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Osaka, 1949

Nachdem die Familie nach Osaka zurückgekehrt war, wurde Kim von Hansu beauftragt, auf dem Tsuruhashi-Markt Gebühren von den Standinhabern einzusammeln. Im Gegenzug gewährte Hansus Firma den Inhabern Schutz und Unterstützung. Natürlich wollte niemand diese nicht unerheblichen Beträge bezahlen, aber es gab keine Wahl. In den seltenen Fällen, wenn jemand Armut vorgab oder törichterweise die Zahlung verweigerte, schickte Hansu seine anderen Männer, nicht Kim, um die Situation zu klären. Für einen Standinhaber war die Gebühr eine alte Gepflogenheit – Teil der Kosten, wenn man ein Geschäft führte.

Alle Agenten, die für Hansu arbeiteten, mussten sich in die Organisation als Ganzes einfügen, und seine Mitarbeiter, Japaner wie Koreaner, achteten darauf, keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Von seiner Kurzsichtigkeit abgesehen, derentwegen er die dicke Brille trug, war Kim ein nett aussehender Mann, und er war unaufdringlich und fleißig. Hansu stellte vorzugsweise Kim für die Einsammlung der Gebühren ein, denn er war gründlich und von unfehlbarer Höflichkeit – die saubere Verpackung für eine schmutzige Maßnahme.

Es war Samstag, und Kim hatte soeben die für die Woche fälligen Gebühren eingesammelt – über sechzig Barzahlungen, jede in sauberes Papier gewickelt und mit dem Namen des Unternehmens versehen. Niemand war mit den Zahlungen im Rückstand. Als Kim zu Hansus Limousine kam, nickte er seinem Chef zu, der gerade ausstieg. Sein Fahrer würde sie später wieder abholen.

»Gehen wir was trinken«, sagte Hansu und klopfte Kim auf den Rücken. Sie gingen zum Markt. Auf dem Weg verneigten sich viele der Passanten vor Hansu, und er grüßte mit einem Nicken, aber er blieb für niemanden stehen.

»Ich zeige dir ein neues Lokal. Viele hübsche Mädchen. Du musst dich nach einer sehnen, nach der langen Zeit in der Scheune.«

Kim lachte überrascht. Normalerweise besprach sein Chef solche Dinge nicht mit ihm.

»Du magst die Verheiratete, ich weiß«, sagte Hansu.

Kim ging weiter, er wusste nicht, was er sagen sollte.

»Sunjas Schwägerin«, sagte Hansu und sah unverwandt geradeaus. »Sie ist immer noch hübsch. Ihr Mann ist nicht mehr in der Lage. Außerdem trinkt er zu viel, nee?«

Kim nahm die Brille ab und säuberte die Gläser mit einem Taschentuch. Er mochte Yoseb und hatte ein schlechtes Gewissen, weil er ihn nicht vor Hansu in Schutz nahm. Yoseb trank viel, aber er war kein schlechter Mensch. Es war offensichtlich, dass die Männer in der Nachbarschaft immer noch zu ihm aufsahen. Wenn es Yoseb einigermaßen gut ging, half er zu Hause den Jungen bei den Hausaufgaben und brachte ihnen Koreanisch bei. Gelegentlich reparierte er Maschinen für Fabrikbesitzer, die er kannte, aber in seinem geschwächten Zustand konnte er keiner regulären Arbeit nachgehen.

»Wie ist es im Haus?«, fragte Hansu.

