8

Nachdem Isak den Brief an seinen Bruder geschrieben hatte, stand er von dem niedrigen Tisch auf und öffnete das schmale Fenster im vorderen Zimmer. Er atmete die würzige Luft tief in seine Lungen ein. Seine Brust tat nicht weh. Sein Leben lang hatten die Menschen um ihn herum über seinen frühen Tod gesprochen wie über eine Tatsache. In seiner Kindheit und Jugend hatten ihn Erkrankungen von Lungen, Herz und Magen geplagt. Folglich waren keine große Erwartungen an seine Zukunft gestellt worden. Als Isak das Priesterseminar abschloss, war er selbst überrascht, dass er den Tag erlebte. Seltsamerweise hatten ihn die Reden über seinen unvermeidbaren frühen Tod nicht entmutigt, sondern eher abgehärtet, und seine anfällige Gesundheit bestärkte ihn in der Überzeugung, dass er etwas Bleibendes erreichen müsse, solange ihm Zeit dazu blieb.

Sein Bruder Samoel war nie krank gewesen, aber er war jung gestorben. Er war nach einer Protestveranstaltung von der Kolonialpolizei übel zusammengeschlagen worden und hatte die Haft danach nicht überlebt. Damals kam Isak zu dem Entschluss, in seinem Leben Tapferkeit zu zeigen. Seine Jugend hatte er im Schutz seiner Familie und der Hauslehrer zugebracht, und am gesündesten war er im Priesterseminar und während seiner Zeit als Laienpastor in seiner Gemeinde gewesen. Zu Lebzeiten war Samoel im Priesterseminar und in der Gemeinde für alle ein Vorbild gewesen, und Isak glaubte, dass sein toter Bruder ihn jetzt trug, so, wie er ihn physisch als kleinen Jungen getragen hatte.

Anders als Samoel und Isak war Yoseb, der mittlere Bruder, nicht religiös. Er ging nicht gern zur Schule und hatte die erstbeste Gelegenheit ergriffen, sich nach Japan abzusetzen und ein anderes Leben aufzubauen. Er war gelernter Mechaniker und arbeitete als Vorarbeiter in einer Fabrik in Osaka. Auf seine Bitte wurde Kyunghee, die Tochter eines Familienfreundes, die er liebte, zu ihm geschickt, und die beiden hatten in Japan geheiratet. Sie waren kinderlos. Es war Yosebs Idee gewesen, Isak nach Osaka zu holen, und er hatte eine Stelle in der christlichen Gemeinde für ihn gefunden. Isak war überzeugt, Yoseb würde ihn und seine Entscheidung, Sunja zu heiraten, verstehen. Yoseb war ein weltoffener Mann und hatte ein großzügiges Wesen. Isak adressierte den Umschlag und zog sich den Mantel an.

Er nahm das Teetablett und trug es bis zur Küchenschwelle. Er war immer wieder daran erinnert worden, dass er sein Tablett nicht in die Küche bringen musste, die er als Mann nicht betreten sollte. Aber Isak wollte etwas für die Frauen tun, die ohne Unterlass arbeiteten. Sunja saß beim Herd und schälte Radieschen. Sie trug ihre weiße Hanbok unter einer dunklen wattierten Weste. Sie sah jünger aus, als sie war, und er fand, dass sie, konzentriert auf ihre Arbeit, wunderhübsch war. Er hätte nicht sagen können, ob sie schwanger war oder nicht, und es fiel ihm schwer, sich die Verwandlungen an einem Frauenkörper vorzustellen. Er hatte nie bei einer Frau gelegen.

Sunja stand schnell auf und nahm ihm das Tablett ab.

»Ich nehme das.«

Er gab ihr das Tablett und wollte etwas sagen, wusste aber nicht, wie.

Sie sah ihn an. »Brauchen Sie etwas, Sir?«

»Ich hatte vor, heute in die Stadt zu gehen. Ich möchte jemanden treffen.«

Sunja nickte, als verstünde sie.

