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Osaka, 1939

Yoseb atmete tief ein und blieb auf der Schwelle stehen, darauf gefasst, dass sich jeden Augenblick ein sechsjähriger Junge, der die ganze Woche auf seine Tüte Süßigkeiten gewartet hatte, auf ihn stürzen würde. Er schob die Tür auf und machte sich bereit.

Aber nichts.

Niemand war im vorderen Zimmer. Yoseb lächelte. Noa hatte sich wohl versteckt.

»Yobo. Ich bin wieder da«, rief er zur Küche hin.

Yoseb schloss die Tür hinter sich.

Er nahm die Tüte aus seiner Manteltasche und sagte in dramatischem Ton: »Huh, wo Noa wohl ist? Wenn er nicht zu Hause ist, dann kann ich ja seine Süßigkeiten essen. Oder ich kann sie für seinen Bruder aufheben. Vielleicht ist heute ein guter Tag, und Baby Mozasu bekommt seinen ersten Bonbon zu lutschen. Man ist nie zu jung für etwas Süßes! Schließlich ist er schon einen Monat alt. Nicht mehr lange, und Mozasu und ich machen Ringkämpfe miteinander, so wie Noa und ich! Er muss viele Kürbistoffees essen, damit er groß und stark wird.« Als Yoseb nichts hörte, wickelte er mit lautem Rascheln einen Bonbon aus und tat so, als würde er ihn sich in den Mund stecken.

»Wah, das sind die besten Kürbistoffees, die Piggy Ajumma jemals gemacht hat! Yobo«, rief er, »komm aus deinem Versteck, die musst du probieren! Sehr köstlich!«, sagte er und schmatzte laut, während er hinter der Kommode und der Schiebetür nachsah, wo Noa sich normalerweise versteckte.

Allein der Name seines Bruders hätte Noa normalerweise aus seinem Versteck gelockt. Er war im Grunde ein artiges Kind, aber in letzter Zeit war er ein paarmal ausgeschimpft worden, weil er seinen Bruder gekniffen hatte.

Yoseb sah in der Küche nach, aber da war niemand. Der Herd war kalt, und die Beilagenschüsseln standen auf dem kleinen Tisch bei der Tür; der Reistopf war leer. Normalerweise war das Abendessen fertig, wenn er nach Hause kam. Der Suppenkessel war halb voll mit Wasser, zerteilte Kartoffeln und geschälte Zwiebeln lagen bereit. Das Essen am Samstagabend war Yosebs Lieblingsessen, weil er am Sonntag nicht zu arbeiten brauchte, aber diesmal war nichts vorbereitet. Nach dem ausgiebigen Essen ging die Familie gewöhnlich zum Badehaus. Er machte die Seitentür in der Küche auf, aber auch da war nichts außer dem Unrat in der Gosse. Nebenan bereitete die älteste Tochter von Piggy Ajumma das Essen für die Familie vor, warf aber keinen Blick aus dem offen stehenden Fenster.

Vielleicht waren sie zum Markt gegangen, dachte er. Yoseb setzte sich auf eins der Bodenkissen im vorderen Zimmer und nahm eine seiner vielen Zeitungen. Gedruckte Wortsäulen über den Krieg verschwammen vor seinen Augen – Japan würde China retten, indem es seine Landwirtschaft industrialisierte; Japan würde der Armut in Asien ein Ende bereiten und der Region zu Wohlstand verhelfen; Japan würde Asien vor den gefährlichen Machenschaften des westlichen Imperialismus bewahren; allein Deutschland, Japans einziger und furchtloser Verbündeter, widerstand den Übeln des Westens. Yoseb glaubte kein einziges Wort, aber die Propaganda war überall. Jeden Tag las Yoseb drei oder vier Zeitungen, um den Auslassungen und Überschneidungen ein Körnchen Wahrheit zu entnehmen. An diesem Abend stand in allen Zeitungen dasselbe – die Zensoren mussten am Abend zuvor besonders eifrig gewesen sein.

Im Haus war es immer noch still, und Yoseb wurde ungeduldig; er wollte sein Abendessen. Wenn Kyunghee etwas vom Markt holen gegangen war, gab es keinen Grund, warum Sunja, Noa und das Baby nicht da waren. Isak hatte zweifellos in der Kirche zu tun. Yoseb zog sich die Schuhe wieder an.

