14

Am nächsten Morgen fand Isak anhand eines Plans, den sein Bruder ihm auf ein Stück Einwickelpapier gezeichnet hatte, die Hanguk-Presbyterianische-Kirche – ein Holzbau mit schrägen Wänden in einer Nebenstraße von Ikaino, nur wenige Schritte von der Shotengai, der Einkaufsstraße, entfernt –, und der einzige Hinweis auf ihre Bestimmung war das weiße Holzkreuz an der braunen Holztür.

Sexton Hu, der Küster, ein junger Chinese und Pastor Yoos Zögling, brachte Isak zum Kirchenbüro. Pastor Yoo war mitten in einem Beratungsgespräch mit einem Geschwisterpaar. Hu und Isak warteten vor der Tür. Die junge Frau sprach mit leiser Stimme, Pastor Yoo nickte verständnisvoll.

»Sollte ich später wiederkommen?«, fragte Isak leise.

»Nein, Sir.«

Hu, ein nüchterner Mann, musterte den neuen Geistlichen. Er war beeindruckt von dessen Attraktivität, fand aber, dass ein Mann in seinen besten Jahren kräftiger sein sollte. Pastor Yoo war früher groß und sportlich gewesen, ein ausdauernder Läufer und ausgezeichneter Fußballspieler. Inzwischen war er älter und in sich zusammengesunken, zudem litt er unter Katarakt und Glaukom.

»Jeden Morgen hat Pastor Yoo gefragt, ob es Nachrichten von Ihnen gebe. Wir wussten nicht, wann Sie eintreffen würden. Sonst hätte ich Sie vom Bahnhof angeholt.« Hu war bestimmt nicht älter als zwanzig; er sprach sehr gut Japanisch und Koreanisch und hatte das Auftreten eines viel älteren Mannes. Er trug ein abgetragenes Oberhemd mit zerschlissenem Kragen, das er in seine braune Wollhose gestopft hatte. Sein dunkelblauer Pullover aus dicker Wolle war an ein paar Stellen geflickt. Seine Wintersachen waren von den kanadischen Missionaren, die selbst nicht viel hatten, zurückgelassen worden.

Isak wandte sich zur Seite und hustete.

»Mein Junge, wer ist das da bei dir?« Yoo wandte den Kopf den Stimmen an der Tür zu und schob sich die schwere Hornbrille höher auf die Nase, obwohl ihm das nicht zu besserer Sicht verhalf. Hinter der milchig-grauen Schicht vor seinen Augen blieb sein Ausdruck ruhig und sicher. Sein Gehör war äußerst scharf. Er konnte die Formen bei der Tür nicht erkennen, aber er wusste, dass eine Hu gehörte, dem Waisenkind aus der Mandschurei, das vor langer Zeit von einem japanischen Offizier bei der Kirchentür abgelegt worden war, und dass ihm die Stimme des Mannes, mit dem Hu sprach, nicht vertraut war.

»Es ist Pastor Baek«, sagte Hu.

Die Geschwister, die vor dem Pastor auf dem Boden saßen, drehten sich um und verneigten sich.

Yoo wollte das sich hinziehende Gespräch mit dem Geschwisterpaar möglichst schnell beenden.

»Kommen Sie zu mir, Isak. Für mich ist es beschwerlich, zu Ihnen zu kommen.«

Isak tat es.

»Endlich sind Sie da. Halleluja.« Yoo legte Isak leicht die Hand auf den Kopf.

»Der Herr segne Sie, mein lieber Sohn.«

»Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie habe warten lassen. Ich bin erst gestern Abend in Osaka angekommen«, sagte Isak. Trotz des fast vollständigen Verlusts seiner Sehkraft wirkte der Geistliche rüstig, seine Sitzhaltung war aufrecht und fest.

»Mein Sohn, kommen Sie näher.«

Isak kam näher, und der ältere Mann drückte erst Isaks Hände, dann nahm er dessen Gesicht zwischen die weichen Handflächen.

Bruder und Schwester sahen schweigsam zu. Im Türrahmen kniete Hu und wartete auf Yoos nächste Anweisung.

»Sie wurden mir geschickt, wissen Sie«, sagte Yoo.

