der gewöhnliche Jedermann den unentfalteten Keim für Größeres in sich. Und mehr als das: Vielleicht ist der gewöhnliche Jedermann sogar hin und wieder geneigt, Gebrauch von solchen Tugenden zu machen, und der typische Jedermann nicht.

Welche verborgenen gewöhnlichen Tugenden besitzt nun Bilbo? Tolkien zählt in seinen Briefen die folgenden auf: »Verstand, Großmut, Geduld, Charakterstärke und auch einen starken, noch nicht angefachten ›Funken‹« (Briefe, S. 476). Bilbo trägt also viele dieser Tugenden »in gut abgewogener Mischung« in sich, und es ist klar, dass der Funke in ihm einfach nur darauf wartet, entzündet zu werden. Vom Erzähler erfahren wir: »Bilbo … [hatte] etwas von einem Tuk mitbekommen … eine absonderliche Ader, die bei passender Gelegenheit hervortreten konnte« (Hobbit, S. 16).

Und genau in diesem Teil von Bilbos Persönlichkeit erkennt Gandalf das in seinem ausgesuchten Meisterdieb seit jeher schlummernde Potenzial. Der Hobbit ist der perfekte Gegenstand für einen Veredelungsprozess, wie er durch die Begegnung mit Feuer und Schwert auf der Heldenreise stattfindet, und in der Tat werden wir Zeugen, wie sich der gewöhnliche Bilbo aus dem Auenland vom völlig überforderten Gastgeber eines Abendessens (welcher sogar kurzzeitig einen Nervenzusammenbruch erleidet) in jemanden verwandelt, der Rätselraten mit einem Drachen spielt. Viele würden dies als typische Feuer- und Schwertreise eines Jedermann bezeichnen, und damit gut. Nur gibt es da noch ein kleines Problem.

Wir haben gesehen, dass Bilbo, in dem ein Funke verborgen liegt, der noch nicht entfacht worden ist, nicht als typischer Hobbit durchgehen kann – vielmehr ist er einer von der gewöhnlichen Sorte. Doch auch das greift noch zu kurz. Bilbo ist nicht bloß ein gewöhnlicher Hobbit. Er ist unerwartet unkonventionell, und dies in einem Maße, das ihn vielleicht sogar vom traditionellen Status des Jedermann ausschließt.

Von Beginn der Geschichte an weist uns der Erzähler immer wieder darauf hin, dass Bilbo möglicherweise aus einem Geschlecht von Hobbits abstammen könnte, dessen Angehörige in mancher Hinsicht außergewöhnlich waren, zum Beispiel groß genug, um auf einem Pferd zu reiten. Und: »In den anderen Hobbitfamilien wurde gemunkelt, vor langer Zeit müsse ein Tuk einmal eine Elbin geheiratet haben« (Hobbit, S. 15).

Ob Bilbo nun tatsächlich von seinem Status als Jedermann ausgeschlossen werden kann oder nicht, hängt sehr stark davon ab, wie man diesen Satz interpretiert. Entweder stimmt es, dass ein Tuk sich eine Elbenfrau genommen hat – was bedeuten würde, in Bilbos Stammbaum gäbe es vor sehr langer Zeit, ähnlich den klassischeren Helden, irgendwo »über-menschliche« Vorfahren. Oder wir müssen Tolkien so verstehen, dass er eine höchst erstaunliche Aussage darüber trifft, was das Gewöhnliche seinem Wesen nach eigentlich ist. Im letzteren Falle erscheint es nämlich völlig normal für einen gewöhnlichen Hobbit, einen Funken in sich zu tragen, der ihn mit der Elbenwelt verbindet, und vielleicht liegen genau dort die Keimzellen seiner bis dato unentdeckten Größe. Diese unkonventionelle, jedoch offenbar gewöhnliche Wurzel rückt Bilbo noch weiter weg vom typischen Hobbit.

Aus eben dieser Wurzel erwächst Bilbos innerer Konflikt, welcher ihm diese unglaubliche Authentizität verleiht: Bilbo hegt den Wunsch nach Abenteuern und hat zugleich Angst vor ihnen. Er ist von ihnen gleichermaßen hingerissen wie abgestoßen. Gäbe es nicht diesen atypischen Konflikt in ihm – nichts auf der Welt hätte ihn dazu bringen können, seine Hobbithöhle zu verlassen.

