Der Apfel war grün. Rund und prall, und in seiner Gänze das Beispiel eines hervorragend gewachsenen Apfels, wie er sein sollte. Er lag auf der mit Kerben übersäten Tischplatte, und die Mittagssonne, die durch die bunten Fenster hereinfiel, ließ seine Schale glänzen wie die Glatze des alten Siegenot Fyrn an Sonntagen im Sommer.

Doch Sunniva Smōp hatte für die Vollkommenheit dieses Apfels keinen Sinn. Unwillig starrte sie darauf, als wäre ihr das Obst geradewegs auf den Kopf gefallen. Dabei lag er noch kein Dutzend Herzschläge zuvor in einer silbernen Schüssel am Rand der breiten Theke, gemeinsam mit anderen Äpfeln, ähnlich hervorragend wie er.

»Wenn du weiter so vor dich hinstarrst, denke ich noch, dass dir etwas fehlt, Kind«, murrte ihre Mutter, die Hände in die runden Hüften gestützt, während sie mit prüfendem Blick auf Sunniva herabsah. »Hast du keinen Appetit?«

Sunniva schüttelte den Kopf und bedachte den Apfel weiter mit finsteren Blicken, was den Apfel jedoch offenbar kalt ließ. Er begann weder zu schrumpfen noch rot zu werden.

Sunnivas Mutter verschränkte die Arme unter dem beachtlichen Busen, dem schon so mancher Gast des Goldenen Rahms verträumte Blicke zugeworfen hatte. Es schien ihr gänzlich undenkbar, dass ihre einzige Tochter nicht über die gleichen Eigenschaften verfügte wie alle Mitglieder der, wenn auch nicht übermäßig zahlreichen, so doch ehrbaren und fleißigen Familie Smōp.

»Aber du musst etwas essen«, stellte sie daher nachdrücklich und nicht ohne eine gewisse Besorgnis in der Stimme fest.

»Ich habe etwas gegessen.«

»Das ist bereits eine Stunde her!«

Jedes Kind wusste doch, dass ein Smōp stündlich etwas essen konnte. Vielleicht nicht gleich ein ganzes Huhn, aber wenigstens einen Pudding. Oder eben einen Apfel. Sah man einen Smōp mit leerem Mund, schien das ein ebenso schlechtes Omen wie eine Maus in der Speisekammer oder ein lauter Nieser während der Mittagsruhe. Kein Wunder also, dass Sunniva unter scharfer Beobachtung stand.

Um jedoch genau dieser mütterlichen Beobachtung zu entgehen, griff Sunniva nach dem Apfel, der kurz davorstand, Ursache eines Zanks zu werden, und steckte ihn in die linke Tasche ihrer Schürze, in der sich neben einem mehr oder weniger sauberen Taschentuch auch noch ein mumifiziertes Sperlingsbein befand, das sie an diesem Morgen neben der Höhle gefunden und aus nicht erfindlichen Gründen eingesteckt hatte. Was sie damit wollte, wusste niemand, nicht einmal sie selbst, aber es lag der Verdacht nahe, dass ihr merkwürdiges Verhalten in direktem Zusammenhang mit ihrer Appetitlosigkeit stand, und hätte ihre Mutter von dieser Angelegenheit gewusst, wäre ihre Besorgnis sicherlich noch weiter gestiegen. Schließlich war die Familie Smōp für vieles bekannt – und mumifizierte Sperlingsbeine zu sammeln gehörte nicht dazu.

Es drängte Sunniva danach, so schnell wie möglich die Gaststube zu verlassen, die ihre Eltern bereits seit so vielen Jahren in der Mitte des Dorfes mit überaus großem Erfolg und bescheidenem Stolz führten. Dabei war die knarzende Bank neben der Theke über eine lange Zeit ihr liebster Platz gewesen. Ganz nah bei der Küche, wo es immer so wunderbar nach all den köstlichen Speisen roch, die manchen Bewohner des Dorfes in der Mitte rund werden ließ und für die der Goldene Rahm bekannt war. Zwar nicht über die Grenzen des Dorfes hinaus, aber da die meisten Bewohner des Dorfes selbiges nur selten bis gar nicht verließen und es überdies auch nur die eine Schenke im Ort gab, bedeutete das beinahe die Welt.

Eines Tages jedoch war Sunniva nach einer unruhigen Nacht erwacht, und alles war plötzlich anders gewesen.

Auf einmal hatte ihr der Hintern auf der alten Bank wehgetan, und beim Geruch des Mittagstisches war ihr der Appetit vergangen. Selbst die süße Sahne, die dem Lokal ihren Namen verlieh und deren geheimes Rezept seit Generationen von der Familie Smōp eifersüchtig gehütet wurde (man munkelte, ein Handel mit einem Elfen sei der Grund, doch das war Unsinn, denn wie hätte ein Mitglied der Familie Smōp mit einem Elfen zusammentreffen können, wenn sie nie das Dorf verließen? Manchmal redeten die Leute einfach zu viel …), konnte den Hunger nicht zurückbringen, der all den kleinen Leuten, die diesen Landstrich bewohnten, und vor allem dieser Familie zu eigen war.