»Danke, dass ich kommen durfte.«

»Ich freue mich, dass Sie endlich hier sind. Haben Sie Ihre Frau mitgebracht? Hu hat mir Ihren Brief vorgelesen.«

»Heute ist sie zu Hause. Am Sonntag kommt sie mit.«

»Ja, ja.« Der ältere Mann nickte. »Die Gemeinde wird sich aufrichtig freuen, Sie hier zu haben. Ah, Sie müssen diese Familie kennenlernen!«

Die Geschwister verneigten sich abermals zu Isak hin. Ihnen fiel auf, wie viel glücklicher als je zuvor der Pastor aussah.

»Die beiden sind in einer Familienangelegenheit gekommen«, sagte Yoo zu Isak, dann wandte er sich wieder dem Paar zu.

Die Schwester verhehlte ihren Ärger kaum. Das Geschwisterpaar stammte aus einem Dorf auf der Insel Jeju und war weit weniger förmlich als junge Menschen aus der Stadt. Das dunkelhäutige Mädchen mit dem dicken schwarzen Haar sah kräftig und gesund aus, sie war außerordentlich hübsch und hatte ein unschuldiges Äußeres. Sie trug ein langärmliges weißes Hemd, das bis zum Kragen geknöpft war, und indigoblaue Mompei-Hosen.

»Das ist der neue Vikar, Baek Isak. Sollten wir ihn um Rat fragen?« Yoos Tonfall machte es den Geschwistern unmöglich, dies abzulehnen.

Isak lächelte ihnen zu. Die Schwester war vielleicht zwanzig, der Bruder jünger.

Die Angelegenheit war kompliziert, aber nicht ungewöhnlich. Die Geschwister hatten über Geld gestritten. Die Schwester hatte von einem japanischen Manager in der Textilfabrik, wo sie arbeitete, Geldgeschenke angenommen. Der Manager war älter als der Vater der Geschwister und hatte fünf Kinder. Er führte die Schwester in Restaurants aus und gab ihr kleine Geschenke und Bargeld. Das Mädchen schickte alles Geld an ihre Eltern, die bei einem Onkel in Jeju lebten. Der Bruder fand es falsch, diese Geldgeschenke anzunehmen.

»Was will er von ihr?«, fragte der Bruder unverblümt an Isak gewandt. »Man sollte sie daran hindern. Das ist Sünde.«

Yoo senkte den Kopf, erschöpft von der Uneinsichtigkeit der beiden.

Die Schwester war außer sich, dass sie herkommen und sich die Beschuldigungen ihres Bruders anhören musste. »Die Japaner haben unserem Onkel den Hof weggenommen. Wir können zu Hause nicht leben, weil es keine Arbeit gibt. Wenn ein Japaner mir ein bisschen Geld geben und mich zum Essen einladen will, sehe ich darin nichts Schlechtes«, sagte die Schwester. »So viel ist es gar nicht. Ich würde auch das Doppelte nehmen.«

»Er erwartet etwas, und er ist gemein.«

»Ich würde Yoshikawa-san nie erlauben, mich anzufassen. Ich sitze lediglich neben ihm und höre ihm zu, während er von seiner Familie und seiner Arbeit erzählt.« Sie erwähnte nicht, dass sie ihm die Getränke einschenkte und das Rouge trug, das er ihr gekauft hatte und das sie sich aus dem Gesicht wischte, bevor sie nach Hause ging.

»Er bezahlt dich, damit du mit ihm flirtest. Eine Hure wird auch fürs Flirten bezahlt.« Die Stimme des Bruders war jetzt erregt. »Anständige Frauen gehen nicht mit verheirateten Männern in Restaurants! Solange wir in Japan arbeiten, sagt unser Vater, habe ich die Verantwortung und muss auf meine Schwester achten. Was spielt es für eine Rolle, dass sie älter ist? Sie ist ein Mädchen, und ich bin der Mann! Ich erlaube nicht, dass das weitergeht.«

Der Bruder war vier Jahre jünger als seine neunzehn Jahre alte Schwester. Sie lebten bei einer entfernten Cousine in beengten Räumen in Ikaino. Die Cousine, eine ältere Frau, kümmerte sich nicht weiter um die beiden, solange sie ihren Anteil an der Miete bezahlten; da sie nicht zum Gottesdienst kam, kannte Pastor Yoo sie nicht.

