Wie Der Hobbit mich durch Fieberträume in einem schmuddeligen Hotel in Damaskus begleitete, als Wolfram von Eschenbach mich schmählich im Stich gelassen hatte, werde ich in meinem ganzen Leben nicht vergessen. Ich war 24, Germanistik-Student und hielt manches für eine wunderbare Idee, was sich mir rückblickend nur schwer erschließt. Man muss wohl 24 sein, um folgenden Plan sensationell zu finden: Ich reise nach Syrien. Natürlich allein und die Landessprache beherrsche ich nicht (es soll ja ein Abenteuer sein!). Dort schlage ich mich zur Kreuzfahrerburg Krak des Chevaliers durch, um auf einem der Türme dieser inmitten einer Einöde gelegenen Burg bis zum Sonnenuntergang Wolfram von Eschenbachs Parzival zu lesen. Natürlich auf Mittelhochdeutsch! Mit nur gelegentlichen Blicken in die Übersetzung … Als der Rucksack gepackt war, blieb im Kartenfach noch ein wenig Platz. Gerade genug für ein Taschenbuch. Ich stand lange unentschlossen vor dem Bücherregal. Kein Krimi und bloß nichts Politisches! Ich hatte wilde Geschichten über Kontrollen in Syrien gehört. Mein Blick blieb am Hobbit hängen. Das konnte eigentlich niemand anstößig finden, außer vielleicht Orks und Drachen.
Bis Krak des Chevaliers verlief die Reise ohne Zwischenfälle. Ich hatte die riesige Burg fast für mich allein und verbrachte einen langen Nachmittag ungestört in der syrischen Sonne. Doch dann begannen die Probleme. Im kleinen Dorf in der Nähe der Burg fand ich kein Restaurant, bei dem sich meine Preisvorstellungen mit meinen Essensgewohnheiten vereinbaren ließen. Huhn gab es nicht, sonst immer ein Gericht, bei dem man nichts falsch machen konnte. Dafür alle nasenlang Hammelfleisch … War da nicht was im Hobbit? Nach einem Abendessen aus Fladenbrot fand ich einen freundlichen Restaurantbetreiber, der mich – nach einem kurzen Gespräch mit dem örtlichen Polizeichef – auf seinem Flachdach übernachten ließ. Im Licht einer flackernden Reklametafel fing ich mit dem Hobbit an. Und bald hatte ich es! Hammelfleisch war das Leibgericht von Trollen, neben Hobbits und Zwergen.
Am nächsten Morgen fühlte ich mich leicht derangiert. Etwas Fladenbrot half mir auf die Beine und in den ersten einer ganzen Reihe von Überlandbussen, mit denen ich mich, begleitet von Hühnern, ein oder zwei Ziegen, einem zum Plaudern aufgelegten Luftwaffenoffizier, der in der DDR ausgebildet worden war, und etlichen Kindern, die sich über »den Roten« wunderten – denn ich hatte mir auf dem Krak des Chevaliers einen ordentlichen Sonnenbrand geholt –, Richtung Damaskus durchschlug.
Als ich auf einem Busbahnhof in einem Vorort von Damaskus strandete, fühlte ich mich schwach und ein wenig schwindelig. Nicht einmal Cola half mir richtig auf die Beine und auch nicht das einsame Mars, das ich ungläubig in der Kühltruhe eines kleinen Ladens fand. Ich streifte stadteinwärts auf der Suche nach einem Hotel in meiner Preislage. Die Erinnerung verschwimmt. Ganz sicher weiß ich noch, dass ich irgendwann einen Priester in einer langen, schwarzen Soutane mit weißem Stehkragen traf. Ein riesiger Kerl, kahlköpfig, ständig dabei, sich mit einem weißen Taschentuch den Schweiß von der Stirn zu wischen. In seiner ganzen Art irgendwie ein ferner Verwandter von Fernandel in der Rolle des Don Camillo. Er warnte mich ausdrücklich davor, auf die Idee zu kommen, in der Stadt Fahrrad zu fahren, da vor Kurzem ein Anschlag von einem Fahrrad aus verübt worden war und alle Radfahrer nun Verdächtige waren.
Ich weiß nicht mehr recht wie, aber ich gelangte in mein Hotel zurück, inzwischen richtig krank. Parzival war kein Trost. Dafür aber Der Hobbit, die Geschichte einer Reise voller Abenteuer. Bilbo Beutlin war ein Seelenverwandter, entschied ich. Ein Reisender in einer gefährlichen Welt. Ich bekam Durchfall, als Bilbo in den Tunneln unter dem Nebelgebirge verloren ging. Ich versuchte mich mit jemandem im Hotel zu verständigen, was kläglich scheiterte. Ich sprach kein Arabisch, sie weder Deutsch noch Englisch. Aber dafür bekam ich stark gezuckerten, schwarzen Tee. Es war schrecklich heiß in meinem Hotelzimmer. Darauf, den Ventilator neben dem Bett einzuschalten, verzichtete ich nach einer ersten Erfahrung, was der Blick auf einen wirbelnden Propeller in meinem Zustand verursachte. Bilbo und die Zwerge sitzen auf Kiefern, wo sie von Orks geröstet werden sollen, doch Riesenadler erscheinen und retten sie. In Damaskus waren keine Riesenrettungsadler in Sicht.
Ich schlief ein und träumte von einem trollgroßen Priester, an dessen Seite ich durch die dunklen Gassen der Altstadt von Damaskus flüchtete, verfolgt von Geheimpolizisten auf Fahrrädern mit Wolfsköpfen. Warum sie uns jagten? Ich weiß es nicht mehr … Vielleicht hatten wir regimekritische Fantasyliteratur ins Land geschmuggelt?
Als ich erwachte, war es schon wieder hell und heiß. An meinem Bett stand schwarzer Tee mit viel Zucker, und vor der Tür hörte ich jemanden leise diskutieren. Auf Arabisch. Ich fühlte mich zu schwach, um auch nur bis zur Tür zu kommen. Ich begann, mir dumme Fragen zu stellen. Wie ich nur auf die hirnverbrannte Idee gekommen war, mutterseelenallein durch Syrien zu reisen, und was wohl passieren würde, wenn ich hier sterben würde. Die Kraft reichte gerade für ein paar weitere Seiten Hobbit, was unendlich viel besser war, als vor sich hin zu grübeln. Es ging um Hunger. Die Vorräte der Reisegruppe waren aufgebraucht. Ich hatte seit dem Mars am Tag zuvor auch nichts mehr gegessen und war nicht in der Lage, etwas zu besorgen. Also Tee trinken. Zum Glück ging es bald mit Riesenspinnen weiter. Ein paar bange Blicke in die Zimmerecken. Nein, keine Spinnen in Sicht. Irgendwann um die Ankunft in der Seestadt schlafe ich erschöpft ein.
Als ich erwache, steht ein Fremder neben meinem Bett und ich muss kein Arabisch können, um mitzubekommen, dass er sich Sorgen macht. Er hilft mir auf die Beine, setzt sich mit mir in ein Taxi und bringt mich zum Arzt. Jetzt mache ich mir Sorgen. Wie soll ich den bezahlen! Kranksein war im schmalen Reisebudget nicht vorgesehen. Wie viel würde es kosten?
Eine moderne Praxis in einem Hochhaus. Alles sieht teuer aus. Ich muss nicht warten. Der Arzt spricht bestes Oxford-Englisch, mein Englisch hört sich an, als spräche ein Ork mit starkem Akzent. Irgendwie versteht der Arzt mich trotzdem. Die Diagnose ist ein wenig peinlich. Brechdurchfall und ein Hitzschlag. Letzteren habe ich wahrscheinlich dem langen Nachmittag mit Wolfram von Eschenbach auf einem Turm des Krak des Chevaliers mit wunderbarer Aussicht und ganz ohne Schatten zu verdanken. Dazu noch Sonnenbrand. Ich bekomme eine Schachtel mit Kohle-Kompretten, den Rat, viel zu trinken, mich zu schonen und, sobald mir danach ist, ordentlich zu essen. Dann kommt der bange Augenblick. Ich frage, was ich schuldig sei. Nichts! Ich traue meinen Ohren kaum. Der Arzt besteht darauf, meint noch, es sei nett gewesen, mal wieder englisch zu sprechen und verabschiedet mich.
Meine Eskorte bringt mich zurück ins Hotel, wo mich schwarzer Tee mit viel Zucker erwartet. Dazu braue ich mir einen Cocktail aus Wasserreinigungstabletten und Kohle-Kompretten. Ein appetitlich schwarzes Gebräu, das genauso gut schmeckt, wie es aussieht. Ich schlafe viel. In den Wachphasen reise ich mit Bilbo zum Einsamen Berg, begegne dem Drachen Smaug, ärgere mich über dickköpfige Zwerge und all das, obwohl ich immer noch zu schwach bin, um mein Zimmer zu verlassen und mit schwarzem Tee und diesem schwarzen Medizingebräu über die Runden kommen muss.
Parzival kann mir in dieser Zeit gestohlen bleiben, ich bin ganz und gar ins Lager der Hobbits gewechselt. Am Tag darauf geht es mir besser. Bilbo macht sich auf den Heimweg ins Auenland und träumt davon, künftig wieder sechs Mahlzeiten am Tag zu haben. Und auch ich kann wieder essen. Zunächst nur Fladenbrot und am Abend nach Bilbos Heimkehr das bis heute beste Grillhähnchen meines Lebens. Als ich zwei Wochen später wieder in Köln bin, erscheint mir meine Studentenbude wie ein Palast, und eine Scheibe Graubrot mit Gouda ist ein kulinarischer Gipfelsturm. Ich verstehe nicht, wie ich je auf die Idee hatte kommen können, von dort fortzugehen und vervollständige, in bester Hobbitmanier, meinen Reisebericht. Heute weiß ich, dass dieses Gefühl nur für etwa neun Monate anhalten wird. Dann beginne ich erneut Pläne zu schmieden. Meine Reisen haben mich nach Beirut und Gaza gebracht und an einige sehr abgelegene Orte in der Mandschurei und im Baskenland. Ich reise seitdem nie ohne Bücher im Gepäck, und doch hat mich kein zweites Mal ein Romanheld auf eine solche Weise gerettet wie der abenteuerlustige Bilbo Beutlin.
Was haben sie an sich, die Hobbits, dass sie einen in ihren Bann schlagen, obwohl sie eigentlich keine Helden sind? Wer sind sie? Eine schöne Definition dazu gibt Karl-Heinz Witzko später in diesem Band: »Er war ein Halbling, was bedeutet, dass er halb so groß war wie ein Mensch, halb so stark wie ein Zwerg und halb so schlau wie ein Elb.« Sehr treffend und plastisch. Ich musste schmunzeln, als ich das las und ertappte mich dabei kurz zu nicken. Doch so bildhaft die Beschreibung ist, so vieles bleibt offen. Was macht diese verfressenen kleinen Kerle zu Helden? Warum mag man sie fast sofort? Wo liegt ihr Geheimnis? Dem auf vielfältige Art nachzuspüren, widmen sich die Autoren dieses Buches. Zum Einstieg wird Friedhelm Schneidewind Ihnen die von Tolkien überlieferten Fakten und liebenswerten Eigenarten des kleinen Volkes nahebringen. Christoph Marzi verzaubert mit einer märchenhaften Geschichte über die Macht des Wortes. Adam Roberts macht uns mit der Tatsache vertraut, dass es zwei Fassungen des Hobbits gibt und erläutert, warum Tolkien den Hobbit noch einmal umgeschrieben hat. Karl-Heinz Witzko wagt einen Außenblick aus der Perspektive eines Dämons auf seinen Hobbit und schickt die beiden auf eine gefährliche Mission. Irgendwie werde ich bei dieser Geschichte das Gefühl nicht los, dass die Episode mit den untoten Elben eine verschlüsselte Botschaft an mich enthält.
Wieland Freund überrascht mit einer Vielzahl weniger bekannter Hintergründe zu Tolkien wie etwa seiner ausgesprochenen Abneigung gegen Walt Disney und die Vorwürfe gegen seinen ersten deutschen Hobbit-Illustrator, zu sehr von Disney inspiriert zu sein. Lena Falkenhagen zeigt uns in ihrer Geschichte, was es bedeutet, sich auf eine Reise in eine Welt zu machen, in der fast alles größer und bedrohlicher als ein Hobbit ist, und welche Rolle das Lächeln einer Schankmaid dabei spielen kann.
Anna Thayer analysiert pointiert, was den Unterschied ausmacht, wenn Hobbits Helden werden, und warum sie uns so nahestehen. Gleich darauf folgen wir Kathleen Weise auf eine Hobbit-Queste, die ihre Helden zwar nicht goldbeladen, aber doch ohne Zweifel reicher heimkehren lässt. Dr. Frank Weinreich schildert, wie schwer es für einen Autor der High-Fantasy ist, J. R. R. Tolkien und seinen Hobbit zu ignorieren. Man folgt ihm, oder man setzt sich bewusst von ihm ab, doch ganz gleich, welchen Weg man schriftstellerisch beschreitet, man kommt nicht um ihn herum.
Sie sehen, in diesem ersten Teil der Anthologie werden Sie auf eine Reise gehen, fort aus unserer Welt in die unermesslichen Gefilde der Fantasie, die Sie am Ende zu Ihrem ganz eigenen Bild von Tolkiens größten Helden führen wird.
Bernhard Hennen