Dieser Konflikt bildet auch die Voraussetzung dafür, dass Jedermann Bilbo eine noch weit ernsthaftere Rolle spielen kann: die Brücke zwischen verschiedenen Welten zu sein. Bilbo trägt einen Funken in sich, lebt jedoch in einer »vertrauten« Alltagswelt (nämlich Hobbingen und dem Bühl). Als ihn Gandalf dazu bringt, seine Hobbithöhle zu verlassen, betritt er die »Sagenwelt« von Mittelerde. Bilbo ist ein Teil der gewöhnlichen Welt, den es in die Welt der Legenden verschlägt – genau so, wie es bei einem guten Jedermann sein sollte. Und da Bilbo ein gewöhnlicher Jedermann ist, fühlt er sich in der Welt der Zauberer, Zwerge, Orks und Drachen keineswegs wohl, sondern höchst unbehaglich.

Bilbos Unbehagen führt dazu, dass er schnell verschiedene Diskrepanzen zwischen der Wirklichkeit der Sagenwelt und den Schilderungen bemerkt, welche über diese in der Alltagswelt kursieren, aus der er kommt. Am Anfang der Reise bemerkt der Erzähler: »Meistens war es bisher so schön gewesen, wie es im Mai selbst in einer heiteren Geschichte schöner nicht sein kann, aber nun war es kalt und regnete« (Hobbit, S. 51). Bilbos Enthusiasmus hält sich sogar noch mehr in Grenzen: »›Und dabei wird es doch bald Juni‹, brummte Bilbo.« (Hobbit, S. 52).

Als Gegenstück zu Bilbo, dem gewöhnlichen Jedermann, der sich in der Welt der Legenden zurechtfinden muss, haben wir einen ganzen Trupp Zwerge und Thorin Eichenschild. Die gewöhnliche Welt in Gestalt von Bilbos Hobbithöhle scheint, und das sowohl im Wortsinne als auch metaphorisch betrachtet, kaum groß genug zu sein, um sie alle zu fassen. Thorin, der um sein Erbe gebrachte Nachkomme des Königs unter dem Einsamen Berg, verkörpert einen ähnlichen Typus wie Aragorn in Die Rückkehr des Königs, ist im Gegensatz zu diesem jedoch bloß noch ein schwacher Abglanz der Welt, die er repräsentiert.

Der Grund hierfür scheint nicht in erster Linie darin zu liegen, dass er als Gestalt in der Geschichte eines Hobbits auftritt, sondern vielmehr in seinem eigenen Wesen. Gandalfs Beschreibung der Heldentaten von Thror in den Verliesen des Nekromanten klingt so heroisch und tragisch, wie es großen Heldentaten angemessen ist. Thorins Rede jedoch, wie uns der Erzähler genüsslich berichtet, wirkt unnötig aufgebläht und in die Länge gezogen: »Das war Thorins Stil … Hätte man ihn gelassen, so hätte er vermutlich so weitergeredet, bis ihm die Luft ausging, und doch nichts gesagt, das man nicht schon wusste.« (Hobbit, S. 33) Während Gandalf wiederholt feststellt, dass an Bilbo mehr dran ist, als das Auge sieht, sagt er zu Thorin, und zwar nur wenige Seiten, nachdem wir diesen kennengelernt haben, die diesem bevorstehenden Aufgaben seien »schwer genug« (Hobbit, S. 45).

In der Art, wie Bilbo und Thorin nebeneinander gestellt werden, könnte man sie als Parallelfiguren sehen, als Vertreter zweier absteigender Linien. Bilbo, der gewöhnliche Jedermann, hat die Wahl, entweder zu einem ganz durchschnittlichen, typischen Vertreter seiner Spezies zu werden, in die Bedeutungslosigkeit abzusinken, indem er den Ruf des Abenteuers überhört, oder auf eine Art weiterzuleben, die dem Funken in seinem Inneren gerecht wird, welcher dem Auge verborgen ist. Und Thorin, Nachkomme einer sagenumwobenen, heldenhaften Vergangenheit, kann entweder zu einem schwafelnden Liliputaner werden oder zu einem König, der den ihm zustehenden Thron wieder in Besitz nimmt.

Und damit ist die Bühne bereitet für eine Geschichte, welche davon erzählt, was es in der Welt der Legenden bedeutet, gewöhnlich zu sein – genau der Stoff für einen Jedermann, genau die Mischung, in der sein Mut geschmiedet wird. Doch die Geschichte handelt nicht nur davon, wie Bilbo und Thorin dazu gebracht werden, ihr Schicksal zu erfüllen, indem sie Feuer und Schwert begegnen, oder von dem Versuch, die gewöhnliche Welt und die Heldenwelt wieder miteinander in Einklang zu bringen. Mithilfe von Bilbo verleiht Tolkien auch dem Heldentum der Hobbits neuen Schliff und gibt diesem Volk den ihm gebührenden Platz in der legendären Geschichte von Mittelerde wieder.

LEGENDÄRES UND ALLTÄGLICHES

Alfred Lord Tennyson bemerkte einmal, das Verfassen eines guten Hymnus sei die schwierigste Sache der Welt, denn: »In einem guten Hymnus muss man beides sein – alltäglich und poetisch« (Memoirs, S. 754).

Bilbos Geschichte ähnelt dem so schwer zu erreichenden »guten Hymnus« in vielerlei Hinsicht: Er ist gefangen zwischen der Alltagswelt und der poetischen bzw. mythischen Welt, die er vor allem aus seinen Büchern kennt. Als er sich den Zwergen als Dieb zur Verfügung stellt, findet er sich plötzlich zwischen diesen beiden Welten wieder. Er sieht Feuer und Schwert nicht mehr nur auf den Seiten eines Buches – er durchlebt es selbst. Mitten hineingeworfen in ein Abenteuer, dessen Ablauf sich seiner Kontrolle vollständig entzieht, besetzt er plötzlich eine Position in beiden Territorien, was ihn zwingt, den Dialog zwischen seinem eigenen, alltäglichen Leben und dem, was er in der Welt jenseits davon vorfindet, neu zu interpretieren.

Durch seine Interpretation wird er zum unbewussten Mediator für den Leser, zum Vermittler sowohl alltäglicher Vorgänge wie auch der – manchmal unangenehmen – Ereignisse im Reich der Legenden. Diese Rolle als Vermittler und Interpret bildet die Grundlage seiner Heldenreise und seines Status als Jedermann. Aber da ist noch mehr: Der Prozess der Interpretation ist zugleich der Prozess seiner eigenen Integration in die Welt der Legenden.

Anfangs kommt Bilbo in dieser Welt der Legenden überhaupt nur deshalb zurecht, weil er sich auf die Hilfe Gandalfs verlassen kann. Es ist der Zauberer, der den Brief der Zwerge »interpretiert« und Bilbo rät, sich zu beeilen, um nicht zu spät zu kommen. Und häufig ist es Gandalf, der im Verlaufe des Abenteuers an Bilbos statt oder auch für die ganze Reisegesellschaft agiert (wie zum Beispiel mit den Adlern oder bei der Begegnung mit Beorn). Als voll integriertes Mitglied jener Welt, durch die sie sich bewegen, ist er für Bilbo gleichermaßen ein Quell der Geborgenheit wie auch der Ermutigung. Doch je länger seine Reise dauert, desto mehr integriert sich Bilbo in die Welt der Legenden, und seine Interpretationen derselben werden zunehmend scharfsinniger.

Ein gutes Beispiel für Bilbos fortschreitende (allerdings immer noch merkwürdig anmutende) Integration bietet bei näherer Betrachtung sein Traum im Nebelgebirge: »Er träumte, dass ein Spalt in der Rückwand der Höhle immer größer und größer wurde und sich immer weiter und weiter auftat, und zu seinem tiefsten Bedauern konnte er nicht aufschreien oder etwas anderes tun als daliegen und zusehen. Dann träumte er, dass der Boden der Höhle nachgab und dass er ins Rutschen kam und zu fallen begann – tiefer und immer tiefer, wer weiß, wohin.« (Hobbit, S. 86)

Träume sind seit jeher ein elementarer Bestandteil des Funktionsmechanismus von Märchen und Heldengeschichten, und dieser hier ist ziemlich prophetisch. Bilbo ist in dem Traum unfähig, laut zu schreien – ein Beleg für die Tatsache, dass er hier immer noch Interpret bzw. bloßer Betrachter des in der heroischen Welt ablaufenden Geschehens ist. In seiner Angst weckt er Gandalf, welcher dann die Schlüsselrolle bei der Flucht der Zwerge und des Hobbits vor den Orks übernimmt. Der Traum, obgleich er Bilbo nicht die aktive Fähigkeit verleiht, selbst etwas zu tun, entlockt ihm einen stummen Schrei, welcher Einfluss auf die wache Welt ausübt – und auf Gandalf, der in dieser Welt eine Schlüsselfigur ist. Es ist der erste Schritt eines Jedermanns, seine neue Umgebung nicht nur wahrzunehmen, sondern auch zu beeinflussen.