»Zu Hause hungern unsere Eltern. Unser Onkel kann seine eigene Frau und seine Kinder nicht ernähren. Gott will, dass ich meine Eltern ehre. Es ist eine Sünde, nicht für sie zu sorgen. Wenn ich meine Ehre verlieren muss –« Das Mädchen begann zu weinen. »Ist es nicht möglich, dass Yoshikawa-san von Gott zu unserer Rettung ausersehen ist?« Sie sah Pastor Yoo an, der die Hände des Mädchens in seine nahm und den Kopf senkte, als bete er.

Der Wunsch, eine schlechte Tat in eine gute umzudeuten, war nicht ungewöhnlich. Und niemand wollte gern hören, dass es nicht im Sinne des Herrn war, wenn eine junge Frau ihren Körper hergab, um eins der zehn Gebote einzuhalten. Eine Sünde kann nicht reingewaschen werden, bloß weil sie zu einem guten Ergebnis führt.

»Aigoo«, seufzte Yoo. »Wie schwer es dir sein muss, das Gewicht der Welt auf deinen schmalen Schultern zu tragen. Wissen deine Eltern, woher du das Geld hast?«

»Sie denken, es wäre mein Lohn, aber der reicht gerade mal für die Miete und unsere Kosten. Mein Bruder muss zur Schule gehen; unsere Mutter hat gesagt, ich bin verantwortlich dafür, dass er sie zu Ende macht. Er droht, von der Schule abzugehen und sich eine Arbeit zu suchen, aber dann wird er sein Leben lang nur schlechte Arbeit finden. Ich meine, wenn er nicht Japanisch lesen und schreiben kann.«

Isak war über ihre gut durchdachten Argumente erstaunt. Er war gut sechs Jahre älter als sie, aber derartige Überlegungen hatte er nie angestellt. Er hatte noch nie Geld verdient. Als man ihn für eine Weile in der Gemeinde zu Hause als Laienpastor eingesetzt hatte, verzichtete er auf seinen Lohn, weil das Geld auch für die grundlegenden Bedürfnisse der Gemeinde nicht reichte. Er wusste nicht, was er hier verdienen würde. Über die Bedingungen war bislang nicht gesprochen worden; er hatte angenommen, sein Entgelt würde ihn und jetzt auch seine Familie ernähren. Bislang hatte er immer Geld in der Tasche gehabt oder konnte seine Eltern oder seinen Bruder darum bitten, und so hatte er sich weder um Verdienst noch um Lebenshaltungskosten gekümmert. In der Gegenwart dieser jungen Leute kam er sich vor wie ein egoistischer Idiot.

»Pastor Yoo, wir möchten, dass Sie das entscheiden. Auf mich hört sie nicht, aber auf Sie wird sie hören«, sagte der Bruder leise. »Sie muss einfach auf Sie hören.«

Die Schwester hielt den Kopf gesenkt. Sie wollte nicht, dass Pastor Yoo schlecht von ihr dachte. Der Sonntagmorgen war für sie sehr besonders; die Kirche war der einzige Ort, wo sie sich wohlfühlte. In ihren Augen tat sie nichts Schlimmes, wenn sie sich mit Yoshikawa-san traf, aber sie war überzeugt, dass seine Frau nichts von diesen Treffen wusste; oft wollte er ihre Hand halten, und das war nicht ganz harmlos. Erst vor Kurzem hatte er vorgeschlagen, zusammen in ein herrliches Onsen in Kyoto zu gehen, aber sie hatte sich herausgeredet und gesagt, sie müsse das Essen für ihren Bruder kochen.

»Wir haben die Pflicht, unsere Familien zu unterstützen, das ist wohl wahr«, begann Yoo, und die Schwester war sichtlich erleichtert, »aber wir müssen auch auf unsere Tugend achten – sie ist wertvoller als Geld. Dein Körper ist ein heiliger Tempel, in dem der Heilige Geist wohnt. Die Sorgen deines Bruders sind legitim. Aber von unserem Glauben abgesehen und aus praktischen Erwägungen gesprochen: Wenn du heiraten möchtest, sind deine Reinheit und dein Ruf von oberster Bedeutung. Die Welt ist streng in ihrem Urteil gegen Mädchen, die unzüchtig geworden sind – auch wenn es unverschuldet ist. Das ist falsch, aber so geht es in dieser sündigen Welt zu«, sagte Yoo.

»Aber er darf nicht von der Schule abgehen, Sir. Ich habe Mutter versprochen –«, sagte die Schwester.

»Er ist jung. Er kann später noch zur Schule gehen«, entgegnete Yoo, obwohl er wusste, dass dies unwahrscheinlich war.

Der Bruder atmete sichtlich auf; diesen Vorschlag hatte er nicht erwartet. Er hasste die Schule – die japanischen Lehrer hielten ihn für dumm, und die anderen Jungen hänselten ihn wegen seiner Kleidung und seines Akzents; der Bruder wollte so viel Geld wie möglich verdienen, damit seine Schwester ihre Stelle aufgeben oder sich eine andere Arbeit suchen konnte und er Geld nach Jeju schicken konnte.

Die junge Frau schluchzte.

Yoo schluckte und sagte ruhig: »Du hast recht, es wäre besser, dein Bruder könnte die Schule zu Ende machen. Und wäre es nur für ein Jahr oder zwei, damit er lesen und schreiben lernt. Das Beste ist unzweifelhaft eine gute Schulbildung; unser Land braucht eine neue Generation gebildeter Menschen, die es führen können.«

Die Schwester beruhigte sich, weil sie hoffte, der Pastor würde sich doch noch auf ihre Seite schlagen.

Isak hörte Yoo voller Bewunderung zu und sah, dass der ältere Pastor ein verständnisvoller und überzeugender Ratgeber war.

»Yoshikawa-san wünscht sich bisher nichts außer deiner Gesellschaft, aber vielleicht möchte er später mehr von dir, und dann stehst du plötzlich in seiner Schuld. Du würdest dich ihm verpflichtet fühlen. Vielleicht hättest du Angst, deine Stelle zu verlieren. Und dann ist es womöglich zu spät. Du denkst vielleicht, du benutzt ihn, aber wollen wir so sein? Wollen wir andere ausbeuten, weil wir ausgebeutet wurden, mein liebes Kind?«

Isak nickte zustimmend, er war von dem Einfühlungsvermögen und der Weisheit des Pastors beeindruckt. Er selbst hätte nicht gewusst, was er hätte raten sollen.

»Isak, würden Sie diese Kinder segnen?«, fragte Yoo, und Isak fing ein Gebet für sie an.

Bruder und Schwester gingen ohne weitere Widerworte davon und würden zweifellos am Sonntag zum Gottesdienst erscheinen.

 

Der Küster war unterdessen verschwunden und kam jetzt mit drei großen Schalen zurück, die mit Weizennudeln in Schwarzer-Bohnen-Soße gefüllt waren. Die drei Männer beteten, bevor sie aßen. Sie saßen mit gekreuzten Beinen auf dem Boden, die Schalen heißer Suppe standen auf einem niedrigen Esstisch, den Hu aus alten Kisten gezimmert hatte. Im Raum war es kühl, und es fehlten Bodenkissen. Isak war überrascht, dass ihm das auffiel; er hatte immer gedacht, ihm seien solche Annehmlichkeiten nicht wichtig, aber er fand es ungemütlich, auf dem blanken Betonboden zu sitzen.

»Iss, mein Sohn. Hu ist ein guter Koch. Ohne ihn müsste ich hungern«, sagte Yoo und fing an zu essen.

»Wird die Schwester aufhören, sich mit dem Mann zu treffen?«, fragte Hu den Pastor.

»Wenn das Mädchen schwanger wird, lässt Yoshikawa sie sowieso fallen, und die Schule für den Bruder hört dann auch auf. Der Manager ist einfach einer von diesen romantischen Männern, die sich an der Gegenwart eines jungen Mädchens erfreuen und sich einbilden, verliebt zu sein. Bald wird er Sex wollen, und dann wird sein Interesse allmählich erlöschen. Männer und Frauen sind nicht besonders schwer zu verstehen«, sagte Yoo. »Sie soll aufhören, sich mit dem Manager zu treffen, und der Bruder soll sich eine Arbeit suchen. Auch sie sollte sich umgehend eine neue Stelle suchen. Zusammen können sie genug Geld verdienen, um ihren Eltern etwas davon zu schicken.«

Isak war von dem veränderten Ton des Pastors überrascht; er klang kalt, fast hochmütig.

Hu nickte und aß schweigend seine Nudeln, als würde er über das Gesagte nachdenken.

Yoo wandte sich Isak zu. »Ich habe es oft beobachtet. Das Mädchen denkt, es hat die Oberhand, weil diese Männer so gefügig erscheinen, aber tatsächlich ist es das Mädchen, das am Ende einen hohen Preis bezahlt. Der Herr vergibt, aber die Welt vergibt nicht.«

»Ja«, murmelte Isak.

»Wie kommt Ihre Frau mit der neuen Umgebung zurecht? Hat ihr Bruder genug Platz, um Sie beide unterzubringen?«

»Ja, mein Bruder hat ein Zimmer. Meine Frau erwartet ein Kind.«

»So schnell! Das ist ja schön«, sagte Yoo erfreut.

»Das ist wunderbar«, sagte Hu und klang zum ersten Mal wie ein junger Mann. Der Höhepunkt des Sonntagsgottesdienstes war es für Hu, wenn er die kleinen Kinder hinten im Chorraum herumlaufen sah. Bevor er nach Japan kam, hatte er in einem großen Waisenhaus gelebt, und er mochte es, wenn Kinderstimmen um ihn waren.

»Wo lebt Ihr Bruder?«

»Nur wenige Minuten von hier. Offenbar ist es schwierig, gute Wohnungen zu finden.«

Yoo lachte. »Niemand vermietet gern an Koreaner. Als Pastor haben Sie Gelegenheit, zu sehen, wie die Koreaner hier leben. Es ist unvorstellbar: zwölf in einem Raum, der für zwei geeignet ist, Männer und Familien, die schichtweise schlafen. Schweine und Hühner im Haus. Kein fließendes Wasser. Keine Heizung. Die Japaner halten die Koreaner für schmutzig, aber die Koreaner können nicht anders, als im Schmutz zu leben. Ich habe Adlige aus Seoul gesehen, die nichts mehr hatten, kein Geld für die Badeanstalt, nur in Lumpen gekleidet und barfuß, und sie bekommen nicht einmal Arbeit als Träger auf dem Markt. Sie haben keine Möglichkeit, Unterkunft zu finden. Selbst diejenigen, die Arbeit und Geld haben, finden keine Wohnung. Viele kommen illegal bei anderen unter.«

»Die Männer, die von japanischen Firmen ins Land geholt werden – sorgen da nicht die Arbeitgeber für Unterbringung?«

»In einer Region wie Hokkaido gibt es Unterkünfte, die zu den Bergwerken oder den größeren Fabriken gehören, aber sie sind nicht für Familien. Und die Bedingungen sind nicht besser; die Zustände sind erbarmungswürdig«, sagte Yoo sachlich. Auch diesmal klang Yoo unbeteiligt, und das überraschte Isak. Bei dem Gespräch mit den Geschwistern war Yoos Tonfall so anteilnehmend gewesen.

»Wo leben Sie?«, fragte Isak.

»Ich schlafe im Büro. In der Ecke da.« Yoo zeigte auf den Platz hinter dem Ofen. »Und Hu schläft in dieser Ecke.«

»Ich sehe keine Matratzen oder Decken –«

»Die sind im Wandschrank. Hu macht abends die Betten bereit und räumt sie am Morgen weg. Wir könnten Ihnen und Ihrer Familie Platz machen, wenn Sie Unterkunft brauchen. Das wäre dann Teil Ihres Entgelts.«

»Danke, Sir. Aber ich glaube, im Moment geht es so.«

Hu nickte, aber er hätte es gern gehabt, dass ein Baby bei ihnen wohnte; allerdings war es in der Kirche zu zugig für ein kleines Kind.

»Und die Mahlzeiten?«

»Hu kocht unsere Mahlzeiten auf dem Herd hinten im Haus. Es gibt da ein Becken und fließendes Wasser; der Abort ist da auch. Den haben die Missionare zum Glück dort eingerichtet.«

»Sie habe keine Familie?«, fragte Isak.

»Meine Frau starb zwei Jahre, nachdem wir hergekommen sind. Das ist fünfzehn Jahre her. Wir hatten keine Kinder.« Dann fügte Yoo hinzu: »Aber Hu ist mir ein Sohn. Er ist ein Segen für mich. Und jetzt sind Sie da, ein Segen für uns beide.«

Hu errötete, er freute sich, dass er erwähnt wurde.

»Wie stehen Sie finanziell?«, fragte Yoo.