»Mr Jun, der Kohlenmann, ist gerade in der Straße, er fährt in die Stadt. Möchten Sie, dass ich ihn frage, ob er Sie mitnimmt?«

Isak lächelte. Er hatte vorgehabt, sie um ihre Begleitung zu bitten, aber plötzlich verließ ihn der Mut. »Ja, wenn Mr Jun das gestattet. Vielen Dank.«

Sunja eilte auf die Straße, um mit Mr Jun zu sprechen.

 

Die Kirche war ein altes Holzgebäude, eine ehemalige Schule, die umgewidmet worden war. Sie lag hinter der Post. Der Kohlenmann zeigte sie Isak und versprach, ihn später wieder zum Logierhaus zu bringen.

»Ich habe ein paar Dinge zu erledigen. Ihren Brief bringe ich zur Post.«

»Kennen Sie Pastor Shin? Würden Sie ihn gern kennenlernen?«

Jun lachte. »Ich war einmal in einer Kirche. Das reicht.«

Jun ging nicht gern an Orte, wo man Geld von ihm wollte. Er mochte auch keine Mönche, die um Almosen bettelten. Er war der Meinung, dass die ganze Sache mit der Religion etwas für Männer war, die zu viele Bücher gelesen hatten und sich vor richtiger Arbeit scheuten. Allerdings wirkte der junge Pastor aus Pjöngjang nicht faul, und er hatte Jun nie um Geld gebeten, deshalb hatte Jun nichts gegen ihn. Außerdem gefiel es Jun, dass jemand für ihn betete.

»Vielen Dank, dass Sie mich mitgenommen haben.«

»Keine Ursache. Seien Sie nicht böse, dass ich kein Christ sein möchte. Denn sehen Sie, Pastor Baek, ich bin kein guter Mensch, aber auch kein schlechter.«

»Mr Jun, Sie sind ein sehr guter Mann. Sie haben mich an dem Abend, als ich den Weg nicht fand, zum Logierhaus gebracht. Mir war so schwindlig, dass ich kaum meinen eigenen Namen sagen konnte. Sie haben mir sehr geholfen.«

Der Kohlenmann grinste. Er war es nicht gewohnt, dass man Nettes über ihn sagte.

»Na, wenn Sie meinen.« Er lachte wieder. »Wenn Sie fertig sind – sobald ich alles erledigt habe, warte ich da drüben bei dem Imbiss.«

 

Die Kirchendienerin trug einen geflickten Männermantel, der für ihre zarte Gestalt viel zu groß war. Sie war taubstumm und wiegte sich leicht, während sie den Fußboden in der Kapelle wischte. Als sie die Schwingungen von Isaks Schritten spürte, hörte sie mit ihrer Tätigkeit auf und drehte sich um. Der abgenutzte Besen streifte ihre bestrumpften Füße, und sie umklammerte überrascht den Stiel. Sie sagte etwas, das Isak nicht verstand.

»Guten Tag, ich bin gekommen, um mit Pastor Shin zu sprechen.« Er lächelte.

Die Dienerin huschte nach hinten in den Kirchenraum, und im nächsten Moment kam Pastor Shin aus seinem Büro. Er war Anfang fünfzig. Eine Brille mit dicken Gläsern verdeckte seine tief liegenden braunen Augen. Sein kurz geschnittenes Haar war noch nicht ergraut. Das weiße Hemd und die graue Hose waren gebügelt. Alles an seiner Person wirkte kontrolliert und diszipliniert.

»Willkommen.« Pastor Shin lächelte beim Anblick des attraktiven jungen Mannes, der einen Anzug im westlichen Stil trug. »Was kann ich für Sie tun?«

»Ich bin Baek Isak. Meine Lehrer vom Priesterseminar haben Ihnen geschrieben, soweit ich weiß.«

»Pastor Baek! Endlich sind Sie hier! Ich hatte Sie vor Monaten erwartet. Es freut mich sehr, Sie zu sehen. Kommen Sie, mein Büro ist ganz hinten. Da ist es ein bisschen wärmer.« Er bat die Dienerin, ihnen Tee zu bringen.