Die Türen zu den bis unter die Decke gefüllten Speisekammern in der Höhle, die Sunniva bisher ihr Heim genannt hatte, blieben verschlossen, und die Marmeladengläser im untersten Regal staubten ein.

Und das alles nur, weil Sunniva nicht aufhören konnte, an die alte Flüstereiche zu denken.

Die Flüstereiche stand tief in dem Wald, der sich hinter dem letzten Mohnfeld auf der linken Seite des Dorfes ausbreitete. Die Leute aus dem Dorf hatten von vielen Wäldern gehört, doch von keinem wie dem, der sich direkt vor ihren Nasen befand. Brach einer der Dörfler zu einer kleinen Wanderschaft in die Umgebung auf – nur nicht zu weit in die unbekannte Ferne –, wandte er sich stets auf die andere Seite, nach rechts, und folgte den schmalen Wiesenwegen östlich vorbei am großen See.

Es hieß, der Wald sei verflucht, aber das hieß es bekanntlich von vielen Wäldern, und in den wenigsten Fällen entsprach es der Wahrheit. Denn das Fluchen erforderte Genauigkeit, Ausdauer und ein gewisses Talent, mit anderen Worten, es war recht anstrengend und in den Gegenden um Sunnivas Dorf schätzten die Leute eher einen weniger aufreibenden Lebensstil. Es war einfach so, dass sich niemand die Mühe machte, etwas zu verfluchen. Noch dazu einen ganzen Wald! Man stelle sich vor

Was allerdings der Wahrheit entsprach, war die Tatsache, dass der Wald auf der linken Seite von Sunnivas Dorf undurchdringlich war. Nicht einmal Wölfe konnten in ihm umherstreifen, denn Geäst und Farne versperrten jedem Lebewesen, das höher und breiter als eine Maus wuchs, den Weg. Nun, vielleicht auch höher und breiter als eine Katze oder sogar als ein ganzes Schaf, aber auf jeden Fall schien das Reisen durch den Wald gänzlich unmöglich für ehrbare Leute, die es bevorzugten, nicht auf allen vieren zu kriechen.

Unter den Kronen der Bäume blieb es finster und kalt, und außer dem Knacken der Zweige drang kein Laut nach draußen. Weshalb die Flüstereiche Flüstereiche hieß, wussten daher nur noch die Alten im Dorf, die es tunlichst vermieden, darüber zu reden, denn dann hätten sie ja zugeben müssen, sich über den Wald Gedanken zu machen, und das war nun in der Tat ein Umstand, mit dem niemand in Verbindung gebracht werden wollte. Der Wald war eben da, basta, mehr musste man über ihn nicht wissen.

Doch Sunniva – die selbst für ihr nicht gerade für seine Körpergröße bekanntes Volk als eher klein galt – war es vor wenigen Wochen gelungen, wenigstens ein Stück weit in den Wald einzudringen, als ihre zahme Zitterechse Rotschwanz ausgebüchst und geradewegs in den Wald gerannt war, als Sunniva einen Moment nicht aufgepasst hatte.

Sunniva hatte sich gezwungen gesehen, der Echse nachzulaufen, schließlich konnte sie das Tier unmöglich im Wald allein lassen. Rotschwanz war nämlich keine sehr schlaue Echse, genau genommen war sie sogar eher dumm. Was man daran erkannte, dass sie seit Jahren immer wieder versuchte, ihrem behaglichen Heim in der Kiste unter Sunnivas Bett zu entkommen. Solch ein Tier würde ja keinen Tag in fremden Gefilden überleben, und Sunniva besaß nun einmal eine gewisse Verantwortung für sie.

Dass sie bereits vor diesem Vorfall beim Anblick des Waldes häufig eine gewisse Neugierde verspürt hatte, hätte sie allerdings genauso wenig zugegeben wie die Alten ihr Wissen um die Flüstereiche.

An jenem Nachmittag hatte sie jedenfalls den Fuß zum ersten Mal in den Wald gesetzt, so gut es eben ging. Und weit war sie ja auch nicht gekommen. Nicht bis in sein Herz, aber wenigstens an eine Stelle, an der vor ihr nur sehr wenige gewesen waren.

Kip, der Sohn des Schmieds, zum Beispiel.

Und auch Tiw Ticcen, der Verrückte mit dem roten Wams.

Er war nicht wirklich verrückt, nur übermäßig übermütig. Vor allem wenn der Mond seine volle Form angenommen hatte oder er vom Ale seines Vaters probiert hatte, das in großen Fässern in den Kammern tief unter der Erde darauf wartete, seine Abnehmer zu finden. Dann kam er auf die merkwürdigsten Ideen, die häufig damit endeten, dass seine Hose Löcher bekam, sein Wams Knöpfe verlor und seine Haare nicht selten angesengt wurden. Vögel suchten sich bei seinem Erscheinen meist einen anderen Brutplatz, Katzen machten einen Buckel, wenn sie ihn erblickten, und Mütter schoben ihre Kinder hinter sich. Denn man konnte nie wissen, was Tiw Ticcen als Nächstes einfiel.