»Ich habe noch nie so komfortabel gelebt.«

Das entsprach der Wahrheit. »Die Mahlzeiten sind köstlich. Das Haus ist sehr sauber.«

»Es sollte ein Mann da sein, der voll im Leben steht und über die Frauen wacht, aber ich mache mir Sorgen, dass du der Verheirateten zu sehr zugetan bist.«

»Chef, ich überlege, ob ich zurückgehen soll. Nicht nach Daegu, sondern in den Norden.«

»Fängst du schon wieder an? Nein. Ende der Diskussion. Meinetwegen geh zu den sozialistischen Versammlungen, aber glaub ja nicht an den Mist mit der Rückkehr ins Mutterland. Die Leute in der Mindan-Gruppe sind auch nicht besser. Davon abgesehen, im Norden bringen sie dich um, im Süden verhungerst du. Sie hassen dort alle Koreaner, die in Japan gelebt haben. Ich werde dich nicht unterstützen, wenn du gehst. Niemals.«

»Der Staatsführer Kim Il Sung hat gegen den japanischen Imperialismus gekämpft –«

»Ich kenne seine Leute. Manche glauben vielleicht an das, was er sagt, aber die meisten wollen jede Woche einfach nur ihren Lohn kassieren. Die Verantwortlichen, die hier leben, gehen nie zurück. Du wirst schon sehen.«

»Aber glauben Sie nicht, dass wir etwas für unser Land tun müssen? Die Ausländer teilen es in –«

Hansu legte Kim die Hände auf die Schultern und sah ihm ins Gesicht.

»Du hast so lange keine Frau mehr gehabt, dass du nicht richtig denken kannst«, sagte Hansu mit einem Lächeln, dann war er wieder ernst. »Hör zu, ich kenne die Anführer von beiden Gruppen, die von der Vereinigung und die von Mindan« – er machte ein abfälliges Geräusch –, »ich kenne sie sehr gut –«

»Aber Mindan ist eine Marionette der Amerikaner –«

Hansu lächelte Kim zu; die Ernsthaftigkeit des jungen Mannes amüsierte ihn.

»Wie lange arbeitest du schon für uns?«

»Ich war zwölf oder dreizehn, als Sie mich eingestellt haben.«

»Und wie oft haben wir über Politik gesprochen?«

Kim dachte nach.

»Nie. Nicht über Politik im eigentlichen Sinne. Ich bin Geschäftsmann. Und ich möchte, dass du auch Geschäftsmann bist. Und wenn du zu diesen Versammlungen gehst, sollst du unabhängig denken und in jedem Fall deine eigenen Interessen vertreten. Die Leute da – Japaner und Koreaner gleichermaßen – wissen nicht, was sie denken sollen, weil sie dauernd für die Gruppe denken. Aber dies ist die Wahrheit: So etwas wie einen wohlmeinenden Anführer gibt es nicht. Ich beschütze dich, weil du für mich arbeitest. Wenn du Unsinn machst und gegen meine Interessen verstößt, kann ich dich nicht länger beschützen. Du darfst nicht vergessen, dass die Männer in den Führungspositionen der koreanischen Interessengruppen in erster Linie Menschen sind – also nicht viel klüger als Schweine. Und Schweine essen wir. Du hast bei dem Bauern Tamaguchi gelebt, der in Zeiten des Krieges Süßkartoffeln zu obszönen Preisen an hungernde Japaner verkauft hat. Er hat gegen die Kriegsordnung verstoßen, und ich habe ihm geholfen, weil er Geld verdienen wollte, und ich wollte das auch. Er hält sich wahrscheinlich für einen anständigen Japaner oder einen stolzen Nationalisten – wie die meisten, vermutlich. Er ist ein schrecklicher Japaner, aber ein guter Geschäftsmann. Ich bin kein guter Koreaner, und ich bin kein Japaner. Aber ich verstehe was vom Geldverdienen. Dieses Land wäre am Ende, wenn alle an diesen Samurai-Scheiß glaubten. Auch dem Kaiser sind die Menschen gleichgültig. Ich verbiete dir also nicht, zu Versammlungen zu gehen oder dich einer dieser Gruppen anzuschließen, aber dies musst du wissen: Die Kommunisten interessieren sich nicht für dich. Sie interessieren sich für niemanden. Du bist verrückt, wenn du glaubst, Korea sei ihnen wichtig.«

»Ich würde einfach gern mein Land wiedersehen«, sagte Kim leise.