»Seit wann sind Sie in Busan? Sie sind doch auf dem Weg zu unserer Schwesternkirche in Osaka, richtig?«

Der ältere Pastor sprach so schnell und ohne Pausen, dass Isak nicht zum Antworten kam. Pastor Shin hatte das Priesterseminar in Pjöngjang gleich nach seiner Gründung besucht, und jetzt freute er sich, jemanden kennenzulernen, der kürzlich dort seinen Abschluss gemacht hatte. Freunde, die mit ihm am Seminar studiert hatten, waren Isaks Lehrer gewesen.

»Haben Sie eine Unterkunft? Wir können Ihnen hier ein Zimmer geben. Wo ist Ihr Gepäck?« Shin war überglücklich. Es war lange her, dass ein neuer Pastor bei ihnen haltgemacht hatte. In letzter Zeit war Shin einsam gewesen. »Ich hoffe, Sie bleiben ein bisschen.«

Isak lächelte.

»Es tut mir leid, dass ich nicht eher gekommen bin. Ich wollte mich Ihnen vorstellen, aber ich lag krank in einem Gästehaus in Yeongdon. Die Witwe Kim Hoonies und ihre Tochter haben sich um mich gekümmert. Das Gästehaus liegt näher am Meer als am Hafen. Kennen Sie die Familie?«

Pastor Shin legte den Kopf schräg.

»Nein, ich kenne nicht viele Menschen, die auf Yeongdo leben. Ich werde Sie dort in nächster Zeit besuchen. Sie sehen gut aus. Ein bisschen dünn, aber die meisten Menschen essen in letzter Zeit nicht genug, scheint mir. Haben Sie gegessen? Wir haben genug, um abgeben zu können.«

»Ich habe gegessen, Sir. Vielen Dank.«

Als der Tee gebracht wurde, fassten die Männer sich an den Händen, beteten und dankten für Isaks sichere Ankunft.

»Sie haben vor, bald nach Osaka zu reisen?«

»Ja.«

»Gut, gut.«

Der ältere Pastor sprach ausführlich über die Schwierigkeiten, mit denen die Gemeinden in letzter Zeit zu schaffen hatten. Immer mehr Menschen sowohl hier als auch in Japan hatten Angst, zum Gottesdienst zu gehen, weil die Regierung die Kirche missbilligte. Viele der westlichen Missionare hatten wegen des harten Vorgehens der Kolonialherrscher das Land verlassen, und immer weniger junge Leute ließen sich zum Pastor ausbilden.

Isak wusste von diesen traurigen Entwicklungen und war bereit, sich den Schwierigkeiten zu stellen. Seine Lehrer hatten mit ihm darüber gesprochen, dass er in Opposition zur Regierung stehen würde. Isak sagte nichts.

»Liegt Ihnen etwas auf dem Herzen?«, fragte Shin.

»Sir, ich möchte mit Ihnen sprechen. Über das Buch Hosea.«

»Aha? Natürlich.« Pastor Shin sah ihn fragend an.

»Gott verlangt, dass der Prophet Hosea eine Hure heiratet und Kinder aufzieht, die er nicht gezeugt hat. Vermutlich ist es die Absicht des Herrn, dem Propheten zu zeigen, wie es ist, wenn man an ein Volk gebunden ist, das einem immer wieder untreu ist. Ist das richtig?«, fragte Isak.

»Ja, schon, unter anderem. Und der Prophet Hosea erfüllt die Bitte des Herrn«, sagte Pastor Shin mit wohltönender Stimme. Über diese Geschichte hatte er schon mehrmals gepredigt.