Einmal hatte er in der Speisekammer den Zimttopf mit scharfem Hohlnusspulver gefüllt, was beim Abendessen zu jeder Menge Heiterkeit seinerseits und hochroten Köpfen bei allen anderen geführt hatte.

Mag sein, dass dies der Grund war, warum Sunnivas Mutter es nicht mochte, wenn Sunniva allzu viel Zeit mit Tiw Ticcen verbrachte. Vermutlich glaubte sie, ihre Tochter könnte sich mit dieser Verrücktheit irgendwie anstecken. Es waren zwar bisher keine Fälle bekannt geworden, bei denen sich eine Verrücktheit quasi sprunghaft auf einen anderen übertrug, aber konnte man so genau wissen, wie es sich mit diesem Geisteszustand verhielt? Man schien besser beraten, kein Risiko einzugehen, schließlich besaß man nur den einen Kopf!

»Wir sind ehrbare Leute«, pflegte sie dann zu sagen, als wäre der Besitz eines roten Wamses schon Grund genug, an der Ehrbarkeit eines Dorfbewohners zu zweifeln. »Ohne Fehl und Tadel«, setzte sie meistens hinzu, wenn sie der Meinung war, Sunniva die Sache mit der Ehre nicht genügend erklärt zu haben.

Inwieweit es sich andernorts mit oder ohne Ehre gut leben ließ, konnte Sunniva nicht sagen, in ihrem Dorf war der Verlust selbiger jedoch ein Unglück, das man nicht einmal den Nachbarn wünschte, die die unangenehme Angewohnheit besaßen, ihre Unterhosen genau an den Ast zu hängen, unter dem man ein gemütliches Picknick veranstalten wollte.

Am Abend traf man sich im Goldenen Rahm, dessen Messingschild so lustig im Wind schwang, und wenn die Rede auf einen Bewohner kam, von dem die Gemeinschaft annehmen musste, dass es Grund für eben jenen Fehl und Tadel gab, verzog man das Gesicht und etwas wie Kummer und Argwohn zeigte sich im Blick. Wollte man diesen Blick nicht auf sich spüren, tat man besser alles, um Gründe dafür zu vermeiden.

Daher waren Abenteuer jeglicher Art äußerst unbeliebt und Auffälligkeiten unerwünscht. Die meisten Bewohner dieses Landstrichs begnügten sich mit eben jener – zugegebenermaßen sehr reizvollen – Landschaft, dem obligatorischen Essen und der Pfeife zu allen Gelegenheiten. Das Leben schien ihnen gut und ausgefüllt, und den meisten stand ohnehin nicht der Sinn nach wagemutigen Unternehmungen. Dieser Umstand erklärte auch, warum sich nie jemand die Mühe gemacht hatte, in das Herz des Waldes vorzudringen, das sich quasi direkt vor ihren Nasen befand.

Bis jetzt jedenfalls.

Bis ausgerechnet Sunniva Smōp schlecht geträumt hatte und eines Tages mit dem unbändigen Wunsch aufgewacht war, weiter hineinzugehen in den Wald hinter den Mohnfeldern auf der linken Seite des Dorfes.

Hätte ihr Vater von diesem Wunsch gewusst, hätte er möglicherweise angemerkt, dass sie diese Idee sicher aufgrund einer schlecht gewordenen Fleischpastete bekommen hatte (er führte so einiges auf den Genuss ungenießbarer Speisen zurück; nicht selten auch die schlechte Laune seiner Frau), doch da er nichts von dem Wunsch wusste, konnte er sich auch nicht zu dem Thema äußern, worüber Sunniva nicht unglücklich war. Schließlich teilte ihr Vater die Meinung der Mutter, wenn es um Fehl und Tadel ging.

Als Sunniva schließlich vor dem Goldenen Rahm stand, blinzelte sie in die Sonne und rieb sich die kribbelnde Nase. Die Sonnenblumen neben dem Eingang wuchsen weit über das Dach der Höhle hinaus, und der wilde Wein rankte sich an den runden Fenstern vorbei über den Hügel und auch um die Beine der verwitterten Bank gleich unter dem linken Fenster.

Auf diese Bank hätte sich Sunniva setzen können, so wie sie es viele Male zuvor getan hatte.

Doch an diesem Tag tat sie etwas anderes.

Es würde noch ein paar Stunden dauern, bis die Sonne unterging und sie zurück sein musste, um im Goldenen Rahm mit den Gästen zu helfen, die nach dem Sonnenuntergang am zahlreichsten waren. Unwillkürlich suchte ihr Blick die dunkle Wand aus Baumriesen, die sich hinter dem Dorf erhob, und beinahe ohne es zu bemerken, bewegte sie sich darauf zu. Mit langsamen Schritten, immer weiter in Richtung Wald, als wäre sie ein Fisch, der von den Bäumen eingeholt wurde. Hinter sich hörte sie ihre Mutter etwas rufen, aber Sunniva reagierte schon nicht mehr darauf. Vor Aufregung rauschte ihr das Blut in den Ohren, wie es sonst nur beim Anblick einer Creme-Zimt-Rolle geschah.

Eine Hand um den Apfel in ihrer Schürze geschlungen, lief sie über den festgestampften Lehmweg, der an den anderen Höhleneingängen vorüberführte. Hin und wieder begegnete sie einem Dorfbewohner oder grüßte mit einem Nicken, wenn jemand auf der Bank vor seiner Tür saß. Doch mehr als ein paar Worte wechselte sie mit keinem. Stattdessen konzentrierte sie sich auf den Wald, der sich hinter dem Hügel erhob, in dem die letzte Höhle ihres Dorfes lag, und der die Gedanken in ihrem Kopf gefangen nahm. Immer näher und näher kam sie dem Wald.

Als sie endlich davorstand, konnte sie nur schwach erkennen, an welcher Stelle eine schmale Lücke war, an der jemand versucht hatte hineinzugelangen. Groß genug für eine davongelaufene Zitterechse, aber nur unzureichend für jemanden mit Sunnivas Statur.

Sollte sie wirklich noch einmal in den Wald gehen? Ihr Glück herausfordern, als wäre sie nicht ganz bei Verstand?

Weil sie nicht mehr gern auf der Bank neben der Theke saß und ihr Appetit sich nur noch alle zwei Stunden meldete?

Was würde passieren, wenn die Alten nun recht hatten und der Wald tatsächlich verflucht war? Möglicherweise mit einem Schusseligkeitszauber? Sollte sie riskieren, dass ihr ab dem nächsten Morgen jeder Krug aus der Hand fiel? Das war eher hinderlich in einer Gaststube. Vor allem, da die meisten Gäste mit Vorliebe Krüge bestellten.

Während sie noch grübelnd vor dem Wald stand, legte sich plötzlich eine Hand auf ihre Schulter, und erschrocken fuhr sie herum wie ihre Echse, der man auf den Schwanz tippte. Zum Glück verlor Sunniva dabei keine Gliedmaßen.

Vor ihr stand mit einem breiten Grinsen im Gesicht Tiw Ticcen, der Verrückte.

Sein rundes, freundliches Gesicht konnte nicht über den Schalk hinwegtäuschen, der ihm so deutlich im Nacken saß. Sein rotes Wams war fleckig von Beeren, und in seiner Hose befand sich schon wieder ein Loch, genau über dem linken Knie, mit dem er zweifellos vor den Büschen des alten Siegenot Fyrn gehockt hatte, um an jene Beeren zu kommen, deren Saft nun sein Wams verunstaltete.

»Was willst du hier?«, fragte er amüsiert, aber das hatte nichts zu sagen, denn er klang meistens amüsiert.

»Was willst du denn hier?«, erwiderte Sunniva gereizt, weil nun jemand gesehen hatte, wie sie vor dem Wald stand.

Er zuckte mit den Schultern. »Ich mache einen Spaziergang.«

»Im Wald?«

»In der Nähe des Waldes. Man müsste schon ziemlich verrückt sein, wenn man im Wald einen Spaziergang machen wollte, nicht wahr?« Er grinste noch breiter.

Wie ein Ticcen, hätte Sunniva beinahe geantwortet, aber das wäre seiner Familie gegenüber ungerecht gewesen, denn soweit man sich im Dorf erinnern konnte, war er der Erste seiner Familie, der in solchem Maße aus der Art schlug. Niemand konnte sich daran erinnern, seinen Vater je in einem roten Wams gesehen zu haben!

»Du hast doch hoffentlich nicht vor, was ich denke, das du vorhast?«, fragte er und deutete dabei auf den Wald, worauf sie sich genötigt fühlte zu antworten: »Sicher nicht.« Aber irgendwie klang es mehr nach einer Frage, als wäre sie sich selbst nicht sicher, was man sonst so noch auf dieser Seite des Dorfes tun sollte.

Bei längerem Überlegen wäre ihr vielleicht das Kastaniensammeln eingefallen oder das mumifizierte Sperlingsbein, das sie noch immer in der Schürzentasche trug – sie hätte ja behaupten können, dass sie einen geeigneten Platz für dessen Entsorgung suchte –, doch da sie nicht länger überlegte, zeigte sie stattdessen über seine Schulter nach hinten und setzte hinzu: »Warum gehst du also nicht dorthin, wo du hergekommen bist, und tust, was immer du um diese Stunde tun würdest? Ale trinken zum Beispiel.«

Einen Moment lang schaute er sie nachdenklich an, wobei so etwas Ähnliches wie ein ernster Ausdruck auf sein Gesicht trat, aber eben nur beinahe, dann entschied er: »Nein, ich denke, ich bleibe lieber bei dir.«

Das war allerdings keineswegs in Sunnivas Sinne, daher verwundert es auch nicht, dass sie wütend rief: »Aber ich will nicht, dass du bei mir bleibst!«

Nun muss man wissen, dass mit Tiws Verrücktheit auch eine gewisse Sturheit einherging, die den Umgang mit ihm nicht eben leichter machte. Vor allem nicht für Sunniva, die versuchte, ihn loszuwerden, ohne das halbe Dorf darauf aufmerksam zu machen.