»Menschen wie wir haben kein Land.« Hansu nahm eine Zigarette, und Kim beeilte sich, sie ihm anzuzünden.

Kim war seit über zwanzig Jahren nicht mehr zu Hause gewesen. Seine Mutter war gestorben, als er noch klein war, und sein Vater, ein Pachtbauer, war kurze Zeit später gestorben; seine ältere Schwester hatte sich um ihn gekümmert, so gut es ging, doch dann hatte sie geheiratet und war verschwunden, und er blieb zurück und musste betteln gehen. Kim wollte in den Norden des Landes gehen und dort für die Wiedervereinigung arbeiten, aber er wollte auch nach Daegu reisen, um die Gräber seiner Eltern zu pflegen und ein richtiges Jesa, eine Gedenkzeremonie, für sie auszurichten, die er sich jetzt leisten konnte.

Hansu nahm einen langen Zug von seiner Zigarette.

»Glaubst du, mir gefällt es hier? Nein, mir gefällt es hier nicht. Aber hier weiß ich, womit ich zu rechnen habe. Man möchte hier nicht arm sein. Changho-ya, du arbeitest für mich, du hast genug Geld und genug zu essen, also fängst du an, über Dinge nachzudenken. Das ist normal. Der Patriotismus ist nichts weiter als eine Idee, genau wie der Kapitalismus oder der Kommunismus. Über diese Ideen vergessen die Menschen manchmal ihre eigenen Interessen. Und die Machthaber sind schnell bereit, Menschen, die zu sehr an Ideen glauben, auszubeuten. Du kannst Korea nicht auf die Beine helfen. Auch hundert von deiner Sorte oder hundert von meiner Sorte können das nicht. Die Japaner sind weg, und jetzt kämpfen Russland, China und Amerika um unsere kleine, miese Insel. Du glaubst, du kannst dich gegen sie stemmen? Lass das mit Korea. Konzentrier dich auf etwas, das du haben kannst. Du willst die Verheiratete? Gut. Dann sieh zu, dass du den Ehemann loswirst, oder warte, bis er stirbt. Diese beiden Möglichkeiten gibt es.«

»Sie wird ihn nicht verlassen.«

»Er ist am Ende.«

»Nein, das stimmt nicht«, sagte Kim voller Ernst. »Und sie ist nicht die Frau, die –« Er wollte nicht mehr darüber sprechen. Er konnte warten, bis Yoseb starb, aber es war falsch, sich seinen Tod zu wünschen. Er hatte viele Überzeugungen, auch die, dass eine Frau zu ihrem Mann halten sollte. Wenn Kyunghee einen gebrochenen Mann verließ, war sie dann seiner, Kims, Hingabe noch wert?

Am Ende der Straße blieb Hansu stehen und nickte in Richtung einer unauffälligen Bar.

»Möchtest du jetzt eine Frau? Oder möchtest du zum Haus zurückgehen und die Frau eines anderen begehren?«

Kim sah auf den Türgriff, dann zog er die Tür auf und ließ seinen Chef eintreten, bevor er selbst hineinging.

 

Das neue Haus in Osaka war zwei Tatami-Matten breiter als das vorherige und solider gebaut, aus Holz, Backsteinen und Ziegeln. Wie Hansu vorhergesehen hatte, war das alte Haus dem Erdboden gleichgemacht worden. Kyunghee hatte die Urkunden und Dokumente in das Futter ihres besten Mantels genäht, und als es so weit war, zwang Hansu die Behörden, Yosebs Eigentümerrechte anzuerkennen. Mit dem Geld, das Tamaguchi ihnen mitgegeben hatte, als sie den Hof verließen, kauften Yoseb und Kyunghee das leere Grundstück neben ihrem alten. Mithilfe von Hansus Baufirma bauten sie ihr altes Haus nach. Auch diesmal erzählte Yoseb niemandem, dass er der Besitzer des Hauses war – es war ratsam, ärmer zu erscheinen, als man wirklich war. Von außen war das Haus praktisch identisch mit allen anderen in ihrer Straße in Ikaino. Die Familie hatte beschlossen, Kim als Mitbewohner einzuladen, und als Yoseb ihn fragte, lehnte Kim nicht ab. Die Frauen tapezierten die Wände mit gutem Papier und kauften dickes Glas für die kleinen Fenster. Sie gaben ein bisschen mehr für gute Stoffe aus, um warme Steppdecken und Bodenkissen zu nähen, und kauften einen niedrigen Esstisch, an dem sie ihre Mahlzeiten aßen und die Jungen ihre Hausaufgaben machten.

Obwohl das Haus von außen wie eine geräumige Hütte aussah, war es innen sehr gut gestaltet und hatte eine richtige Küche, die groß genug war für die beiden Karren, die über Nacht dort abgestellt wurden. Außerdem gab es einen Abort, zu dem man von der Küche aus gelangen konnte. Yangjin, Sunja und die Jungen schliefen in dem mittleren Zimmer, Yoseb und Kyunghee hatten den großen Vorratsraum, der von der Küche abging, und Kim schlief in dem kleinen vorderen Zimmer, dessen zwei Innenwände aus Papiertüren bestanden. Zu siebt – drei Generationen und ein Freund der Familie – lebten sie in dem Haus in Ikaino. Im Vergleich zu anderen Häusern in der Nachbarschaft war ihre Behausung geradezu luxuriös.

Als Kim am späten Abend aus der Bar nach Hause kam, schliefen die anderen. Hansu hatte für ein koreanisches Mädchen bezahlt, ein außergewöhnlich hübsches Mädchen, und Kim war mit ihr auf eins der Zimmer gegangen. Anschließend wollte er in die Badeanstalt gehen, aber die in der Nähe gelegene hatte schon für die Nacht geschlossen. Er wusch sich, so gut es ging, an dem Becken beim Abort, aber den wächsernen Geschmack von dem frostrosa Lippenstift des Mädchens hatte er immer noch im Mund.

Das Mädchen war jung gewesen, zwanzig, wenn nicht jünger, und wenn sie nicht in den Zimmern hinter der Bar war, arbeitete sie als Bedienung. Der Krieg und die amerikanische Besatzung hatten sie hart gemacht, wie die anderen Mädchen auch, und weil sie so hübsch war, hatte sie viele Männer gehabt. Sie war unter dem Namen Jinah bekannt.

In einem der Hinterzimmer, die den zahlenden Gästen vorbehalten waren, hatte Jinah die Tür geschlossen und sich sofort ihr Kleid mit dem Blumendruckmuster ausgezogen. Sie trug keine Unterwäsche. Sie hatte einen langen, dünnen Körper mit den runden, hohen Brüsten eines jungen Mädchens und den dünnen Beinen eines hungrigen Bauernmädchens. Sie setzte sich auf seinen Schoß und bewegte sich kreisend auf ihm, was ihn hart machte, dann führte sie ihn zu einer roten Matratze auf dem Boden. Sie zog ihm seine Sachen aus, wusch ihn geschickt mit einem warmen, feuchten Tuch und legte ihm mit dem gemalten Mund ein Kondom an. Es war lange her, dass Kim bei einer Frau gewesen war. Bisher hatte er immer nur Huren gehabt, aber diese hatte das hübscheste Gesicht und die hübscheste Figur von allen, und er verstand, warum sie so teuer war, auch wenn diesmal nicht er bezahlte. Jinah nannte ihn Oppa und fragte, ob er in sie eindringen wolle, und er nickte, erstaunt über ihre geschickte Manipulation – reizend und professionell zugleich. Sie stieß seine Schultern sacht zurück, stieg auf ihn und schob ihn mit einer einzigen Bewegung in sich hinein. Sie küsste ihn auf die Stirn und auf das Haar und gestattete, dass er seinen Kopf zwischen ihre Brüste legte, während sie fickten. Er wusste nicht, ob sie spielte, aber dem Anschein nach fand sie Gefallen an dem, was sie taten, im Gegensatz zu den anderen Mädchen, die so getan hatten, als wären sie Jungfrauen. Jinah täuschte keinen Protest vor, und Kim war so sehr erregt von ihr, dass er fast umgehend kam. Ein Weilchen blieb sie in seinen Armen liegen, dann stand sie auf und holte ein Tuch. Während sie ihn säuberte, nannte sie ihn ihren hübschen Bruder und bat ihn, bald wieder zu ihr zu kommen, denn Jinah würde die ganze Zeit an seinen Aal denken. Am liebsten wäre Kim die Nacht über bei ihr geblieben und hätte es noch einmal versucht, aber Hansu wartete in der Bar auf ihn, und so versprach er Jinah, bald wiederzukommen.

 

In seinem Zimmer hatte schon jemand seine Matratze ausgerollt und das Bett gemacht. Kim legte sich auf das saubere, gestärkte Laken und stellte sich vor, dass Kyunghee die Decke, auf der er jetzt lag, mit ihren schlanken Fingern glatt gestrichen hatte und dass er mit ihr schlafen würde. Eine verheiratete Frau wäre von dem Liebesakt nicht überrascht, dachte er, aber er fragte sich, ob sie ihn so genießen konnte, so, wie Jinah das offensichtlich tat. In der Scheune war er immer vor den Frauen eingeschlafen, und dafür war er dankbar gewesen, denn er hätte die Vorstellung, dass Yoseb auf ihr lag, unerträglich gefunden. Zum Glück hatte er nie solche Geräusche gehört, und auch in diesem Haus hörte er sie nicht. Er war überzeugt, dass Yoseb nicht mehr mit seiner Frau schlief, und diese Überzeugung gab ihm das Recht, Kyunghee zu lieben und Yoseb nicht zu hassen. So gehörte sie auch ihm. Weil er seine Gefühle für Kyunghee nicht versteckte, hatte Hansu sie entdeckt; er konnte sich von dem Anblick ihres zarten Gesichts und ihren geschmeidigen Bewegungen nicht losreißen. Wenn sie sein wäre, würde er sterben, das glaubte er sicher. Wie wäre es, wenn er jede Nacht bei ihr läge? Wenn sie im Restaurant Seite an Seite gearbeitet hatten, oder wenn er auf der Farm mit ihr allein war, hatte ihn die Anstrengung, sie nicht in die Arme zu nehmen, fast wahnsinnig gemacht. Aber er wusste, sie würde ihm niemals nachgeben, und so hatte er sich zurückgehalten; sie liebte ihren Mann, und sie liebte Yesu Kuristo, ihren Gott, an den Kim nicht glauben konnte und der seinen Anhängern nicht erlaubte, außerhalb der Ehe sexuelle Beziehungen zu pflegen.

Kim schloss die Augen und wünschte sich, sie würde die dünne Papiertür zu seinem Zimmer öffnen. Sie könnte ihr Kleid ausziehen, so, wie die Hure es getan hatte, und ihn in den Mund nehmen. Er würde sie zu sich heranziehen und an sich drücken. Er würde mit ihr schlafen und sich dann den Tod wünschen, denn sein Leben hätte in dem Moment seine Vollendung erreicht. Kim konnte sich ihre kleinen Brüste, die helle Haut an Bauch und Beinen, den Schatten der Scham vorstellen. Er wurde wieder steif, und er lachte in sich hinein, er kam sich wie ein Jüngling vor, weil er das Gefühl hatte, er könne es immer wieder tun, und es wäre nie genug. Hansu irrte, wenn er dachte, die hübsche Hure würde Kyunghee aus seinem Kopf vertreiben; im Gegenteil, er begehrte sie jetzt mehr denn je.

Kim rieb seinen Schwanz und schlief mit der Brille auf der Nase ein.

 

Am nächsten Morgen stand Kim vor den anderen auf und ging ohne Frühstück zur Arbeit. Als er auf dem Weg nach Hause war, sah er eine Frau mit schmalen Schultern, die eine Karre die Straße entlangschob. Er rannte und holte sie ein.

»Lass mich das machen.«

»Oh, hallo.« Kyunghee lächelte erleichtert. »Wir hatten uns schon Sorgen gemacht, als du heute Morgen weg warst. Gestern Abend haben wir dich auch nicht gesehen. Hast du heute schon gegessen?«

»Ich brauche nichts. Macht euch meinetwegen keine Sorgen.«

Er bemerkte, dass die Tüten für die Toffees alle verschwunden waren. »Es sind keine Tüten mehr da. Habt ihr heute gut verkauft?«

Sie nickte und lächelte wieder. »Ich habe alles verkauft, aber der Preis für schwarzen Zucker ist schon wieder gestiegen. Vielleicht kann ich stattdessen Weingummibonbons machen. Dazu braucht man weniger Zucker. Ich gucke mal nach ein paar neuen Rezepten.« Kyunghee blieb stehen und wischte sich mit der Hand über die Stirn.

Kim umfasste die Griffe der Karre und schob.

»Ist Sunja schon zu Hause?«, fragte er.

Kyunghee nickte und machte ein bekümmertes Gesicht.

»Was ist los, Schwester?«

»Ich hoffe, es gibt heute Abend keinen Streit. Mein Mann ist in letzter Zeit mit allen so streng. Dazu kommt –« Sie wollte nicht weitersprechen. Yosebs Zustand verschlechterte sich zusehends, seine Brandwunden und Verletzungen quälten ihn mit großen Schmerzen. Er regte sich über jede Kleinigkeit auf, und wenn er wütend war, hatte er sich nicht mehr unter Kontrolle. Außerdem sprach er immer mit lauter Stimme, weil er schlecht hörte.

»Es hat mit der Schule der Jungen zu tun. Du weißt Bescheid.«

Kim nickte. Yoseb hatte zu Sunja gesagt, die Jungen sollten auf eine koreanische Schule in ihrem Viertel gehen, weil die Familie demnächst nach Korea umsiedeln würde und die Jungen Koreanisch lernen müssten. Hansu sagte genau das Gegenteil. Sunja sagte nichts dazu, aber dies war offensichtlich eine schlechte Zeit, um nach Korea zurückzukehren.

Die Straße zu ihrem Haus war leer. Die untergehende Sonne tauchte alles in ein grau-rosa Licht.

»Es ist schön, wenn es still ist«, sagte sie.

»Ja.« Kim packte den Griff der Karre etwas fester.

Ein paar Strähnen hatten sich aus ihrem Knoten gelöst, und Kyunghee strich sich das Haar hinter die Ohren. Selbst am Ende eines langen Arbeitstages war in ihrem Ausdruck etwas Reines und Helles.

»Gestern Abend hat Yoseb wieder wegen der Schule auf sie eingeredet. Er meint es ja gut. Noa möchte auf die Japanische Schule gehen. Er will an der Waseda-Universität studieren. Stell dir das mal vor. So eine große bedeutende Schule!« Sie lächelte und war stolz auf Noas großartigen Traum. »Und Mozasu will gar nicht zur Schule gehen.« Sie lachte. »Wann wir zurückkönnen, ist unklar, aber die Jungen sollten Lesen und Schreiben lernen. Meinst du nicht?« Plötzlich weinte Kyunghee und wusste selbst nicht, warum.

Kim nahm das Taschentuch aus seiner Tasche, mit dem er sonst seine Brille reinigte, und gab es ihr.

»Es gibt so vieles, das wir nicht bestimmen können«, sagte er.

Sie nickte.

»Möchtest du zurückgehen?«

Sie sah ihn nicht an und sagte: »Ich kann nicht glauben, dass meine Eltern tot sind. Im Traum sehe ich sie lebendig vor mir. Ich möchte sie wiedersehen.«

»Aber jetzt könnt ihr nicht zurückgehen. