Dr. Christopher Bennett von der historischen Fakultät der Universität Oxford ist ein gefragter Mann. Immer wieder suchen ihn Schatzsucher auf, um eine Einschätzung für einen Fund zu erlangen, den sie auf einem Acker, im Flusssand oder bei einer alten Kirche gemacht haben. Den Boden mit Metalldetektoren abzusuchen ist ein beliebtes Hobby in England. »Tandsammler« nennt Bennett die Hobbyarchäologen.

Meist stellen sich die von ihnen vermuteten Relikte aus der Tudorzeit, der Ära der Angelsachsen oder der Römer als Schnallen, Nägel oder Pflugreste heraus, die nicht älter als 200 Jahre sind. Hin und wieder ist es das Schrapnell einer Fliegerbombe, das dem Kampfmittelräumdienst einen arbeitsreichen Tag einbringt.

Im Jahr 2009 aber erreicht den Dozenten für Frühgeschichte und historische Bodenkunde ein Stück, das seine Aufmerksamkeit erregt. Ein Schüler hat in Warwickshire einen Zinnkrug mit Gravuren von Ähren und untersetzten Bier trinkenden Bauern gefunden. Bennett will das angelaufene und gesprungene Stück bereits in die Kiste mit Rücksendungen legen, denen seine Sekretärin einen stets gleich lautenden negativen Bescheid beifügt. Doch drei Dinge lassen ihn stutzen:

Zum Ersten ist ihm der Stil der Gravuren unbekannt. Das ist kein edwardianischer Barock oder viktorianischer Kitsch, aber er hat auch wenig Ähnlichkeit mit älteren Kunstformen. Zum Zweiten ist das Motiv ungewöhnlich: Die Bauern erscheinen zwergenhaft klein. Sie sind bartlos, haben aber dichtes Lockenhaar. Sie tragen Knopfwesten und sind barfuß. Und zum Dritten ist der Bierkrug zu klein. Er fasst gerade mal 0,3 Liter. Vorgeschrieben war in England aber durch Edikt des Königs, festgehalten in der Magna Charta von 1215, dass ein Bierkrug stets ein Pint (0,57 Liter) groß zu sein habe. Hohlmaße mit Gesetzescharakter. Wirten, die ihre Gäste mit zu kleinen Krügen übers Ohr hauen wollten, drohten Stockhiebe. Wer einen Krug herstellte, hielt sich an die gängigen Hohlmaße. Üblicherweise lohnte es sich nicht, für Sonderanfertigungen eigene Muster und Rohlinge anzufertigen.

Bennett nimmt selbst den Metalldetektor in die Hand und fährt zum Fundort des Kruges. Der liegt beim Dorf Binton, nicht weit entfernt vom Fluss Avon und Stratford-upon-Avon, dem Geburtsort Shakespeares. Bauer Wilmot, dem das Land gehört, hat nichts gegen Schatzsucher. »Nur zu, ich hab da mal einen Schraubenschlüssel verloren. Vielleicht finden Sie den ja.«

Die Fragen, die der Krug aufwirft, elektrisieren Bennett. Ob Sturm, Nebel oder englischer Regen, der Historiker zieht die Kapuze tiefer ins Gesicht und sucht die Hügel akribisch ab. Was er findet, wirft noch mehr Fragen auf.

Im Juli 2012 lädt Christopher Bennett National Geographic ein, ihn auf seiner Arbeitsstätte zu besuchen. »Die Archäologie steht vor einer Wende«, sagt er schlicht, aber bewegt. Ich packe die Ausrüstung ein, nehme meinen Fotografen mit und fahre los.

Warwickshire ist ein Landstrich voller Frieden und Ruhe und mit gut bestelltem Boden. Baumreihen säumen grüne Hügel, Feldsteinmauern trennen Äcker und Weiden, auf denen Rinder und Schafe grasen. Der Avon glitzert träge in der Sommersonne. Binton ist ein verschlafenes Dorf. Kletterrosen blühen an den Steinhäusern und geduckten Cottages. Als wir unsere Fotoausrüstung auspacken, erregen wir Interesse. Sonderbares Volk sind wir, aus Birmingham, vielleicht sogar aus London oder wer weiß woher.

Mitten in der gelb-grünen Landschaft, an einem abgelegenen Hang und eine halbe Stunde Fußmarsch vom Dorf hat Dr. Bennett Planen ausgebreitet und den Boden ausgehoben. Weiße Hände sieben den Kalksand. Mauerfragmente und Holzstücke werden von seinen Mitarbeitern sorgsam katalogisiert und mit roten Etiketten versehen.

»Das ist es«, sagt Bennett zur Begrüßung. »Ihr steht bereits mitten auf der Veranda. Dort führte die runde Haustür in die Erdwohnung. Wir haben Reste des Messingknaufs gefunden. Sie liebten diese Erdwohnungen. Die Gänge verliefen parallel zum Hang durch den Hügel, die besseren Zimmer hatten Licht. Bevorzugt waren die Südhänge, da wärmte die Sonne den Bau.«

Sie, das ist der Grund, aus dem Bennett seit drei Jahren diese Ausgrabung leitet. In der St. Peter’s Church von Binton erinnern Fensterbilder an den Polarforscher Robert Falcon Scott (18681912), einen Mann voller Forschergeist, einen besessenen Entdecker, der als Erster am Nord- und Südpol sein wollte und letztlich in den Tod ging.

Forschergeist blitzt in Bennetts Augen auf. »In den Jahrhunderten sind die Räume des Smials eingestürzt, aber sie lassen sich noch anhand des losen Erdreichs von den Bodenschichten der Umgebung unterscheiden. Das hier war die Eingangshalle, links vom langen Gang gingen der Salon, das Esszimmer und das Wohnzimmer ab. Der Bewohner war wohlhabend. Die Durchgänge waren etwa einen Meter breit, die Deckenhöhe betrug einen Meter siebzig. Für sie eine komfortable Größe. Ich bin überzeugt, wir stehen in einem Smial, einer Erdhöhle der Hobbits.«

Hobbits oder Halblinge, das sind menschenähnliche, aber gerade mal einen Meter große Wesen aus Tolkiens Fantasy-Roman Der Herr der Ringe. Ein Hobbit ist flink, gutmütig, ohne großen Ehrgeiz, ein Krieger oder ein Weiser zu werden. Ein feines Gehör hat er und scharfe Augen, er lacht und trinkt gern, raucht gemütlich Pfeifenkraut und isst, wenn möglich, sechsmal am Tag. Kein Wunder, dass er schnell behaglich um den Bauch herum wird. Der Hobbit lebt im beschaulichen Auenland, liebt den Frieden und mag keine Maschinen, die komplizierter sind als ein Schmiede-Blasebalg. Schuhe braucht er nicht – seine Füße sind dicht behaart, die Sohlen lederartig und fest.

Auf meinem Gesicht spiegelt sich Unglauben. Diesen Wesen aus der Literatur spürt Bennett, ernsthafter Historiker, nach? Der Halbling als Gegenstand der Kryptozoologie wie Nessie, Bigfoot, der Yeti?

»Ich bevorzuge, von Kryptoarchäologie zu sprechen«, lacht Bennett. »Wenn ich schon meine Karriere und Reputation aufs Spiel setze, will ich wenigstens bestimmen, wofür.«

Bei diesen Worten liegt keine Unsicherheit in seiner Stimme. Er wird für seine Theorie kämpfen. »Es ist nicht ungewöhnlich, dass wir historische Orte oder Völker erst aus Erzählungen kennen, ehe ihre Existenz mit wissenschaftlichen Methoden bewiesen wird. Schliemann wandelte auf Homers Spuren, Vers für Vers, als er Troja fand. Knossos war über Jahrtausende durch Legenden bekannt, ehe man es ausgrub. Skythen und Pygmäen erschienen zuerst in Schriften antiker Autoren, ehe moderne Entdecker auf sie stießen. Wenn mich die Archäologie etwas gelehrt hat, dann dies: Die nächste Überraschung liegt gleich hier unter deinen Füßen.«

Bennett sieht die Funde von Smials in Warwickshire als Stein in einem Mosaik von Beweisen, die auf eine tatsächliche Existenz der Halblinge hinweisen. Sie gingen auf leisen Füßen durch die Weltgeschichte, aber ihre Abdrücke sind noch zu finden, wenn man die Augen offen hält.

Die Spur führt zurück bis zur menschlichen Vorgeschichte in der Altsteinzeit, als Faustkeil und Knochenflöten die höchsten Errungenschaften der Zivilisation waren. 2003 entdeckte man auf der indonesischen Insel Flores die Überreste eines nur einen Meter großen, menschenähnlichen Wesens. Er ging aufrecht, hatte eine etwas untersetzte Figur, war aber ansonsten dem Homo sapiens nicht unähnlich. Das Skelett war 18 000 Jahre alt. Die Wissenschaftler sprachen vom Homo floresiensis, dem Flores-Menschen. Die Medien gaben dem Fund den Spitznamen »Hobbit« und ahnten nicht, wie nahe sie an der Wahrheit waren.

Die urzeitlichen Hobbits durchstreiften Urwälder und bewohnten geschützte Höhlen. Der Dschungel versorgte sie mit Früchten, Gewürzen und der Grundlage für geistigen Genuss: Steinschalen des Homo floresiensis enthalten Spuren von Vergorenem. Die Kultur der Hobbits auf der Insel soll vor 12 000 Jahren durch einen Vulkanausbruch untergegangen sein. »Wahrscheinlich hat es Frodo in Wirklichkeit nicht geschafft mit dem Ring«, zwinkert Bennett.

Aber gingen sie wirklich unter? Noch in heutiger Zeit berichten Einheimische auf Flores von den Ebu Gogo, die ihre Urgroßväter noch gesehen hätten: Menschen von der Größe von Kindern, die viele Haare hatten, insbesondere auf den Füßen, nicht aber im Gesicht. Sie waren den anderen Indonesiern gegenüber abweisend, versteckten sich oft, ließen sich aber mit gutem Essen anlocken. Kurz vor dem Eintreffen der Europäer auf den Inseln sei der Ebu Gogo endgültig verschwunden.

Flores ist kein Einzelfall. Der Geograf William Marsden beschrieb 1783 »kleine Menschen« in Indonesien, die er als Orang Gogoo bezeichnete. Auf Sumatra sucht man nach den nicht viel größeren Orang Pendek, bei denen Beobachter buschige Augenbrauen erwähnenswert fanden.

Es ist noch verborgen, wie weit die Hobbits verbreitet waren und auf welchen Wanderrouten sie andere Erdteile erreichten. Bennett bevorzugt die These, dass sie gemächlicher voranschritten als die Vorfahren des modernen Menschen, die sich bald den Erdkreis untertan machten.

Man muss 1000 Kilometer Wüste durchqueren und 1000 Meter hoch über scharfe Grate und Felsen klettern, um die Felszeichnungen des Tadrat Acacus in der Sahara zu erreichen. Auf den 8000 Jahre alten Petroglyphen stellen sich Menschen als Zentrum der Schöpfung dar, umgeben von Büffeln, Antilopen, Wildeseln – und anderen, kleineren Menschen. Die Hobbits scheinen Obst oder Krüge in den Händen zu halten. Zu dieser Zeit war die Sahara eine regengrüne Savannenlandschaft und angenehm auszuhalten, während sich in Europa gerade die Eiszeit zurückzog.

Im Alten Ägypten kamen zur Zeit des Pharaos Pepi II. (23. Jahrhundert v. Chr.) »Zwerge des Gottestanzes« nach Memphis und waren wegen ihrer fröhlichen Musik und Tänze beliebt. Die Hobbits schätzten die reiche Tafel am Nil und wurden auch Juweliere und Zimmerleute. Ihre geringe Körpergröße ermöglichte ihnen, Geheimgänge und Fallen anzulegen, die sich der Pharao für sein Grabmal wünschte. Nach dem Tod Pepis brachen im Alten Reich kriegerische Zeiten an und die Hobbits zogen sich vom Nil zurück.

Der griechische Geschichtsschreiber und Völkerkundler Herodot (5. Jahrhundert v. Chr.) berichtet in seinen Erkundungen davon, dass fünf junge Abenteurer die Sahara von Libyen aus durchquerten und in die Gefangenschaft kleiner Menschen gerieten, die an einem großen Fluss lebten. Herodot kannte den Pygmäenmythos, bezeichnete die hier genannten Menschen aber nicht als Pygmäen. Es handelte sich also um ein anderes kleinwüchsiges Volk. Die Abenteurer sollen die Freiheit erlangt haben, nachdem sie das Rezept von Feigenkäse, einer altgriechischen Spezialität, aufgeschrieben hatten.

Wie lange Hobbits schon auf den britischen Inseln heimisch waren, bleibt im Dunkeln. Auffällig ist die hohe Anzahl an »little people« im Märchen- und Sagenschatz Britanniens. Da sind die irischen Leprechauns, die cornischen Pixies, die Süßigkeiten liebenden Brownies. Mal sind sie den Menschen wohlgesonnen, mal machen sie nur Scherereien, aber alle können schnell verschwinden und sind schwer zu fangen.

Bennett glaubt in vielen Berichten ein Muster hobbitscher Verhaltensweisen zu erkennen, das auch Tolkien beschrieb: »Die Hobbits lassen sich gerne dort nieder, wo das Bestellen der Felder wenig Mühe macht und wo das Land blüht. Aber sie möchten nicht in die Angelegenheiten der großen Leute verwickelt werden. Wenn es zu kompliziert wird, wenn Krieg an ihre Erdhöhlen rückt, dann verstecken sie sich – oder ziehen weiter. Die Hobbits haben gute Sinne und ein natürliches Talent, sich zu verbergen. Wir sind im Gegensatz zu ihnen nur trampelnde Elefanten.«

An dem Smial lassen sich die Fähigkeiten der Hobbits zur Tarnung ganzer Dörfer zeigen. Das Dach der Hügelhäuser war Erdreich und Gras. Der gemauerte Schornstein ragte nur ein paar Handbreit über die Grasnarbe und ließ sich leicht verstecken. Türen, Fenster und angelegte Gärten existierten immer nur zu einer Hangseite und ließen sich mit geschickt gepflanzten Sträuchern verbergen. Beliebt sind Brombeerhecken, die Neugierige abhalten. Aus einiger Entfernung sah ein Hobbithügel so nicht anders aus als jede andere Erhebung. Und falls ein unwillkommener Wanderer mal auf die Rauchfahne aus der Hobbitküche aufmerksam wurde, fand er auf dem Dach des Hügelbaus ein dort drapiertes, altes Lagerfeuer. So scheint es, als ob er nur die Spur eines anderen Wanderers entdeckt hatte, der längst weitergezogen war.

»Hinzu kommt, dass diese Siedlung der Hobbits abseits menschlicher Routen und Handelswege liegt«, erläutert Bennett. »Es gab guten Boden, einen Bach in wenigen hundert Metern Entfernung und man konnte mit den Menschen in Binton Handel treiben, das spätestens seit angelsächsischer Zeit existierte. Aber die Hobbits hatten ihre Ruhe.«

Die Halblinge nahe Binton schafften es sogar, mit einem Eintrag in das 1086 geschaffene Domesday Book zu kommen, dem wahrscheinlich ausführlichsten Register über Landbesitz im Mittelalter. Wilhelm der Eroberer ließ es anfertigen, um seine junge Herrschaft über England zu festigen. Für Binton wurden vier Landbesitzer angegeben: Wiliam, Hugh, Gerin und Urso, die zusammen ein Vermögen von 8 Pfund, 10 Schilling besaßen, umgerechnet sechs Quadratkilometer. In Binton lebten 29 Familien mit 150 Personen. Für ein mittelalterliches Dorf der normannischen Ära unerhört groß. Wenn man aber annimmt, dass hier zwei Dörfer nebeneinander existierten, werden die Zahlen plausibel. »Gerin und Urso«, sagt Bennett »sind typischen Hobbitnamen recht ähnlich.«

Was Bennett in Warwickshire mühsam freilegt, liegt in Deutschland offen an der Erdkante. Zwergenhöhle nennt man die Reste eines Smials beim oberbergischen Lindlar. Die kleinwüchsigen Bewohner sollen gute Nachbarschaft mit den Menschen gepflegt haben. Als diese aber einen geliehenen Kupferkessel ungereinigt und ohne die zuvor vereinbarte Weißbrotspende zurückgaben, kam es zum Streit. Ein Wort gab das andere. Die vermuteten Hobbits verließen irgendwann den ungastlichen Ort.

Am Südrand des von Märchen umwobenen Harzes bei Bad Sachsa gibt es sogenannte Zwergenlöcher zuhauf: Die Hobbits setzten hier ihre Smials in natürliche Hohlräume, die durch Gipsausdehnung unter Kalksteindecken entstanden. Die größte dieser Wohnhöhlen ist zwei Meter hoch und bis zu zehn Meter lang. Vermutlich lud Kaiser Heinrich IV. (10501106) die Halblinge ebenso wie viele Franken als treue Verbündete oder Untertanen ein, sich hier anzusiedeln, um so seine Herrschaft über die renitenten Sachsen auszubauen. Wie ein Dorf gruppieren sich die Hobbithöhlen um den Sachsenstein, auf dem der salische Kaiser eine Zwingburg errichten ließ. Der Wehrbau versperrte ein enges Tal, durch das ein Bach floss. Die Halblinge arbeiteten vielleicht auf den Feldern, als Korbmacher, Müller oder Tischler. Oder Heinrich IV. machte sich ihre besonderen Fertigkeiten zunutze, die seine Ritter nicht mitbrachten: Er entsandte sie als Spione gegen die Sachsen, geschwinde Schatten in der Nacht, die selbst kleinste Schlupfwinkel als Versteck nutzen konnten.

Die Sachsen ließen sich von der Aufrüstung des Kaisers dennoch nicht beeindrucken und zogen in den Krieg. Burg Sachsenstein verfiel und auch die Hobbits verschwanden bald wieder. Die Zisterzienser, die 1127 im nahen Walkenried ein Kloster gründeten und Land und Betriebe vom Kaiser übernahmen, beschwerten sich über die geringe Größe einer Mühle, dass man allenfalls gebeugt drin stehen könnte. Und Spaten, Sensen und Stichel, die man ihnen versprochen hatte, waren für kaum mehr als Kinderhände geeignet.

Eine archäologische Untersuchung der Zwergenhöhlen steht noch aus. Womöglich waren es auch Hobbits, die in Bayern und Österreich die Erdställe hinterließen: verzweigte Gänge und Wohnhöhlen unter der Erde, die für Menschen reichlich beengt sind. Forscher grübeln darüber, ob sie einst im Mittelalter als Kulthöhlen oder als Verstecke vor Räubern gedient haben mögen. Legt man Hobbitmaßstäbe an, kann man sie leicht als Wohnräume erklären.

Indizien ziehen sich auch auf dem Festland durch die Sagen und Märchen. In Brandenburg kennt man die kleinwüchsigen Lutken, die in alter Zeit in Wohnhügeln lebten und freundschaftlich mit den Menschen verkehrten. In der Oberlausitz und in Böhmen nennt man sie Querxe. Sie liebten Gebackenes und konnten so schnell vor den Blicken Neugieriger verschwinden, dass man ihnen einen Tarnmantel andichtete.

Sie zogen sich mit dem Aufkommen des Christentums zurück: Die Töne der Kirchenglocken sollen ihnen in den Ohren wehgetan haben. Ein Symbol für eine geringere Toleranz, die der monotheistische Glaube mit sich brachte? Die Halblinge wurden vielleicht als manifestierte Elemente des alten Glaubens betrachtet, wurden mit Donareichen, magischen Hainen und Thingplätzen in einen Topf geworfen. Im Weltbild des Christentums war kein Platz mehr für Erdgeister aus Wohnhöhlen.

Bennett hält einen rostigen Metallstab in der Hand, als sei er, ein Goldschatz. »Dieser Schürhaken gehört zu den größten Stücken, die wir bislang im Smial freilegten. Die Prägung am Schaft ist kaum noch zu erkennen, könnte aber einen Baum dargestellt haben.«

Mit Bürsten und Pinseln befreien Studenten und Hilfswissenschaftler aus Oxford die Funde vom Erdreich: Zinngeschirr, Keramikscherben, einen Stiefelknecht, eine Teekanne in der Form eines lachenden, dickbauchigen Trolls. Alle wie im Format von Spielzeug – etwas zu klein, als dass man sie nutzbringend einsetzen könnte. Auf einige Stücke kann sich Bennett keinen Reim machen: Silberplättchen, die vielleicht an einer Schnur zusammengebunden waren. Metallbeschläge, möglicherweise für einen Bucheinband. Ein Korb aus Glas und Eisen.

Mathoms nennt er sie, nach den Geschenken der Hobbits, die irgendwo zwischen Tinnef und Kleinoden rangierten und bei Festen von Hand zu Hand wanderten. Smials waren voller solcher unnützer Andenken, Wandergaben und Erinnerungsstücke.

Ich spreche Bennett darauf an, dass es gewiss problematisch ist, Setzungen und Bezeichnungen aus einem fiktionalen Werk als Grundlage für wissenschaftliche Beschreibungen zu verwenden. Er grinst. Auf diesen Einwand hat er gewartet. »In erster Linie bin ich dankbar, dass mir Tolkien ein erstes sprachliches Gerüst zur Verfügung stellt, das ich benutzen kann. Und inwieweit dieses fiktional ist«, doziert er, »muss sich erst noch erweisen.«

»Mathom« ist nicht einfach ein Kunstwort, das nach seinem schönen Klang gewählt wurde. Es stammt vom altenglischen máðm, was so viel wie »wertvolles Ding« oder »Schatz« bedeutet. Ebenso das Wort »Hobbit« selbst, das durch Tolkien bekannt – oder eher wieder bekannt – wurde. Im Altenglischen bezeichnet holbytla einen »Höhlenbewohner«.

Gerne wird von Jüngern des Fantasy-Autors betont, wie viel Tolkien geschaffen hat. Dass er nicht nur die Handlung des Hobbits, des Herrn der Ringe und weiterer Bücher erfunden hat, sondern gleich die komplette Welt dazu mit Geografie, Kulturen und Sprachen über einen Zeitraum von Jahrtausenden. Als hätte Homer nicht nur die Ilias und die Odyssee gedichtet, sondern dazu auch noch das alte Griechenland und die Götterwelt des Olymp ersonnen.

Was aber, wenn Mittelerde gar nicht komplett Tolkiens Vorstellungskraft entsprang? Was, wenn er konkrete ältere Quellen hatte, die ihn nicht nur inspirierten, sondern die er vielmehr aufbereitete? Bennett ist überzeugt, dass Tolkien einen wertvollen wissenschaftlichen Beitrag geleistet hat: »Es wird gerne vergessen, dass Tolkien nicht nur Schriftsteller und Professor für Anglistik war. Er war einer der besten Kenner des Altenglischen, den das Zwanzigste Jahrhundert hervorgebracht hat. Seine Herangehensweise an das angelsächsische Beowulf-Epos gilt als wegweisend. Er sprach ein Dutzend Sprachen, die meisten davon so tot wie ein Dodo. Er traf sich mit Kollegen, um die Edda, das Sammelwerk germanischer Sagen, im altisländischen Original zu lesen. Ich frage Sie: Wenn es eine verschollene Überlieferung aus altenglischer Zeit geben würde, wer wäre besser geeignet gewesen, sie zu finden und zu verstehen, als Professor Tolkien?«

Tolkien sprach eher wie ein Forscher über Mittelerde, weniger wie ein Autor. Wenn einer der zahlreichen Fans des Herrn der Ringe sich an Tolkien wandte, weil er meinte, einen Fehler oder eine Ungereimtheit in den Erzählungen des Professors gefunden zu haben, so machte dieser sich wie ein Forscher daran, dem nachzugehen. Er betrieb regelrecht Quellenstudium. Nur welche Quellen mochten dies in Wahrheit gewesen sein?

Der Professor wehrte sich stets gegen Ansichten, seine Geschichten spielten in einer Fantasiewelt oder dass Mittelerde vielleicht ein Planet einer Galaxis in weiter Ferne sei. Mittelerde, das ist das altenglische Middangeard, das germanische Midgard, das von Menschen bewohnte Land zwischen den Wassern der Welt – sprich: unsere Erde, wenn auch in einer mythischen Vorzeit.

Tolkiens Erzähler verweist immer wieder darauf, dass die Handlung vor langer Zeit stattfand und dass sich die Welt seitdem gewandelt hat. Die Elben drücken diesen Verlust des Ursprünglichen am stärksten aus und verlassen bereits zur Zeit des Herrn der Ringe Mittelerde, um sich nach Valinor einzuschiffen, dem zeitlosen Land der Unsterblichen, dem Avalon der Artussage. Es beginnt das Vierte Zeitalter, das Zeitalter der Menschen. Deren Hochkultur stammt von einer Insel in der westlichen See, die schon Jahrtausende früher in einer Katastrophe unterging: Numenor oder – wie es die Elben nannten – Atalante. Es ist nicht schwer, die Parallele zum legendären Inselreich zu ziehen, das Plato beschrieb und das dem Atlantischen Ozean seinen Namen gab.

Die Ereignisse des Herrn der Ringe und der Umbruch vom Dritten zum Vierten Zeitalter liegen nach Tolkien etwa 6000 Jahre zurück; der moderne Mensch lebt gemäß seiner Chronologie derzeit am Ende des Sechsten oder im Siebten Zeitalter. Veränderungen formten seitdem das Angesicht der Welt. Küstenlinien verwarfen sich, Gebirge schliffen sich ab und bäumten sich auf, Flüsse veränderten ihren Lauf, Städte gingen unter. Kreaturen und Völker verschwanden und gingen ein ins Reich der Fabel.

Dr. Bennett hält wenig davon, die Karten aus dem Herrn der Ringe an die irdische Gestalt Europas anzulegen und Detailvergleiche anzustellen. »Die Gemeinsamkeiten zwischen Mittelerde und Europa erschöpfen sich in wenigen makrogeographischen Konstanten: Das große Meer im Westen, mächtige Landmasse und Reitervölker im Osten, ein Hort der Hochkultur im warmgemäßigten Klima.« Die Gestalt Mittelerdes ist eher eine symbolische Darstellung der Weltordnung, gebildet aus den Vorstellungen von archaischen Chronisten, die weder den Willen noch den nötigen Überblick hatten, ein akkurates Abbild der tatsächlichen Topografie zu erstellen.

»Die Handlung im Herrn der Ringe dürfte mit einem historischen Verlauf etwa so viel zu tun haben, wie etwa die Sage von Dietrich von Bern mit dem echten Ostgotenkönig Theoderich dem Großen. Man sollte Details nicht zu ernst nehmen, vielmehr die Sinnbilder deuten. Nehmen wir beispielsweise Frodos Flucht vor den Schwarzen Reitern. Sofern das Auenland tatsächlich in England lag und Mordor ein Ort im Süden oder Osten Europas war, so war der Fluss Bruinen womöglich eher der Ärmelkanal. Und dass die Schwarzen Reiter an der Bruinenfurt hinweggespült wurden, deutet möglicherweise auf ein Schiffsunglück der Kuttenträger hin. Ein französischer Kollege von mir glaubt anhand von Luftbildarchäologie die Reste von Minas Tirith in den östlichen Vogesen ausgemacht zu haben. Und er sucht mittels detaillierter Richtungs- und Wegstreckenangaben aus Tolkiens Werken nach der heutigen Lage des Schicksalsberges, irgendwo in den Südkarpaten. Das ist natürlich zum Scheitern verurteilt. Und wenn er doch erfolgreich ist, findet er hoffentlich nicht den Einen Ring.« Bennett lacht wieder. Aber diesmal scheint eine Ahnung von Furcht mitzuschwingen.

Hinweise, auf welche Quellen sich Tolkien stützte, gibt der Professor selbst in unnachahmlich verklausulierter Form: Er sagt, das »Legendarium«, die Gesamtheit seiner Erzählungen, stütze sich auf Bücher aus den Bibliotheken des Auenlandes, vor allem aber auf das Rote Buch der Westmark, in dem die Hobbits die ihnen bekannten Geschichten aufschrieben. Dieser Blickwinkel soll auch der Grund sein, warum Halblinge eine so zentrale Rolle in Tolkiens Geschichten spielen.

Wie aber mag John Ronald Reuel Tolkien, Mensch des Zwanzigsten Jahrhunderts, an eine Überlieferung aus der Vorzeit Englands gekommen sein? Die Vorstellung, dass er als Professor in alten Archiven stöberte, berücksichtigt nicht, dass Tolkien bereits als junger Soldat im Ersten Weltkrieg erste Texte über Mittelerde übersetzte und umschrieb.

Bennetts Augen blitzen. »Tolkien lebte als Kind vier Jahre lang keine 30 Kilometer entfernt von hier, in Sarehole Mill vor den Toren Birminghams. Eine ländliche Idylle, ein Abenteuerspielplatz voller Wunder. Wir wissen nicht, welche Relikte der Halblinge es noch in Warwickshire gibt. Aber wir wissen, dass achtjährige Jungs manchmal auf Entdeckungsreisen gehen, von denen ihre Eltern besser nichts wissen. John könnte auf alles Mögliche gestoßen oder jemandem begegnet sein.«

Da war er möglicherweise weder der Einzige noch der Erste. Shakespeare, der 1610 als gefeierter Dramenautor in seinen Geburtsort Stratford zurückgekehrt war, kündigte nach seinem magischen Stück Der Sturm ein weiteres Werk an. Darin sollten einfache, kleine Leute den Gefahren der großen Welt in Form von Drachen und missgünstigen Zauberern begegnen. Es wird berichtet, dass Shakespeare gelegentlich nächtlichen Besuch von »Kindern« oder »Zwergen« hatte. Sein Werk erschien nie. Es hätte möglicherweise eine Grenze überschritten. Was ein weithin gerühmter Autor wie Shakespeare veröffentlichte, würde unweigerlich große Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Und den Halblingen war nicht daran gelegen, viel Aufmerksamkeit zu erregen.

Zumindest den meisten nicht. Im Barock zog es einige an die Höfe der großen Leute. Sie waren angetan von den mannigfachen und reichhaltigen Genüssen, die an fürstlicher und königlicher Tafel gereicht wurden: Fasan, Kapaun, Pasteten, Marzipantorte, Mandelmilch, Tokajer. Und von einem Laster, das aus der Neuen Welt kam, die Paläste der Herrscher eroberte und eine uralte Leidenschaft der Halblinge neu entfachte: Tabak. In den weitläufigen Salons der Paläste verschwanden die Rauchenden fast hinter den grauen Schwaden. Was immer das »Pfeifenkraut« der Hobbits aus der Überlieferung war, im Tabak fand es einen würdigen Nachfolger.

Als »Hofzwerge« waren die Halblinge geschätzt, weil sie als exotisch und selten galten. Und weil in ihren Reihen der Herrscher eindeutig herausstach, größer wirkte. Aber es war auch ihr Gemüt, das sie zu willkommenen Zeitgenossen machte und Herrschern einen Ruhepol gab. Mochten Staatskrisen sich häufen, die Halblinge blieben geruhsam und gelassen. Sie rieten den Fürsten, erst mal eine gute Mahlzeit zu sich zu nehmen, ehe sie eine übereilte Entscheidung auf nüchternen Magen trafen. Nicht umsonst ist Zwerg Nase in Hauffs Märchen ein guter Koch und Liebhaber von Speisen. Sechsmal am Tag aßen die Hofzwerge und waren bald ein Statussymbol und Zeichen für Reichtum und Überfluss.

Wem es nicht gelang, Halblinge an seinen Hof zu locken, behalf sich wenigstens mit Statuen von ihnen, die in den Gärten aufgestellt wurden. Überrest dieses Brauchs sind die Gartenzwerge. Die eindrucksvollsten Halblingsstatuen stehen heute noch im Zwergelgarten des Schlosses Mirabell in Salzburg. 1690 ließ hier Erzbischof Johann Ernst von Thun und Hohenstein 28 Hobbits aus weißem Untersberger Marmor für die Ewigkeit meißeln.

Der tollkühnste Halbling bei Hofe war wohl Perkeo (ca. 17021780), der jahrzehntelang in Heidelberg lebte. Er stammte aus einer Hobbitgemeinschaft in den Alpen, wo er mit dem pfälzischen Kurfürst Karl Philipp III. bekannt wurde. Dem Fürst war angetragen worden, dass es in Seitentälern versteckte Dörfer kleiner Leute gab, die keine Steuern zahlten. Als er aufbrach, um sich höchstselbst davon zu überzeugen und die ihm vermeintlich zustehenden Gelder einzutreiben, traf er auf den rot gelockten Perkeo. Der Halbling wusste auf jeden Vorwurf des Adligen eine freche Entgegnung. Und so ging der Fürst zwar ohne Gold, aber mit Perkeo wieder fort, den er wegen seines Mutes und seiner scharfen Zunge zu schätzen gelernt hatte.

Bennett klappt eine Stammbaumtafel aus den Anhängen des Herrn der Ringe aus. »Eigentlich war ich nie so der große Mittelerde-Fan wie meine Kommilitonen damals«, murmelt er, »aber diese Ahnentafeln, die Chroniken, die Kalender, das habe ich verschlungen. Perkeo. Schlagen Sie mich, aber sein Verhalten klingt mir nach dem eines typischen, abenteuerlustigen Tuk. Und in einer Familie, die Vornamen wie Paladin und Peregrin kennt, passt der Name Perkeo ins Schema.«

Perkeo war im Heidelberger Schloss zunächst eine Kuriosität und füllte die Rolle des Hofnarren aus. Wie sehr er sich auch für ernst zu nehmende Aufgaben eignete, zeigt sich daran, dass er bald den Posten des Hofmeisters und Mundschenks einnahm. Als Herr über den fürstlichen Weinkeller wachte er auch über den Inhalt des Großen Fasses, mit über 200 000 Litern das größte Weinfass der Welt. Der Halbling war für seine Liebe zu frischem Brot, würzigem Schmalz und einen ausgeprägten Weinkonsum bekannt. 20 bis 30 Liter pro Tag soll er zu sich genommen haben. Mit über 70, im besten Halblingsalter, wurde er zum ersten Mal krank. Ein Arzt riet ihm vom Weingenuss ab und empfahl Perkeo, nur noch Wasser zu trinken. Missmutig und voller Skepsis folgte der Halbling dem Rat – und verstarb am Folgetag. An ihn erinnert heute noch ein Lied, das manche Heidelberger Studenten abends anstimmen.

Das war der Zwerg Perkeo im Heidelberger Schloss,

An Wuchse klein und winzig, an Durste riesengroß.

Man schalt ihn einen Narren, er dachte: Liebe Leut’,

Wärt’ Ihr wie ich doch alle feuchtfröhlich und gescheut!

In den Hügeln bei Binton vermutet Bennett etwa 20 Smials, die von gut 100 Halblingen bewohnt waren. Ein kleines Dorf, vielleicht Teil eines größeren Verbandes, der sich über Warwickshire oder Worcestershire erstreckte. The Shire. So nannte Tolkien das Auenland im englischen Original.

Die Radiocarbondatierung lässt darauf schließen, dass der freigelegte Smial vor etwa 350 Jahren verlassen wurde. Und zwar recht schnell, wie der Anzahl zurückgelassener Gegenstände zu entnehmen ist. Ich werfe die Frage auf, was aus den Halblingen geworden ist hier und anderswo. Ob sie noch existieren könnten in einer von Geosatelliten vermessenen Welt.

Bennett legt die Grabschaufel beiseite und schenkt mir Tee ein. »Das ist ein weites Feld für Spekulationen. Die Halblinge werden sich immer weiter zurückgezogen haben, während die Menschen vordrangen. Die ›Rohheit und Hässlichkeit des modernen Lebens‹ – so nannte Tolkien es – ist wohl nichts für sie. Trotzdem kenne ich auch heute noch Täler und Wälder in Wales oder Schottland, aber auch im dicht besiedelten Mittelengland, die kaum mal ein Mensch betritt. Aber vielleicht sind sie noch auf eine andere, versöhnlichere Weise verschwunden. Tolkien nannte die Hobbits immer enge Verwandte der Menschen. Und auch zwischen den ferneren Blutslinien von Elb und Mensch gab es in seiner Mythologie Verbindungen. Vielleicht trägt ja so mancher von uns Halblingsblut in den Adern. Stellen Sie sich mal vor: Eines Tages erfahren wir, dass Napoleon Bonaparte ein korsischer Halbling war, urgroßmütterlicherseits.«

Die jüngste bekannte Quelle, die die Existenz von Halblingen bezeugt, liegt hinter Stahlbeton und Sicherheitsschleusen im Archiv des Secret Intelligence Service, besser bekannt als MI6. An den Statuten der Geheimhaltung scheitert jeder Antrag wissenschaftlicher Forschung. Wir wissen nur dank Sekundäraufzeichnungen von der mysteriösen Zusammenarbeit zwischen britischer Regierung und Halblingen im Zweiten Weltkrieg.

1944 plante die Special Operation Executive, die nachrichtendienstliche Spezialeinheit, Adolf Hitler in der sogenannten Operation Hairfoot zu entführen. Eine Gruppe von vermuteten Halblingen wurde im Fallschirmspringen, Tarnung, Waffen und Einzelkampf ausgebildet. Die Papiere über Operation Hairfoot besagen, dass die Hobbits nachts über dem Obersalzberg, Hitlers Alpenresidenz, abspringen und ihn auf seinem allmorgendlichen Spaziergang abpassen sollten. Mit ihren Schleichfähigkeiten wäre es ihnen ein Leichtes gewesen, die Wachen des Berghofs zu umgehen. Hitler, der zu diesem Spaziergang üblicherweise allein aufbrach, sollte betäubt und über ein altes Minensystem fortgeschafft werden.

Der Plan gelangte nie zur Ausführung. Churchill kam zu der Auffassung, dass es besser sei, Hitler nicht zu töten: Er war ein so schlechter Stratege, dass jede Nachfolge die deutschen Handlungen im Krieg nur aufgewertet hätte. Hitler verließ den Berghof am 14. Juli 1944 zum letzten Mal, Operation Hairfoot verschwand in den Aktenmappen, die Halblinge kehrten dem Krieg den Rücken.

Bennett glaubt, dass die Veröffentlichung seiner Forschungsergebnisse ein Erdbeben in der Geschichtswissenschaft auslösen könnte. »Wir müssen weg von der humanzentrierten Forschung. Wir müssen uns darauf konzentrieren, welche anderen Völker neben dem Menschen diesen Planeten besiedelt und ihre Spuren hinterlassen haben.«

Und wie sieht es mit den Liebhabern von Tolkiens Welt aus? Was bedeuten die Funde für sie?

»Unsere Forschung wird den Zauber der Geschichten Tolkiens nicht trüben. Ebenso wenig, wie die Sage von Troja an Wucht verliert, auch wenn wir von unserer rationalen Seite gesagt bekommen, dass es exakt so nicht gewesen sein kann. Nein, die Vorstellung, dass die Geschichten einen wahren Kern haben, wird die Erzählung stärken, relevanter machen.«

Es wird dunkel. Wir verabschieden uns zufrieden von Dr. Bennett und seinem Grabungsteam. Immer wieder gehe ich aufgeregt die Notizen durch. Wir haben 10 000 Bilder geschossen, 15 davon werden in den fertigen Artikel kommen. Ich bin mir sicher, den Aufmacher der nächsten Ausgabe in meinen Händen zu halten.

Aber in der Verifikation mehren sich die Zweifel an vielen Angaben. Es gibt gewichtige Gegenargumente, die dick und rot neben die Notizen geschrieben werden.

Der Homo floresiensis gilt vielen Anthropologen als ein Fall von Inselverzwergung. So wie sich manche Tierarten auf einsamen Eilanden zu kleineren Unterarten entwickelten, verloren diese Menschen an Körpergröße. Manche glaubten, sie litten an einer Form von Kretinismus und waren schwachsinnig. Bei den Tanzzwergen des Alten Ägypten hat es sich vermutlich nur um klein gewachsene Schwarzafrikaner gehandelt. Märchen und Sagen über Hobbits in Europa spielen für gewöhnlich auf die Zwerge der germanischen Mythologie an und nicht auf tatsächliche Erdbewohner. Bennetts Angaben über Halblinge bei Shakespeare und anderswo sind bestenfalls durch Indizien belegt, durch schwammige Formulierungen, weit interpretierbare Worte. Hofzwerge hatten Menscheneltern und waren nichts weiter als Fälle von Minderwuchs, durch Krankheit oder Mangelernährung ausgelöst.

Am gewichtigsten aber: Die Wohnhöhlen bei Binton hatte schon 1925 ein Historiker beschrieben und sie wurden in einer Kirchenchronik aus dem Jahr 1512 genannt: Sie seien die Wohnungen von Kindern gewesen, die an Aussatz litten, Lepra. Die als ansteckend gefürchtete Krankheit veranlasste die Dörfler, die Kinder abseits im Wald leben zu lassen. Im Boden sollten sie wohnen, damit ihr Anblick den Herrn nicht erzürne.

Und Dr. Bennett? Wir erfahren aus Oxford, dass sein Lehrvertrag nicht verlängert wird. Die Universitätsleitung ist unzufrieden mit der Wahl seiner Forschungsschwerpunkte und wirft ihm unseriöses Gebaren vor.

Die Chefredaktion beschließt, den Artikel über die Halbling-Sensation auf Eis zu legen. Tschüss, Titelstory. Auf Wiedersehen, Pulitzerpreis. Ich wende mich einem anderen Projekt zu. Schminkgewohnheiten des römischen Patriziats. Das ist hinreichend anders. Und gut belegt.

Dr. Bennett ruft mich zwei Monate später wieder an. Er will mir etwas Wichtiges zeigen. Ich reagiere reserviert und berichte von den Einwänden gegen seine Forschungsergebnisse. Aber Bennett interessiert sich nicht dafür. Er bleibt erstaunlich gelassen.

»Kommen Sie einfach am 26. um 15:00 Uhr zu Bauer Wilmot«, sagt er. »Dann wird sich alles klären. Aber diesmal ohne den Fotografen. Für einen Fotografen ist es noch zu früh.«

Ich fahre hin, habe keine großen Erwartungen. Trotzdem schlummert in mir der letzte Funken Hoffnung, dass die ganze Arbeit womöglich doch nicht umsonst gewesen ist.

Im Warwickshire gehen die Dinge ihren gewohnten Gang. Bennett erwartet mich mit seinem Wagen auf dem Hof des Bauern. Mister Wilmot grinst über beide Ohren. Wir klappen die Türen zu, und als ich mich nach der Laune Wilmots erkundige, meint Bennett: »Oh, ich habe seinen Schraubenschlüssel gefunden.«

Die Fahrt geht nicht zur Ausgrabungsstelle des Smials. Wir lassen Binton hinter uns und fahren westwärts in Richtung der fernen Berge von Wales, die sich blaugrau und blass am Horizont abzeichnen, als würden sie die Grauen Anfurten bewachen. Bennett vertröstet mich, was das Ziel unseres Ausflugs angeht. Er wird auch dann nicht gesprächiger, als wir irgendwo zwischen menschenleeren Hügeln und Tälern über Feldwege rumpeln und schließlich an einem menschenleeren Gehölz aussteigen. Ein Pfad führt zwischen den Bäumen hindurch, vorbei an einem Wasserfall und an aufgestauten Teichen. Klein und kunstvoll sieht die ferne Mühle aus.

Das Tal, in dem wir uns nun befinden, ist ein abgeschiedenes Kleinod, wie eine Zuflucht. Wenig Geräusche, viel Grün. Wege führen an Feldern und kniehohen Steinmäuerchen entlang. Mit zusammengekniffenen Augen meine ich, einen halben Kilometer entfernt untersetzte Bauern bei der Arbeit zu sehen. Mit der Sense wird Gras gemäht. Wo ist der Traktor?

»Komm«, sagt Bennett »es wird Zeit, dass du bessere Zeugen als meine Funde bei Binton kennenlernst.«

Wir schreiten über einen kleinen Hügel und dann sehe ich sie. Runde Fenster und grüne Türen führen direkt vom Hang in den Hügel hinein. Wir stehen genau auf einer gepflasterten Veranda vor einer Erdwohnung. Vor einer Tür mit einem goldglänzenden Knauf in der Mitte. Daneben sitzt eine gerade mal ein Schritt große, braun gelockte Gestalt mit behaarten Füßen. Sie zieht an einer enorm langen Holzpfeife und bläst Rauchringe in die Luft.

»Guten Tag, meine Herren!«, sagt der Halbling. »Da seid ihr ja. Eure langen Beine mögen ja zu vielem nützen, aber anscheinend helfen sie euch nicht, pünktlich zu sein. So kommt doch herein, beim Tee lässt es sich viel besser erzählen.«