»Du hast doch vor, in den Wald zu gehen, stimmt’s?«, begann er erneut, worauf Sunniva seufzte und die Schultern hängen ließ wie ein nasses Hemd auf der Leine.

Offenbar hatte es keinen Sinn, ihm etwas vorzumachen. Seine angebliche Verrücktheit schien sich nicht auf die Fähigkeit auszuwirken, eins und eins zusammenzuzählen und dabei auf das richtige Ergebnis zu kommen.

»Wirst du jemandem davon erzählen?«

»Warum sollte ich?«

Weil die anderen im Dorf auch nichts Besseres zu tun hätten, als einer Mutter von ihrer Tochter zu erzählen, die sich gerade in Fehl und Tadel erging. Das gab Gesprächsstoff für mindestens zwei Runden Krüge mit Ale im Goldenen Rahm.

»Ich werde mit dir kommen.«

»Wie bitte?«

»Wir gehen gemeinsam.«

»Warum?«

»Warum nicht?«

Da gab es eine Menge Gründe, die ihr einfielen, zum Beispiel, weil es eine schlechte Idee war und es ja wohl genügte, dass bereits einer von ihnen an diesem Tag darauf gekommen war. Warum sollte er sich zu seiner eigenen Verrücktheit auch noch ihre aufhalsen?

Doch als sie ihm in sein rundes, freundliches, wenn auch schalkhaftes Gesicht sah, erkannte sie darin eben auch jene Sturheit, mit der sie bereits zuvor Bekanntschaft gemacht hatte und gegen die es offenbar nur ein Mittel gab, und das war ein Schlag auf den Kopf – wie der alte Fyrn festgestellt hatte, als Tiw sich wieder einmal an seinen Vorräten vergangen hatte. Den Kopfverband hatte Tiw für ganze zwei Wochen getragen, als wäre er eine Auszeichnung, woran man sehr gut erkennen konnte, dass er die Welt ein bisschen anders sah als alle anderen.

Da Sunniva in den meisten Fällen jedoch davon absah, Leute auf den Kopf zu hauen (es sei denn, sie waren betrunken und wollten bei Lokalschluss nicht gehen), nahm sie auch in diesem Fall davon Abstand und stieß stattdessen zum wiederholten Male einen Seufzer aus, der denen, die ihrer Mutter über sie selbst entschlüpften, verdächtig ähnlich klang.

Nun, wo Tiw wusste, was sie vorhatte, machte es wohl auch keinen Unterschied mehr, wenn er sich ihr anschloss. So würde er sich wenigstens hüten, jemandem davon zu erzählen.

Und es war ja auch nicht so, dass sie an diesem Tag den ganzen Wald durchqueren wollte. Ihr Streben lag ja nur darin, zu der Flüstereiche zu gelangen, unter der sie ihre Zitterechse wieder eingefangen hatte – und ein Stück darüber hinaus.

Nur um einen Blick darauf zu werfen, was sich dahinter befand. Um zu wissen, ob es da noch mehr gab als nur Gestrüpp und grasgrüne Wucherungen.

»Nun gut, dann komm.« Sie warf einen letzten prüfenden Blick über die Schulter, aber auf dem Weg hinter ihnen war niemand zu sehen. Wäre es anders gewesen, hätte dieser verantwortungsbewusste Jemand die beiden Kindsköpfe sicher davon abgehalten, in den Wald zu gehen. Aber da das nicht der Fall war, tat Sunniva einen Schritt nach vorn und kletterte über den letzten herabgestürzten Ast, der das Dorf vom Wald trennte.

Dahinter wuchsen hohe Farne, deren Spitzen Sunniva in die Haut stachen wie die Nadel beim Strümpfestopfen, wenn sie den Fingerhut vergaß oder Rotschwanz ihn aus Versehen verschluckt hatte. Wie gesagt, die Echse war nicht das schlauste Tier diesseits der Mohnfelder (und jenseits vermutlich auch nicht).

Doch auch davon ließ sich Sunniva nicht abhalten. Dazu war die Neugier zu groß. Entschlossen bog sie die Sträucher zur Seite und drang tiefer in den Wald vor. Es war unnatürlich still, bis auf das Knacken der Zweige, das sie selbst verursachten. Immer weiter mussten sie sich nach unten bücken, bis sie tatsächlich beinahe auf allen vieren krochen.

Es dauerte keine hundert Herzschläge, und die Schürze hatte die ersten Risse bekommen. Wie sie das zu Hause erklären wollte, wusste Sunniva noch nicht, vielleicht würde sie einfach erklären, über ihre eigenen Füße gestolpert und gestürzt zu sein. Das wäre nicht das erste Mal und wenigstens nicht ganz so weit hergeholt.

Hinter sich hörte sie Tiw schnaufen. Für ihn war es sogar noch schwieriger voranzukommen, da er größer war als sie. Allerdings musste er sich keine Gedanken darüber machen, dass er seine Kleidung zerriss, die war ohnehin die meiste Zeit in tadeligem Zustand, und sein Vater hatte längst aufgegeben, ihn deshalb zur Räson zu rufen. Wenn die Leute ihn fragten, wie es seinen Kindern erging, sprach er stets lobend über seine Tochter und sagte über Tiw: »Nun ja …« Manchmal auch: »Was soll man machen …«

Nach einer Weile begann sich Sunniva zu fragen, warum sie keine Angst in dem angeblich verfluchten Wald verspürte. Es war zwar nicht so, dass die Leute ihres Volkes besonders große Angsthasen waren (dafür war Angst viel zu anstrengend, und die Leute liebten ja alles Unangestrengte), doch der Anblick eines Wolfes oder einer leeren Speisekammer konnte einen schon in Schrecken versetzen. Aber es hieß ja eben auch, dass es in diesem Wald keine Wölfe gab, von Speisekammern ganz zu schweigen, und das erklärte vielleicht auch Sunnivas mangelnde Furcht.

»Bist du sicher, dass es hier keine Wölfe gibt?«, fragte in diesem Augenblick jedoch Tiw in ihre Überlegungen hinein, als könnte er ihre Gedanken lesen wie das Mittagsmenü auf der Tafel vor dem Goldenen Rahm.

Sie warf ihm einen schrägen Blick über die Schulter zu, aber er war viel zu beschäftigt damit, Zweige aus seinen Haaren zu ziehen, als auf sie zu achten.

Woher sollte sie sicher sein, sie war ja noch nie hier gewesen? Alles, was sie kannte, waren die Geschichten der Leute aus dem Dorf und dann noch zwei, drei von durchgereisten Gästen. Und was Fremde erzählten, musste ja nicht immer stimmen, nicht wahr? Wer wusste also schon, was tief im Wald verborgen lebte und was niemand zuvor entdeckt hatte?

»Wenn du Angst hast, kannst du auch zurückgehen«, murmelte sie. Tiw schnaufte empört.

»Ich habe keine Angst.«

»Dann ist ja gut.«

Weiter ging der beschwerliche Marsch durch das Unterholz, und Sunniva war schon kurz davor, ihre Unternehmung abzubrechen und umzukehren, denn ihr Gesicht brannte inzwischen wie Feuer, als sie endlich die kleine Lichtung erreichten, eine Insel inmitten des Gestrüpps, auf der die alte Flüstereiche stand.

Der Stamm der Eiche war so breit wie zehn Tiws und die Krone so ausladend, dass ein Mann an einem Ende ihrer Zweige stehen konnte und ein anderer auf der anderen Seite, und wenn der Erste zum Zweiten etwas hinüberschrie, würde es bei dem Zweiten nur als Flüstern ankommen.

Doch das war nicht der Grund, warum die Eiche ihren Namen hatte.

Erschöpft setzten sie sich zwischen die Wurzeln, die durch die Erde gebrochen waren wie Obst durch eine Kuchenkruste.

»Bekommst du nicht langsam Hunger?«, fragte Tiw und schaute dabei sehnsüchtig in die Krone des Baumes, als würden dort auf einmal gebratene Entenflügel hängen. Ihm war offenbar nicht der Appetit vergangen, weder draußen vor dem Wald noch drinnen, und zugegebenermaßen war es schon eine ganze Weile her, dass er etwas gegessen hatte.

Mit einem Entenflügel konnte Sunniva zwar nicht dienen, aber sie erinnerte sich an den Zankapfel in ihrer Tasche und holte ihn heraus. Dabei fiel auch das mumifizierte Sperlingsbein heraus und Tiw jauchzte erfreut auf.

»Das hab ich schon vermisst«, rief er und zog es zu sich herüber.

»Das ist deins?«, fragte sie überrascht, obwohl sie gar nicht so überrascht sein sollte, denn wem sollte man schon zutrauen, ein Sperlingsbein zu besitzen, wenn nicht Tiw, dem Verrückten? »Was machst du damit?«

»Es bringt mir Glück.«

»Nein, tut es nicht. Krähenfedern bringen Glück und Froschschenkel fördern die Gesundheit, aber Sperlingsbeine machen gar nichts.«

»Das werde ich ja herausfinden«, erwiderte er eigensinnig und steckte das Bein in die Tasche seines Wamses. Dann klopfte er mit der flachen Hand dreimal darauf, und Sunniva schüttelte dreimal den Kopf über so viel Eigensinn.

Mit einem kurzen Dreh hatte sie den Apfel in zwei Hälften gebrochen, eine davon reichte sie Tiw. Er musste so großen Hunger haben, dass er nicht weiter mit ihr über Glück und Unglück von Vogelgliedmaßen sprach, sondern stattdessen mit zwei Bissen und ein bisschen Gesabber seine Apfelhälfte verschlang. Es war kein sehr schöner Anblick.

»Man sagt, es verschwinden Leute in diesem Wald«, sagte er, nachdem er fertig war und seinen Mund mit dem Hemdsärmel abgewischt hatte (was ebenfalls kein sehr schöner Anblick war).

»Wer soll denn da verschwinden, geht doch niemand rein.«

»Was ist, wenn wir auf einen Drachen treffen?«

»In dieser Gegend gibt es keine Drachen. Außerdem sind die immer hungrig, und hier gibt es ja nichts für sie zu fressen.«

»Doch, uns.«

Misstrauisch betrachtete Sunniva die Lichtung, die genauso aussah, wie sie sie in Erinnerung hatte. »Ich glaube nicht, dass irgendein Drache jahrelang darauf wartet, bis ausgerechnet wir beschließen, in den Wald zu gehen.«

Tiw zuckte mit den Schultern, der Einwand hatte ihn offenbar überzeugt, denn er klopfte gegen den Stamm der Flüstereiche und sagte: »Weißt du, warum sie Flüstereiche genannt wird?«

Sunniva schüttelte den Kopf.

»Die Alten behaupten, man kann die Taten, die man bereut, in die Astlöcher des Baumes flüstern, dann werden sie aus den Erinnerungen der anderen getilgt.«

»Wann behaupten die Alten so etwas?«

»Wenn sie vom Ale getrunken haben. Manchmal auch im Schlaf.«

Und manchmal im Schlaf, der durchs Ale kam, dachte Sunniva, bevor sie darüber nachdachte, was er noch gesagt hatte.

Das war ungeheuerlich! Wer hätte je davon gehört, dass solcherlei Dinge möglich waren? Würde das der Wahrheit entsprechen, müsste sie sich endlich keine Gedanken mehr über Fehl und Tadel machen, denn sie würde einfach dafür sorgen, dass sich niemand mehr daran erinnerte.

Sie linste nach oben, aber es war kein Loch in der Flüstereiche zu sehen, daher konnte sie auch nichts flüstern. Probiert hätte sie es gern. Begonnen mit ihrem Ausflug in den Wald.

»Aber warum geht dann niemand hierher?«, wollte sie wissen.

»Weil niemand etwas zu flüstern hat«, antwortete Tiw beinahe bedauernd. »Wer den ganzen Tag auf der Bank sitzt, hat am Abend nichts zu bereuen«, zitierte er das berühmte Sprichwort der Gegend.

Nach diesem Satz war es eine Weile still, bis Sunniva erneut der Hintern wehtat, wie auf der Bank vor ihrer Höhle, und sie aufstand. Niemand (von den wenigen, die sich hierher gewagt hatten) war je weiter hineingegangen in den Wald. An dieser Stelle waren sie alle umgekehrt. Meistens weil sie pünktlich zum Abendessen wieder daheim sein wollten. Manchmal auch nur, weil die Blasen an ihren Füßen und die Striemen in ihren Gesichtern unerträglich geworden waren.

Doch Sunniva wollte weiter. Sie wollte dahin gehen, wo vor ihr noch niemand gewesen war.

Was Tiw wollte, wusste niemand so recht zu sagen, er selbst am allerwenigsten, aber er würde auch nicht vor Sunniva ins Dorf zurückkehren wollen, schließlich haben auch Verrückte so ihren Stolz, daher folgte er ihr einfach – ein bisschen wie Sunnivas Zitterechse Rotschwanz, wenn sie darauf hoffte, Reste aus der Speisekammer zu ergattern.

Dieser Teil des Waldes unterschied sich nicht sehr von dem davor. Möglicherweise war er aber noch ein bisschen dunkler, noch ein bisschen stiller und noch ein bisschen undurchdringlicher. Es erklärte wahrlich gut, warum die meisten Leute vorher umgekehrt waren, doch nun hatte Sunniva so etwas wie Ehrgeiz gepackt, ganz ähnlich wie damals, als sie am Creme-Zimt-Rollen-Wettbewerb teilgenommen hatte.

Drei ganze Tage lang war ihr danach schlecht gewesen, sogar geträumt hatte sie von dem Gebäck, aber immerhin war sie Zweite geworden, noch vor ihrem eigenen Vater, was zu einigen Spannungen am Frühstückstisch geführt hatte.

Doch nach einer weiteren anstrengenden Zeitspanne, in der sie nichts anderes gesehen hatten als Gestrüpp, Gras und Blattwerk, stand Sunniva kurz davor aufzugeben. Sie musste wohl einsehen, dass es in diesem Wald tatsächlich nichts anderes gab als Stechen, Brennen und Knöchelverstauchen.

Unter den schweren Ästen wartete eben kein Abenteuer, sondern nur Unannehmlichkeit.

Gerade wollte sie den Mund öffnen, um Tiw zu sagen, dass ihre ungewöhnliche Abenteuerlust befriedigt war, als sich vor ihr erneut eine Lichtung auftat. Noch größer als die erste und über und über mit Pilzen besät.

Und in der Mitte stand ein Brunnen.

Wer mochte den Brunnen gebaut haben, wenn niemand in dem Wald lebte? Es war ein reichlich merkwürdiger Anblick. Ein Drache würde es schließlich kaum gewesen sein, Drachen hatten selten Verwendung für Brunnen, ebenso wenig wie für Schuhe oder Kämme. Zwerge? Aber dafür war der Brunnen zu klein. Und Elfen hatte dieser Wald schon seit Jahrhunderten nicht mehr gesehen, deren Haut war nämlich noch empfindlicher als Sunnivas.

Vorsichtig traten sie an den Brunnen heran, staunend und gespannt. Er war alt, mit einem Rand, aus dem an mehreren Stellen Steine gebrochen waren, und das Moos hatte so gut wie jeden Flecken mit einer dünnen Schicht überzogen. In den Sockel waren Blumenranken gehauen worden, die an die Stickereien der alten Frauen erinnerten, die das Handwerk noch von ihren Großmüttern gelernt hatten, die es wiederum von ihren Großmüttern gelernt hatten, wenn nicht gar von den Urgroßmüttern!

Auf einmal verspürte Sunniva einen solchen Durst, als hätte sie das scharfe Spanferkel ihrer Mutter gegessen (eine Freude, von der man immer noch am nächsten Tag etwas hatte). Doch als sie sich über den Rand beugte, sah sie nicht das klare Wasser einer unterirdischen Quelle, sondern eine trübe Oberfläche, und ein süßlicher Geruch stieg ihr in die Nase. Trotzdem streckte sie die Hand danach aus (offenbar kannte sie keine Geschichten über Wesen, die unter trüben Oberflächen lebten), und tauchte die Finger unter.

Und ihre Welt stellte sich auf den Kopf.

Nicht wirklich, das wäre schließlich äußerst unangenehm gewesen. Aber sprichwörtlich. Denn auf einmal sah sie Bilder, verzerrt von den Wellen, die ihre Finger verursachten, aber dennoch als solche zu erkennen. Neben sich hörte sie Tiw erschrocken einatmen.

Keiner von beiden hatte je so etwas gesehen.

»Was ist das?«

»Ich glaube …«

»Das ist doch …«

Ihr Dorf.

Ehrfürchtig betrachteten sie die Bilder, die wie durch Zauberhand einen bunten Reigen bildeten. Es waren Leute, die sie kannten. Doch es war auch, als sähe Sunniva diese Leute zum ersten Mal. Denn sie taten Dinge, von denen sie nichts wusste, von denen Sunniva nicht einmal geahnt hätte, dass die anderen daran Gefallen fanden

In diesem Augenblick verstand sie auf einmal, dass dies das Herz des Waldes war – diese Lichtung, noch weiter vom Dorf entfernt als die Flüstereiche. Und wenn die Eiche wirklich den Fehl der Leute vergessen machte, so war dieser Brunnen das Sammelbecken ihrer Tadel.

Sunniva sah, wovon der dicke Lebuin träumte, und es waren nicht die Obstkuchen seiner Frau. Sie sah, welche Begehrlichkeiten der Anblick des Zwergengoldes in Finian Snuppe weckte. Und was Ermintrude Igel kalt ließ, obwohl sie immer behauptete, die Lieder ihrer Nichten erleuchteten die Dunkelheit.

Und dass der Alte am Rand des Dorfes von Abenteuern träumte, die er in seiner Jugend erlebt hatte und von denen er nie jemandem erzählt hatte (nicht einmal seinem Neffen), die er tief in sich vergraben hatte und wie einen Schatz hütete.

Der Wald kannte die Geheimnisse der kleinen Leute um ihn herum. Jeden Fehl und jeden Tadel, gut verborgen unter Geäst und Blattwerk.

Über den Rand des Brunnens hinweg sahen sich Sunniva, die Appetitlose, und Tiw, der Verrückte, an und verspürten zum ersten Mal etwas, von dem sie bisher nichts gewusst hatten, da sie es nie verspürt hatten.

Freiheit.

Überrascht lachte Sunniva auf. Sie hatte nie bemerkt, dass es das war, was sie suchte. Was sie eines Tages unruhig erwachen ließ und was sie fortgetrieben hatte, hinein in den angeblich verfluchten Wald mit all seinem Gestrüpp und seinen beschwerlichen Wegen.

Es war nicht so, dass die anderen in ihrem Dorf ohne Fehl und Tadel waren, sie wussten nur besser, es zu verstecken.

Trotz der Erschöpfung, die Sunniva bis in die kleinen Zehen spürte, fiel ihr der Rückweg leicht. Die Kratzer machten ihr kaum noch etwas aus, und auch Tiw murrte nur halb so oft wie zuvor.

Ihre Mutter würde sicher toben, weil sie zu spät zum Abendessen kam und die ersten Gäste sich über die langsame Bedienung beschwerten, aber das machte ihr nichts aus. Sie würde in die Gesichter der Gäste sehen und ganz genau wissen, dass sie nicht frei von Fehl und Tadel waren, und wenn jemand die Nase rümpfte, würde sie einfach darüber lachen.