»Der Herr lässt uns nicht fallen, auch wenn wir sündigen. Er liebt uns trotzdem. In gewisser Weise ähnelt die Liebe Gottes einer langen Ehe. Oder der Liebe, die eine Mutter oder ein Vater für ein ungeplantes Kind haben. Hosea hatte den Auftrag, wie Gott zu sein und einen Menschen zu lieben, der schwer zu lieben war. Wir sind schwer zu lieben, wenn wir sündigen; eine Sünde ist immer eine Übertretung gegen den Herrn.« Shin studierte Isaks Gesicht, um zu sehen, ob der ihn verstanden hatte.

Isak nickte ernst. »Glauben Sie, es ist für uns wichtig, so zu lieben wie Gott?«

»Ja, natürlich. Wenn wir jemanden lieben, können wir nicht anders, als sein Leiden zu teilen. Wenn wir den Herrn lieben und ihn nicht nur bewundern oder fürchten oder etwas von ihm wollen, müssen wir begreifen, welch großen Kummer wir ihm mit unseren Sünden zufügen. Der Herr leidet mit uns. Er leidet wie wir. Das zu wissen, ist ein Trost. Zu wissen, dass wir in unserem Leid nicht allein sind.«

»Sir, die Witwe in dem Logierhaus und ihre Tochter haben mir das Leben gerettet. Als ich bei ihnen vor der Tür stand, hatte ich Tuberkulose, und sie haben mich drei Monate lang gepflegt.«

Pastor Shin nickte verstehend.

»Diese Menschen haben mit Edelmut und Freundlichkeit gehandelt.«

»Sir, die Tochter ist schwanger, und sie ist von dem Vater des Kindes im Stich gelassen worden. Sie ist unverheiratet, und das Kind wird keinen Namen haben.«

Shin machte ein besorgtes Gesicht.

»Mir scheint es nur richtig, um die Hand der Tochter anzuhalten, und wenn sie einverstanden ist, nehme ich sie als meine Frau mit nach Japan. Ich möchte Sie in diesem Fall bitten, uns vor unserer Reise zu trauen. Ich würde mich geehrt fühlen, wenn –«

Pastor Shin legte seine rechte Hand vor den Mund. Christen taten so etwas, sie opferten ihren Besitz und sogar ihr Leben, aber solche Entscheidungen mussten aus guten Gründen und mit klarem Verstand getroffen werden. Der Heilige Paulus und der Heilige Johannes hatten gesagt: »Prüfet aber alles.«

»Haben Sie Ihren Eltern davon geschrieben?«

»Nein. Aber ich glaube, sie würden es verstehen. Ich habe mich einmal geweigert zu heiraten, und sie waren überrascht. Vielleicht würde es sie diesmal freuen.«

»Warum haben Sie einmal die Ehe verweigert?«

»Ich bin von Geburt an kränklich. In den letzten Jahren hatte sich meine Gesundheit verbessert, aber auf der Reise hierher wurde ich wieder krank. Niemand in meiner Familie hat damit gerechnet, dass ich älter als fünfundzwanzig würde. Jetzt bin ich sechsundzwanzig.« Isak lächelte. »Hätte ich geheiratet und Kinder bekommen, hätte ich womöglich eine junge Frau zur Witwe gemacht und Kinder als Waisen zurückgelassen.«

»Ich verstehe.«

»Ich hätte tot sein sollen, Sir, aber ich lebe.«

»Darüber bin ich sehr froh. Gelobt sei der Herr.« Shin lächelte dem jungen Mann zu und wusste nicht, wie er ihn davor bewahren konnte, dieses große Opfer zu bringen. In gewisser Weise war er fassungslos. Hätte er nicht die herzlichen Briefe seiner Freunde aus Pjöngjang bekommen, die Isak große Intelligenz und Kompetenz bestätigten, hätte Shin ihn für einen religiösen Eiferer gehalten.

»Was hält die junge Frau von der Idee?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe noch nicht mit ihr gesprochen. Die Witwe hat mir das von ihrer Tochter erst gestern erzählt. Und gestern vor meinem Abendgebet kam es mir in den Sinn, dass ich der Frau und dem Kind meinen Namen geben kann. Was bedeutet mir mein Name? Es ist eine Sache der Gnade, dass ich als männliches Kind geboren wurde und meine Nachkommen in das Familienregister eintragen lassen kann. Wenn die junge Frau von einem Lump im Stich gelassen wurde, ist es nicht ihre Schuld, und selbst wenn der Mann kein schlechter Mensch ist – das ungeborene Kind ist in jedem Fall unschuldig. Warum soll es leiden? Es würde aus der Gesellschaft ausgestoßen.«

Shin konnte dem nicht widersprechen.

»Wenn der Herr mich am Leben lässt, will ich Sunja ein guter Ehemann sein, und dem Kind ein guter Vater.«

»Sunja?«

»Ja. So heißt die Tochter.«

»Ihr Glaube ist fest, und Ihre Absichten sind richtig, aber –«

»Jedes Kind sollte erwünscht sein; die Frauen und Männer in der Bibel haben geduldig um Kinder gebetet. Unfruchtbarkeit hatte zur Folge, dass man verstoßen wurde, war es nicht so? Wenn ich nicht heirate und keine Kinder bekomme, dann bin ich ein unfruchtbarer Mann.« Isak hatte diesen Gedanken nie zuvor formuliert, und der plötzliche Wunsch, eine Frau und eine Familie zu haben, kam ihm sowohl seltsam als auch richtig vor.

Shin bedachte den jungen Geistlichen mit einem schwachen Lächeln. Seitdem er selbst vor fünf Jahren seine Frau und vier seiner Kinder an die Cholera verloren hatte, war Verlust für ihn nicht mehr in Worte zu fassen. Alles, was Menschen dazu sagten, klang hohl und töricht. Zuvor hatte er nicht wirklich begriffen, was Leiden bedeutet. Was er über Gott und die Theologie gelernt hatte, wurde viel unmittelbarer und persönlicher, nachdem ihm seine Familie so grausam geraubt worden war. Sein Glaube war nicht ins Wanken geraten, aber sein Naturell hatte sich verändert. Es war, als wäre es in einem ehemals warmen Zimmer kälter geworden, aber es war immer noch dasselbe Zimmer. Shin bewunderte den Idealisten vor sich, dessen junge Augen mit seinem Glauben leuchteten, aber er war der Ältere und wollte Isak raten, sich vorzusehen.

»Gestern Morgen hatte ich angefangen, das Buch Hosea zu studieren, und wenige Stunden später erzählte mir die Ajumoni des Logierhauses von ihrer schwangeren Tochter. Am Abend war es mir klar. Der Herr hatte zum ersten Mal zu mir gesprochen. Ich habe bisher nie diese Art von Klarheit gehabt.« Isak hatte das Gefühl, das zugeben zu können. »Haben Sie ähnliche Erfahrungen gemacht?« Er versuchte, Anzeichen von Zweifel in den Augen des älteren Pastors zu entdecken.

»Ja, das habe ich, aber nicht immer so eindringlich. Wenn ich die Bibel lese, höre ich Gottes Stimme, und deshalb verstehe ich vermutlich, wie es Ihnen ergangen ist, aber es gibt auch Zufälle. Das müssen wir anerkennen. Es ist gefährlich, zu denken, alles sei ein Zeichen von Gott. Vielleicht spricht Gott immer zu uns, aber wir hören nicht immer zu«, sagte Shin. Es war schwierig, diese Ungewissheit einzugestehen, aber er fand es wichtig.

»Ich kann mich aus der Zeit, als ich jung war, an mindestens drei unverheiratete Mädchen erinnern, die sitzen gelassen wurden, nachdem sie schwanger geworden waren. Zwei von ihnen haben sich umgebracht. Und das Hausmädchen, das bei uns war, kehrte zu ihrer Familie in Wonsan zurück und erzählte, ihr Mann sei gestorben. Meine Mutter, die sonst nie lügt, hatte ihr das geraten«, sagte Isak.

»Dergleichen passiert heute viel öfter«, sagte Shin. »Besonders in schwierigen Zeiten.«

»Die Ajumoni des Logierhauses hat mir das Leben gerettet. Vielleicht hat mein Leben für diese Familie eine Bedeutung. Ich hatte immer den Wunsch, etwas Bedeutsames zu tun, bevor ich sterbe. Wie mein Bruder Samoel.«

Shin nickte. Von seinen Freunden im Priesterseminar hatte er gehört, dass Samoel Baek eine führende Rolle in der Unabhängigkeitsbewegung gespielt hatte.

»Vielleicht ist auch mein Leben bedeutsam – nicht für viele Menschen, wie bei meinem Bruder, sondern für ein paar. Vielleicht kann ich dieser jungen Frau und ihrem Kind helfen. Und sie helfen mir, weil ich so eine eigene Familie haben werde – ein großer Segen, wie immer man es betrachtet.«

Der junge Pastor würde sich von seinem Vorhaben nicht abbringen lassen. Shin atmete tief ein.

»Bevor Sie endgültig entscheiden, möchte ich das Mädchen kennenlernen. Und die Mutter.«

»Ich bitte sie, mit mir hierherzukommen. Sofern Sunja bereit ist, mich zu heiraten. Eigentlich kennt sie mich kaum.«

»Das ist nicht so wichtig.« Shin zuckte die Achseln. »Ich habe meine Frau das erste Mal an unserem Hochzeitstag gesehen. Ich verstehe Ihren Wunsch, zu helfen, aber die Ehe ist ein wichtiger Bund, der vor Gott geschlossen wird. Das wissen Sie. Bringen Sie die beiden her, wann immer es möglich ist.«

Der ältere Pastor legte Isak die Hände auf die Schultern und betete für ihn, dann ging Isak.

 

Als Isak zum Logierhaus zurückkam, lagen die Brüder Chung auf dem geheizten Fußboden. Sie hatten gegessen, und die Frauen räumten das letzte Geschirr ab.

»Ah, war der Pastor in der Stadt? Dann geht es Ihnen so gut, dass Sie ein Gläschen mit uns trinken können?« Gombo, der älteste der drei, zwinkerte. Isak zu einem Gläschen zu überreden, war seit Monaten ein stehender Witz zwischen ihnen.

»Wie war der Fang?«, fragte Isak.

»Keine Meerjungfrauen«, sagte Fatso, der Jüngste, und mimte Enttäuschung.

»Oh, schade«, sagte Isak.

»Pastor, möchten Sie jetzt gern essen?«, fragte Yangjin.

»Ja, gern.« Der Ausflug hatte ihn hungrig gemacht, und es war ein wunderbares Gefühl, sich auf das Essen zu freuen.

Die Brüder Chung hatten nicht die Absicht, sich aufzusetzen, aber sie machten ihm Platz. Gombo klopfte Isak auf den Rücken wie einem alten Freund.

In der Gesellschaft der Logiergäste, besonders der umgänglichen Brüder Chung, fühlte Isak sich als Mann akzeptiert und kam sich nicht wie ein kränklicher Student vor, der sein Leben mit Büchern im Haus verbrachte.

Sunja stellte einen niedrigen Tisch vor ihn, auf dem einige Beilagenschälchen, ein heißer Eintopf und eine Schale mit einer großzügigen Portion Hirse-Gersten-Brei standen.

Isak senkte den Kopf zum Gebet, und die anderen schwiegen und fühlten sich unbehaglich, bis Isak den Kopf wieder hob.

»Der hübsche Pastor kriegt also mehr Reis als ich«, sagte Fatso klagend. »Aber warum sollte mich das überraschen?« Er versuchte, Sunja mit gespielter Verärgerung anzusehen, aber sie beachtete ihn nicht.

»Haben Sie schon gegessen?« Isak hielt Fatso seine Schale hin. »Es ist reichlich da –«

Der mittlere der Brüder, der vernünftige, legte seine Hand auf den ausgestreckten Arm des Pastors. »Fatso hat drei Schalen Hirse und zwei Schalen Suppe gegessen. Er hat in seinem Leben noch keine Mahlzeit ausgelassen und isst Unmengen.«

Fatso stieß seinem Bruder in die Rippen.

»Ein kräftiger Mann hat einen kräftigen Appetit. Du bist eifersüchtig, weil die Meerjungfrauen mich lieber mögen als dich. Eines Tages heirate ich ein hübsches Mädchen vom Markt, die dann für den Rest meines Lebens an meiner Seite arbeitet. Dann kannst du die Fischernetze allein flicken.«

Gombo und der mittlere Bruder lachten, aber Fatso schenkte ihnen keine Beachtung.

»Vielleicht sollte ich noch ein Schälchen Reis essen. Ist noch welcher da?«, fragte er Sunja.

»Möchtest du nicht den Frauen etwas übrig lassen?«, fragte Gombo.

»Ist nicht genug für die Frauen da?« Isak legte seinen Löffel hin.

»Doch, doch, es ist reichlich für uns da. Seien Sie unbesorgt. Wenn Fatso mehr haben will, bringen wir es ihm«, versicherte Yangjin ihm.

Fatso machte ein verlegenes Gesicht.

»Ich habe gar keinen Hunger. Wir sollten jetzt eine Pfeife rauchen.« Er kramte in seinen Taschen nach Tabak.

»Sagen Sie, Pastor Isak, verlassen Sie uns demnächst und reisen nach Osaka? Oder fahren Sie mit uns auf dem Boot raus, um nach Meerjungfrauen zu fischen? Sie sehen jetzt kräftig genug aus, um die Netze einzuholen«, sagte Fatso. Er zündete die Pfeife an und gab sie erst seinem ältesten Bruder, bevor er selbst einen Zug nahm. »Warum wollen Sie diese schöne Insel verlassen und in einer kalten Stadt leben?«

Isak lachte. »Ich warte auf eine Antwort von meinem Bruder. Sobald ich mich kräftig genug fühle, mache ich die Reise zu meiner Gemeinde in Osaka.«

»Denken Sie an die Meerjungfrauen von Yeongdo.« Fatso winkte zu Sunja hinüber, die gerade in die Küche ging. »Solche wie hier gibt es in Japan nicht.«

»Ihr Angebot ist verlockend. Vielleicht sollte ich mir eine Meerjungfrau suchen, die ich mit nach Osaka nehmen kann.«

Isak zog die Augenbrauen hoch.

»Sollte der Pastor einen Witz gemacht haben?« Fatso klatschte begeistert mit der Hand auf den Fußboden.

Isak trank von seinem Tee.

»Es wäre vielleicht besser, wenn ich für mein neues Leben in Osaka eine Frau hätte.«

»Lasst mal den Tee. Gebt dem Bräutigam hier einen ordentlichen Drink!«, rief Gombo.

Die Brüder lachten laut, und Isak fiel mit ein.

In dem kleinen Haus hörten die Frauen alles, was die Männer sagten. Bei der Vorstellung, dass der Pastor heiraten würde, schoss Dokhee die Röte der Begierde in den Nacken, und ihre Schwester warf ihr einen Blick zu, der sagte: Bist du verrückt? In der Küche nahm Sunja das Geschirr von den Tabletts, hockte sich vor das lange Messingbecken und begann mit dem Abwasch.