Auf der Straße wusste niemand, wo seine Frau war, und als er zur Kirche kam, war sein Bruder nicht da. Das Büro hinter dem Kirchenraum war leer, von den üblichen Frauen abgesehen, die auf dem Boden saßen und mit gesenkten Köpfen Gebete murmelten.

Er musste lange warten, bevor die Frauen aufsahen.

»Entschuldigen Sie die Störung, aber haben Sie Pastor Baek oder Pastor Yoo gesehen?«

Die Frauen, Ajummas mittleren Alters, die fast jeden Abend zum Beten kamen, erkannten ihn als Pastor Baeks älteren Bruder.

»Sie haben ihn mitgenommen«, rief die Älteste, »und Pastor Yoo und den Jungen auch. Sie müssen ihnen helfen!«

»Was?«

»Die Polizei hat sie heute Morgen verhaftet – als alle sich vor dem Schrein verneigten, hat einer der Dorfältesten gesehen, dass Hu stumm das Vaterunser sprach, statt dem Kaiser Bündnistreue zu schwören, wie er es sollte. Der Polizist vom Dienst vernahm Hu, und Hu hat zu ihm gesagt, dass die Zeremonie Götzenverehrung sei und dass er nicht mehr daran teilnehmen würde. Pastor Yoo hat versucht zu erklären, dass der Junge falsch informiert war und nichts Böses beabsichtigte, aber Hu weigerte sich, Pastor Yoo zuzustimmen. Pastor Baek hat versucht zu helfen, aber Hu hat gesagt, er sei bereit, dafür ins Feuer zu gehen. So wie Schadrach, Meschach und Abed-Nego! Kennen Sie die Geschichte?«

»Ja, ja«, sagte Yoseb und war über ihren religiösen Eifer verärgert. »Sind sie jetzt auf der Polizeistation?«

Die Frauen nickten.

Yoseb rannte los.

 

Noa saß auf den Stufen vor der Polizeistation und hielt seinen kleinen schlafenden Bruder auf dem Schoß.

»Onkel«, flüsterte Noa und lächelte erleichtert. »Mo ist sehr schwer.«

»Du bist ein guter Bruder, Noa«, sagte Yoseb. »Wo ist deine Tante?«

»Da drin.« Noa wies mit dem Kopf Richtung Polizeigebäude, denn er hatte die Hände nicht frei. »Onkel, kannst du Mozasu halten? Meine Arme tun weh.«

»Kannst du noch einen kleinen Moment warten? Ich komme sofort zurück, oder ich schicke deine Mutter zu dir raus.«

»Umma hat gesagt, ich bekomme eine Süßigkeit, wenn ich Mozasu still halte und nicht kneife. Sie lassen keine Babys rein«, sagte Noa sachlich. »Aber ich habe Hunger. Ich sitze hier schon ewig.«

»Onkel gibt dir eine Süßigkeit, Noa. Onkel ist gleich wieder da«, sagte Yoseb.

»Aber, Onkel – Mo ist –«

»Ich weiß, Noa, aber du bist sehr stark.«

Noa reckte die Schultern und setzte sich aufrecht hin. Er sah zu seinem Onkel auf, er wollte ihn auf keinen Fall enttäuschen.

Yoseb wollte gerade die Tür zu der Station aufmachen, als er Noas Stimme hörte.

»Onkel, was soll ich machen, wenn Mozasu anfängt zu weinen?«

»Dann singst du ihm ein Lied und läufst ein bisschen auf und ab. So, wie ich es gemacht habe, als du klein warst. Erinnerst du dich daran?«

»Nein, das weiß ich nicht mehr«, sagte Noa mit Tränen in den Augen.

»Onkel ist gleich zurück.«

 

Bei der Polizei wollte man ihn nicht zu Isak lassen. Die Frauen saßen im Warteraum, und Sunja ging alle paar Minuten zu Noa hinaus. Kinder waren in der Station nicht erlaubt, und Kyunghee blieb in der Nähe des Empfangsschalters, da sie diejenige war, die Japanisch sprach. Als Yoseb hereinkam, atmete Kyunghee erleichtert auf. Neben ihr saß Sunja und weinte.

»Haben Sie Isak?«, fragte Yoseb.

Kyunghee nickte.

»Du musst leise sprechen«, sagte sie und klopfte Sunja auf den Rücken. »Man weiß nicht, wer mithört.«

Yoseb flüsterte: »Die Frauen in der Kirche haben mir alles erzählt. Warum hat der Junge sich bei der Verneigung so angestellt?« Zu Hause trommelte die Kolonialregierung jeden Morgen Christen zusammen und zwang sie, sich vor dem Schrein zu verneigen. Hier taten das die Gemeindevorsteher nur einmal oder zweimal in der Woche. »Lassen sie ihn gegen eine Geldbuße frei?«

»Ich glaube nicht«, sagte Kyunghee. »Der Beamte hat gesagt, wir sollen nach Hause gehen, aber wir haben gewartet, falls sie ihn rauslassen –«

»Isak kann nicht im Gefängnis bleiben«, sagte Yoseb. »Das ist unmöglich.«

 

Vor dem Empfangsschalter ließ Yoseb die Schultern sinken und verneigte sich tief.

»Mein Bruder ist bei schwacher Gesundheit, Sir; schon als Kind war er kränklich, eine Haft würde er nur schwer überstehen. Er ist gerade erst von Tuberkulose genesen. Wäre es möglich, dass er nach Hause geht und morgen zur Vernehmung wiederkommt?«, fragte Yoseb in ehrerbietigem Japanisch.

Der Beamte schüttelte den Kopf, solche Appelle ließen ihn kalt. Die Zellen waren voll mit Koreanern und Chinesen, und wenn man ihren Angehörigen glaubte, dann waren fast alle gesundheitlich angeschlagen und sollten nicht im Gefängnis sein. Obwohl ihm der Mann leidtat, der sich für seinen Bruder einsetzte, konnte er nichts tun. Der Geistliche würde lange in seiner Zelle sitzen – das war bei religiösen Aktivisten immer so. In Kriegszeiten musste aus Gründen der nationalen Sicherheit gegen Unruhestifter hart durchgegriffen werden. Aber das zu erklären, hatte keinen Sinn. Koreaner machten erst Ärger und kamen dann mit Ausreden.

»Sie und die Frauen sollten nach Hause gehen. Der Geistliche wird vernommen, Sie können ihn nicht sprechen. Sie verschwenden Ihre Zeit.«

»Sie müssen verstehen, Sir, dass mein Bruder nicht gegen den Kaiser oder die Regierung ist. Er war nie an irgendwelchen Aktivitäten gegen die Regierung beteiligt«, sagte Yoseb. »Mein Bruder interessiert sich nicht für Politik, und ich bin mir sicher –«

»Er darf keinen Besuch bekommen. Sollte er von den Vorwürfen freigesprochen werden, dann wird er entlassen und nach Hause geschickt, das kann ich Ihnen versichern.« Der Beamte lächelte höflich. »Niemand möchte einen Unschuldigen festhalten.« Der Beamte war überzeugt, dass die japanische Regierung gerecht und vernünftig war.

»Kann ich etwas tun?«, fragte Yoseb leise und klopfte sich auf die Tasche, wo seine Geldbörse war.

»Es gibt nichts, was Sie oder ich tun können«, sagte der Beamte betrübt. »Und ich hoffe, Sie wollen mir kein Bestechungsgeld anbieten. Damit würde das Verbrechen Ihres Bruders nur verschlimmert. Er und seine Kollegen haben sich geweigert, dem Kaiser Ehrerbietung zu zeigen. Das ist ein schlimmes Vergehen.«

»Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Entschuldigen Sie bitte meine törichten Worte – ich würde nie Ihre Ehre beleidigen, Sir.« Yoseb wäre auf dem Bauch quer durch die Polizeistation gerobbt, um Isak freizubekommen. Samoel, ihr ältester Bruder, war der Tapfere gewesen, er hätte die Beamten mit Kühnheit und Anmut konfrontiert, aber Yoseb wusste, dass er kein Held war. Er hätte sich Geld geliehen und ihre Hütte verkauft, hätte er Isak gegen ein Bestechungsgeld freibekommen können; Yoseb hielt nicht viel davon, für sein Land oder ein höheres Ideal das Leben zu lassen. Er verstand etwas vom Überleben und von Familie.

Der Beamte rückte sich die Brille zurecht und sah über Yosebs Schulter, obwohl da niemand stand.

»Am besten, Sie nehmen Ihre Frauen mit nach Hause. Sie sollten nicht hier sein. Der Junge und das Baby sind draußen. Ihr Leute lasst eure Kinder abends auf der Straße spielen, dabei sollten sie zu Hause sein. Wenn Sie nicht gut für Ihre Kinder sorgen, kommen die eines Tages ebenfalls ins Gefängnis«, sagte der Beamte und wirkte müde. »Ihr Bruder bleibt über Nacht hier. Haben Sie mich verstanden?«

»Ja, Sir. Vielen Dank, Sir. Entschuldigen Sie, dass ich Sie belästige. Darf ich ihm heute Abend seine Sachen bringen?«

Der Beamte antwortete geduldig. »Morgen früh. Sie können ihm morgen früh Kleidung und Lebensmittel bringen. Religiöse Bücher sind nicht erlaubt. Alles Lesematerial muss auf Japanisch sein.« Der Beamte sprach ruhig und überlegt. »Leider darf er keinen Besuch empfangen. Das tut mir sehr leid.«

Yoseb wollte gerne annehmen, dass dieser Uniformierte kein schlechter Mensch war – er war einfach jemand, der eine Arbeit machte, die ihm nicht gefiel, und er war müde, weil es das Ende der Woche war. Vielleicht wollte auch er sein Abendessen und ein Bad. Yoseb hielt sich für einen rationalen Menschen. Nicht alle japanischen Polizisten waren böse, das erschien ihm zu einfach. Außerdem musste Yoseb an der Hoffnung festhalten, dass anständige Menschen auf seinen Bruder aufpassten; alles andere war unerträglich.

»Wir bringen ihm morgen seine Sachen«, sagte Yoseb und sah dem Beamten in die Augen. »Vielen Dank, Sir.«

»Selbstverständlich.«

Der Mann nickte leicht.

 

Noa durfte die ganzen Süßigkeiten essen, und während Sunja in der Küche das Essen machte, versuchte Yoseb, Kyunghees Fragen zu beantworten. Sie stand und hatte Mozasu mit einem schmalen Tuch auf den Rücken gebunden.

»Kannst du jemandem Bescheid sagen?«, fragte sie leise.

»Wem zum Beispiel?«

»Den kanadischen Missionaren«, schlug sie vor. »Einige von ihnen haben wir kennengelernt. Weißt du das noch? Sie waren sehr nett, und Isak hat gesagt, sie hätten regelmäßig Geld geschickt, um die Gemeinde zu unterstützen. Vielleicht können die der Polizei erklären, dass die Pastoren nichts Schlimmes getan haben.« Kyunghee ging ohne Unterlass in einem kleinen Kreis, während Mozasu zufrieden murmelte.

»Wie können wir sie erreichen?«

»Mit einem Brief?«

»Kann ich ihnen auf Koreanisch schreiben? Wie lange würde es dauern, bis sie den Brief erhalten und darauf antworten? Wie lange hält Isak durch?«

Sunja kam herein, löste Mozasu aus dem Band auf Kyunghees Rücken und nahm ihn mit in die Küche, um ihn zu stillen. Der Duft von dampfendem Gerstenbrei zog durch das kleine Haus.

»Ich glaube, die Missionare konnten kein Koreanisch. Kannst du jemanden finden, der dir hilft, einen Brief in richtigem Japanisch zu schreiben?«, fragte Kyunghee.

Yoseb sagte nichts. Er würde selbst an die Missionare schreiben, aber warum die Polizei sich in Kriegszeiten für die Meinung von kanadischen Missionaren interessieren sollte, war ihm nicht klar. Ein Brief würde mindestens einen Monat brauchen.

Sunja kam mit Mozasu wieder herein.

»Ich habe ein paar Sachen für ihn bereitgelegt. Kann ich sie ihm morgen früh bringen?«, fragte sie.

»Ich bringe sie ihm«, sagte Yoseb. »Vor der Arbeit.«

»Kannst du deinen Chef um Hilfe bitten? Vielleicht hören sie auf einen Japaner«, sagte Kyunghee.

»Shimamura-san würde nie jemandem helfen, der im Gefängnis sitzt. Für ihn sind alle Christen Rebellen. Die Leute, die die Demonstration vom Ersten März organisiert haben, waren Christen. Das wissen alle Japaner. Ich erwähne nicht einmal, dass ich in die Kirche gehe. Ich erzähle ihm gar nichts. Er würde mich feuern, wenn er glaubte, ich hätte mit einer Protestbewegung zu tun. Und wo wären wir dann? Für Leute wie mich gibt es keine Stellen –«

Danach sagte niemand mehr etwas. Sunja rief Noa von der Straße herein. Es war Zeit, zu essen.