Die Bedeutung der Interpretation der Legendenwelt und ihrer Verbindung zur Integration in und Einflussnahme auf dieselbe zeigt sich besonders stark im Rätselwettstreit mit Gollum. Wie der Erzähler feststellt, waren das Finden des Rings und die darauf folgenden Geschehnisse »ein Wendepunkt in [Bilbos] Leben, aber er wusste es nicht« (Hobbit, S. 99). Ironischerweise ist Bilbo in dem Moment, als er die Welt der Legenden zu verstehen beginnt, ganz allein und in völliger Finsternis – er sieht, dass sein eigenes, in der Dunkelheit schimmerndes Schwert »auch eine Elbenklinge« ist (Hobbit, S. 100). Der Rätselwettstreit selbst hat heroische Wurzeln. Bilbo weiß, dass »das Rätselspiel heilig und ungemein altehrwürdig« ist (Hobbit, S. 112). Wie Bilbo, so hat auch diese uralte Tradition ihren Platz in beiden Welten, der der Legenden und der gewöhnlichen Welt – viele der Rätsel, welche Gollum und Bilbo austauschen, kennen sie beide aus ihrem Leben in letzterer. Das Rätseln fällt Bilbo so natürlich zu, und er ist darin so geschickt wie ein großer Held, aber er tut es als ein ganz gewöhnlicher Mann. Den eigentlichen Wendepunkt markiert die Tatsache, dass Bilbo, ganz allein im Dunkeln, schlau genug ist, sowohl Gollum als auch den Orks am Tor zu entkommen. Als Belohnung behält er den Ring, seinerseits ein Werkzeug aus der heroischen Welt, und dieser verleiht ihm selbst Züge einer legendären Gestalt, als er wieder vor den Zwergen erscheint.

Der in sich verschlungene Charakter des Rätselwettstreits ist einerseits nicht allzu weit entfernt von Bilbos Alltagserfahrung, gleichzeitig handelt es sich dabei aber auch um einen heroischen und legendären Akt. Ohne es zu merken, hat Bilbo seine erste Feuerprobe bestanden, seine Schwertleite erhalten und sich dem Legendären weiter angenähert, indem er es mit den Augen eines gewöhnlichen Menschen wahrnimmt und mit dem Verstand eines gewöhnlichen Menschen deutet.

VOM GEWÖHNLICHEN ZUM LEGENDÄREN

Dies ist der erste von diversen legendären Erfolgen, die Bilbo beschieden sind. Von da an findet seine wachsende Integration in die Welt der Legenden ihren Ausdruck in heroischen Topoi: Im Düsterwald tötet Bilbo die erste Spinne allein und ohne jede Hilfe; danach gibt er seiner Klinge einen Namen. Das »hatte den guten Herrn Beutlin mächtig verändert« (Hobbit, S. 209). Sowohl das Töten wie auch die Namensgebung sind Schritte auf dem Weg zum legendären Status, und doch könnten Bilbo, genau wie Samweis Gamdschie im Kampf mit Kankra, Gedanken an Heldentum und Legenden in diesem Moment kaum ferner liegen. Die Idee, sein Schwert Stich zu nennen, scheint Bilbo ganz natürlich zuzufallen; er verbindet damit keinerlei Behauptung von Heldentum. Hierin liefert uns Tolkien ein zweifaches Beispiel, nämlich sowohl für das Stereotyp wie auch den reinen Typus des Helden. Wir bekommen die Möglichkeit, Bilbos Heroismus ohne die Scheuklappen des Heldenkanons zu betrachten (obwohl wir ihn natürlich trotzdem im Hinterkopf haben), und diese neue, frische Bewunderung all dessen, was Heldentum ausmacht, rührt daher, dass Bilbo unser Jedermann ist.

Man könnte einwenden, dass der Ton des Erzählers uns von diesem Punkt an daran hindert, die Taten Bilbos im Düsterwald in ihrer ganzen Bandbreite zu sehen und ihn als vollwertigen Helden zu bewundern. Der Erzähler hüllt Bilbo auch weiterhin fest in seine Verkleidung als Jedermann, statt ihn als legendären Heros zu zeigen. Details aus der Zeit, welche Bilbo versteckt in den Hallen Thranduils verbringt, liefert er uns zum Beispiel kaum. Mithilfe des Ringes wird Bilbo zum unverhofften Retter Thorins aus der Not und setzt seine ganze Gerissenheit und Schläue ein, um die Flucht der Zwerge einzufädeln. Wieder ist es eine Zeit der Prüfung durch Feuer und Schwert, wieder hat er keinerlei Hilfe, und dieses Mal schwebt er in gewissem Sinne sogar in größerer Gefahr als während seines einsamen Kampfes mit den Spinnen.

Nach der großartigen Flucht schildert der Erzähler uns Bilbos nachfolgende Erkältung bis in die kleinsten Einzelheiten und zeigt uns damit den Protagonisten auch hier noch in seinem ganz gewöhnlichen Wesen. Abgesehen davon, dass die Erkältung als solche nicht ganz unerwartet auftritt, nachdem sich jemand in einem Fass aus einem finsteren Verlies geschmuggelt hat, bildet diese detailreiche Schilderung einen komischen Kontrast zu dem legendären Charakter der Flucht, die Bilbo bewerkstelligt hat. In Gestalt von Bilbos Erkältung ist plötzlich das Eindringen des Alltäglichen in das Legendäre und nicht das Eindringen des Legendären in das alltägliche Leben des gewöhnlichen Jedermann zum Ausgangspunkt der Komödie geworden.

Dies markiert einen wichtigen Wendepunkt im Erzählton und illustriert, wie weit Bilbos Integration gegangen ist. Wir stellen erleichtert fest, dass unser Jedermann immer noch »gewöhnlich« ist und dass wir damit sehr gut leben können, denn es ist Bilbos gewöhnliche Jedermann-Natur, die ihn vor einigen der eher ärgerlichen Begleiterscheinungen bewahrt, unter denen das traditionelle und klassische Heldentum so oft leiden: namentlich ein verhängnisvolles Schicksal und Hybris.

Die Unterhaltung mit einem Drachen ist nach allem, was man weiß, eine äußerst gefährliche Angelegenheit. Dies sieht auch der Erzähler so und lässt uns miterleben, welch verstörende und beunruhigende Wirkung es auf Bilbo hat, als Smaug versucht, in ihm Misstrauen gegenüber seinen Freunden und Verbündeten zu wecken. Bilbo jedoch baut sich vor dem Drachen auf und fängt ein Rätselspiel mit diesem an, in dem es um seinen Namen und seine Abenteuer geht:

Ich bin der wandelnde Unsichtbare … Ich bin der Rätsellöser, der Netzzerhauer, die Stechfliege. Ich wurde wegen der Glückszahl genommen … Ich bin, der seine Freunde lebendig begräbt, sie ersäuft und lebendig wieder aus dem Wasser zieht. Ich komme aus dem Ende eines Beutels, wurde aber in keinen Beutel gesteckt … Ich bin der Ringfinder … und … Fassreiter « (Hobbit, S. 292 f.)

Bilbo beginnt »an seiner Rätselrede Spaß zu finden« (Hobbit, S. 293). Und wäre unser Held nicht der, der er ist, nämlich ein Jedermann, dann wäre dies ein Moment entsetzlicher Hybris. Dann könnten wir die Szene zum Beispiel mit dem vergleichen, was folgt, nachdem Odysseus sich dem Zyklopen als Niemand vorgestellt hat, oder mit der Szene, in der Turin mit Glaurung spricht. Wäre Bilbo ein epischer Held, dann würden wir auf der nächsten Seite vermutlich davon lesen, wie Smaug Seestadt zerstört und die Zwerge tötet – alles eine Folge von Bilbos Worten. Bilbo seinerseits würde erkennen, dass er die alleinige Schuld an der ganzen Katastrophe trägt, und dann in einem letzten heroischen Kampf mit seinem Feind sterben.

Doch Bilbo ist ein Jedermann – er ist ganz normal und wirkt daher aus Smaugs Sicht wie ein Fremdkörper: Den »Hobbitgeruch … kannte er noch gar nicht, und das irritierte ihn gewaltig« (Hobbit, S. 294). Smaug fühlt sich unangreifbar. Ähnlich wie Gandalf im allerersten Kapitel merkt er an, dass es die Helden von einst »heut auf der ganzen Welt nicht mehr [gibt]« (Hobbit, S. 39/297). Allerdings übersieht er die Tatsache, dass eine ganz neue Art Held vor ihm steht, und ebenso entgeht ihm die Ähnlichkeit, die Bilbo mit seinem unbehaglichen Traum aufweist, »in dem ein Krieger, der Größe nach harmlos, aber sehr mutig und mit einem bissigen Schwert, eine sehr störende Rolle spielte« (Hobbit, S. 285). Smaug deutet seinen Traum falsch, weil er das Gewöhnliche nicht versteht. Und so ist es Bilbos Normalität, welche ihm im nachfolgenden Wettstreit zwischen Hobbit und Drache das Leben rettet. Er entzieht sich seiner Begegnung mit Smaug unter Verwendung genau jener Platitüden und auf dieselbe Art, derer man sich bedienen würde, um, sagen wir mal, ein peinliches Abendessen mit der ungeliebten Verwandtschaft zu vermeiden. Es handelt sich hier um eine ganz alltägliche Fertigkeit, und wir können mit Sicherheit davon ausgehen, dass Bilbo einige Erfahrung darin hat.

Bilbos unkonventionelle und aufreizende Gewöhnlichkeit ist es, die Smaug dazu veranlasst, nach Seestadt zu fliegen, wo er von Bard getötet wird. Bilbos Auftritt in dem Heldentropos »Drachengespräch« findet ein gutes Ende – außer für den Drachen – und das ist genau so, wie es sein soll.

Nach Smaugs Tod wird Thorin in den Status einer Legendengestalt erhoben: Während der Verhandlungen mit Bard schwingt sich seine Rede zu höchster Eloquenz und epischer Breite auf. Doch mit dieser Erhebung befällt ihn auch Arroganz. Thorin ist gegen die Wirkung des Drachenhorts nicht gefeit, und so macht ihn das Wiedersehen mit dem Schatz seiner Vorfahren ganz klar ebenfalls zum Teil des legendären Heldenkanons, und zwar in negativer Weise. Bilbo dagegen scheint nach diversen Begegnungen mit Drache und Hort dezidiert wieder in seinen Status des Alltäglichen zurückzukehren.

Auch in der Sache mit dem Arkenstein bewahrt sein messerscharfer gesunder Menschenverstand Bilbo davor, einen heroischen Verrat zu begehen, diesmal in Gestalt eines ganz gewöhnlichen Geschäftsmannes, der einfach das tut, was er unter den gegebenen Umständen für das Beste hält. Bard, ein weiterer Repräsentant der Legendenwelt, versteht Bilbos Motivation an dieser Stelle überhaupt nicht:

»Wollen Sie Ihre Freunde verraten, oder wollen Sie uns drohen?«, fragte Bard finster. »Mein lieber Bard«, piepste Bilbo, » Ich möchte allen Beteiligten nur Ärger ersparen.« (Hobbit, S. 355)

Der einzige echte Akt des Diebstahls, den Bilbo jemals begeht – die Übergabe des Arkensteins an Bard –, hat ganz und gar nichts Episches. Gleichwohl ruht der Ausgang des ganzen Abenteuers genau darauf. Auch wenn der Diebstahl für Bilbo selbst kaum mehr als ein Akt gesunden Menschenverstandes ist, wird er von den Elben als große Geste interpretiert:

Der Elbenkönig sah Bilbo mit neuer Verwunderung an. »Bilbo Beutlin«, sagte er, »du bist würdiger, die Rüstung eines Elbenprinzen zu tragen, als manch einer, der stattlicher darin aussah.« (Hobbit, S. 356)

Bilbos Gewöhnlichkeit hat vor unseren Augen eine Metamorphose durchgemacht und sich in wahre Größe verwandelt. Genau das stellt auch Thorin fest, als er zum letzten Mal mit Bilbo spricht: »In dir steckt mehr Gutes, als du weißt, du Kind des freundlichen Westens. Ein bisschen Mut und ein bisschen Klugheit in gut abgewogener Mischung. Gäbe es solche nur mehr, die ein gutes Essen, einen Scherz und ein Lied höher achten als gehortetes Gold, so wäre die Welt glücklicher.« (Hobbit, S. 378)

Als Thorin stirbt, haben sich zwei bemerkenswerte Dinge ereignet: Bilbo hat sich mit der Welt der Legenden soweit versöhnt, dass er sich geehrt fühlt, bei Thorins gefährlichem Abenteuer dabei gewesen zu sein, und Thorin versteht, dass an der gewöhnlichen Welt mehr dran ist, als das legendäre Auge sieht. Durch die Abenteuer und die Interaktion zwischen Zwerg und Hobbit sind die Alltagswelt und die Welt der Legenden auf machtvolle Weise miteinander verzahnt worden, und es ist eine Bereicherung für beide.

BEGNADETE GÜTE, UNERWARTETE GRÖSSE

In seinem Buch Der Heros in tausend Gestalten schreibt Joseph Campbell, der Anfang einer Heldenreise könne »ein Versehen … der läppischste Zufall« sein, welcher »eine ungeahnte Welt [offenbart] und … den Menschen in ein Kräftespiel [verstrickt], dem sein Verständnis nicht gewachsen ist … Ein Versehen kann sich zum Schicksal entwickeln.« (Heros, S. 51)

Campbells Definition eines Versehens, das sich zum Schicksal entwickelt, hat scheinbar keinen Platz im Leben eines Jedermanns. Und doch ist es einer der Schlüsselaspekte von Bilbos Reise und wird durch ihn zu einer prägenden und grundlegenden Facette im Wesen der Tolkien’schen Hobbits.

Tolkien schrieb, Der Hobbit handele »von den Leistungen … geweihter Personen, die von einem Sendboten inspiriert und zu Zwecken angeleitet werden, die über ihre persönliche Erziehung und Erweiterung hinausreichen« (Briefe, S. 476).

Also ist Bilbo Beutlin, ungeachtet der Tatsache, dass er bis ins kleinste Detail einem gewöhnlichen Jedermann entspricht, vom Anfang bis zum Ende der Geschichte als ein geweihter Jedermann zu betrachten, als »ausgesuchter Dieb« (Hobbit, S. 36). Doch diese Weihe überschreitet den Horizont jener Welt, in der Bilbo für seine Reise auserwählt wurde: Der Erzähler des Hobbit weist uns darauf hin, dass »von einem Hobbit in den Liedern ja nicht einmal anspielungsweise die Rede« (Hobbit, S. 262). Bilbo ist also beides zugleich, auserwählt und nicht vorgesehen, weder in den überkommenen Weisheiten der gewöhnlichen Welt noch in denen der Welt der Legenden. Elrond drückt dies später in Der Herr der Ringe so aus: »Dies ist die Stunde des Auenlandvolkes, in der es sich aus seinen stillen Auen erhebt, um die Türme und Pläne der Mächtigen zu erschüttern. Wer von den Weisen hätte es vorauszusehen vermocht?« (Herr der Ringe, Bd. 1, 353)

Bilbos Gewöhnlichkeit hat eine Plattform zur Ausgestaltung der Rolle eines Begnadeten geboten. Die Gewöhnlichkeit ist es, welche unseren Jedermann zu einem völlig abwegigen Kandidaten macht; dies liegt jenseits der Weisheit der Weisen (vgl. 1. Korinther 1,19). Genau dieses Spannungsverhältnis zwischen Auserwähltsein und Nicht-Vorgesehensein, das sich in Bilbo zum ersten Mal manifestiert, verleiht den Hobbits ihren Feinschliff und macht sie zu einem Volk, welches geeignet ist, jene Leistungen zu erbringen, welche für all die heroischen Geschlechter um sie herum zu groß sind. Bilbos Begegnung mit Feuer und Schwert fungiert als Versuchsgelände für den unerwarteten, doch bereits angelegten, nur langsam zu entfachenden Funken Mut, den andere bemerkenswerte Hobbits zeigen werden, deren Verdienst einzig darin besteht, gewöhnlich zu sein. Hobbits verkörpern in Mittelerde das dezidiert antiheroische Element. In diesem Sinne bilden sie den ultimativen und gänzlich unvorhergesehenen Kanal für das unkonventionelle Heldentum des Jedermann. Das macht sie, um mit Tolkiens Worten zu sprechen, »zu rühmenswertere[n] Helden als die professionellen« (Briefe, S. 284).

Es ist diese rühmenswerte Kanalisierung unvorhergesehenen Heldentums, die buchstäbliche Entrücktheit der Hobbits, welche ihnen die Fähigkeit verleiht, die Welt der Legenden, durch die sie reisen, zu erlösen und mit sich selbst auszusöhnen. So werden sie zu Agenten der Eukatastrophe31, durch die ein flüchtiger Strahl des Evangeliums nach Mittelerde durchdringt. Hierin zeigt sich, dass die Art, wie Tolkien die Hobbits darstellt, zum Teil aus seinem christlichen Glauben herrührt, in welchem ein unkonventioneller Held, Christus, die Gestalt eines gewöhnlichen Menschen annimmt und auf eukatastrophische Weise die historische und die ewige Welt miteinander aussöhnt.

Zu behaupten, die Hobbits im Allgemeinen – und Bilbo im Besonderen – nähmen Christus vorweg, wäre allzu weit gegriffen. Und doch dient Bilbo einem Zweck, der über seine Rolle als Deuter und Vermittler der Geschichte hinausgeht. Mit seiner eukatastrophischen Reise hin zu Interpretation, Integration und Aussöhnung erinnert er uns immer wieder daran, den Funken in uns selbst zu suchen. In uns allen steckt ein Jedermann – und unsere ganz gewöhnlichen Leben können ebenso gut das Sprungbrett für unerwartetes Heldentum oder sogar eine vorherbestimmte Eukatastrophe abgeben wie das eines Hobbits. In diesem Sinne ist Bilbos Geschichte als Weckruf zu lesen, der uns wachrütteln und dazu bringen soll, beide, den typischen und den gewöhnlichen Jedermann, hinter uns zu lassen und im Summen des Topfes auf unserem Herd die Musik des Einsamen Berges zu hören.

LITERATURHINWEISE

Campbell, Joseph: Der Heros in tausend Gestalten. Aus dem Amerikanischen von Karl Koehne. Insel-Taschenbuch 4073. Insel Verlag, Berlin 2011

Carpenter, Humphrey (Hrsg.): J. R. R. Tolkien, Briefe. Hrsg. unter Mitwirkung von Christopher Tolkien. Aus dem Englischen von Wolfgang Krege. Klett-Cotta, Stuttgart 20023

Shakespeare, William: Was ihr wollt. Übersetzt von Christoph Martin Wieland. http://gutenberg-spiegel.de/buch/2166/12, Kap. 12

Tennyson, Hallam: Tennyson: A Memoir. London 1899

Tolkien, J. R. R.: Der Hobbit, Aus dem Englischen übersetzt von Wolfgang Krege. Klett-Cotta, Stuttgart, illustrierte Ausgabe 2009

Tolkien, J. R. R.: Der Herr der Ringe, Aus dem Englischen übersetzt von Wolfgang Krege. Klett-Cotta, Stuttgart 200210

WEITERE QUELLEN:

Adams, Douglas: The Hitchhiker’s Guide to the Galaxy: The Original Radio Scripts. Pan Books Ltd., London, 1985

Die Bibel. Einheitsübersetzung. Katholische Bibelanstalt, Stuttgart, 1980

The Oxford English Dictionary. Oxford University Press, Oxford, 2006

26 Aus »Holding Out for a Hero«; Text: Jim Steinman und Dean Pritchford, gesungen von Bonnie Tyler auf ihrem Album Secret Dreams and Forbidden Fire, Erstveröffentlichung 1986, Columbia Records. Anm. d. Übersetzerin: Dt.: »Ich brauche einen Helden. Ich warte auf einen Helden, bis die Nacht vorüber ist. Und stark muss er sein, und schnell muss er sein … und überlebensgroß.«

27 Anm. d. Übersetzerin: Vergil bezeichnet seinen Helden immer wieder mit dem Adjektiv »pius«. Damit ist die richtige Einstellung gegenüber den Göttern, der Familie, der Heimat und den Gesetzen gemeint.

28 Gladiator, Regie: Ridley Scott, Premiere: Mai 2000

29 Das Restaurant am Ende des Universums, Aus dem Engl. von Benjamin Schwarz, Ullstein. Frankfurt a. M., Berlin 199516, S. 173.

30 Nolo heroizari: »Ich will kein Held sein«; Nolo episcopari: »Ich will kein Hirte (Bischof) sein«. Anm. d. Übers.

31 Anm. d. Übers.: der unvorhergesehenen Wendung zum Guten