»Darüber wollte ich mit Ihnen sprechen«, sagte Isak und fragte sich, ob es gut sei, darüber in Hus Gegenwart zu sprechen, doch dann verstand er, dass Hus Anwesenheit erforderlich war, weil er für den Pastor das Sehen übernehmen musste.

Yoo hob den Kopf und sagte mit fester Stimme, wie ein hartgesottener Kaufmann:

»Ihr Gehalt beträgt fünfzehn Yen im Monat. Das reicht nicht einmal für einen. Hu und ich zahlen uns kein Gehalt. Nur die laufenden Kosten. Dazu kommt, dass ich fünfzehn Yen im Monat nicht garantieren kann. Die kanadischen Gemeinden schicken uns etwas zur Unterstützung, aber nicht regelmäßig, und unsere Gemeindemitglieder geben nicht viel. Kommen Sie damit zurecht?«

Isak wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte keine Ahnung, welchen Beitrag sein Bruder von ihm für Kost und Logis erwartete. Er konnte seinen Bruder nicht bitten, ihn, seine Frau und das Baby zu ernähren.

»Kann Ihre Familie helfen?« Darauf hatte Yoo gebaut, als er Isak geholt hatte. Die Familie des jungen Mannes hatte in Pjöngjang Landbesitz, und laut seinen Auskunftgebern gab es Geld in der Familie, sodass es nicht allein auf Isaks Gehalt ankommen würde. Man hatte ihm gesagt, Isak habe auch nicht um ein Gehalt gebeten, als er als Laienpastor tätig war. Isak war kränklich und keine starke zweite Hand. Yoo hatte mit der finanziellen Unterstützung von Isaks Familie gerechnet.

»Ich … ich kann meinen Bruder nicht um finanzielle Unterstützung bitten, Sir.«

»Ah? Tatsächlich?«

»Und meine Eltern können zurzeit auch nicht helfen.«

»Ich verstehe.«

Hu tat der junge Pastor leid, der perplex und zugleich beschämt wirkte.

»Unsere Eltern haben viel von ihrem Landbesitz verkauft, um ihre Steuern zu bezahlen, und jetzt leben sie äußerst bescheiden. Mein Bruder schickt ihnen Geld, damit sie über die Runden kommen. Es kann sein, dass er auch die Familie meiner Schwägerin unterstützt.«

Yoo nickte. Damit hatte er nicht gerechnet, obwohl es ihn andererseits nicht überraschte, natürlich nicht. Warum sollte es bei Isaks Familie anders als bei anderen sein. Er hatte darauf gezählt, dass Isak sich selbst ernähren könnte. Angesichts seiner eigenen stark beeinträchtigten Sehkraft brauchte Yoo einen zweisprachigen Pastor, der ihm beim Schreiben der Predigten und bei den Verwaltungsarbeiten half.

»Die Kollekte ergibt vermutlich nicht genug?«, fragte Isak.

»Nein.« Yoo schüttelte heftig den Kopf. An den Sonntagmorgen kamen zwar fünfundsiebzig bis achtzig Gemeindemitglieder zum Gottesdienst, aber nur fünf oder sechs der Wohlhabenderen steuerten wirklich zur Kollekte bei. Die anderen konnten sich kaum mehr als zwei magere Mahlzeiten pro Tag leisten.

Hu räumte die leeren Schalen vom Tisch.

»Der Herr hat immer für uns gesorgt«, sagte er.

»Ja, mein Sohn, du hast wohl gesprochen.« Yoo lächelte dem jungen Mann zu; er wünschte, er hätte ihm eine Schulbildung geben können. Der Junge hatte eine natürliche Intelligenz und gute Anlagen, er wäre ein guter Schüler gewesen und ein guter Pastor geworden.

»Wir finden einen Weg«, sagte Yoo. »Für Sie muss das eine Enttäuschung sein.« Jetzt sprach er mit demselben Ton wie zuvor zu der Schwester.

»Ich bin dankbar für die Arbeit, Sir. Ich werde mit meiner Familie über die Gehaltslage sprechen. Hu hat natürlich recht: Der Herr wird für uns sorgen«, sagte Isak.

»Deine Hand hat mir alles gegeben, dessen ich bedurfte; groß ist deine Treue, Herr, zu mir!«, sang Pastor Yoo mit seinem vollen Tenor. »Der Herr hat Sie zu unserer Gemeinde geschickt. Gewiss wird er für unser materielles Wohlergehen sorgen.«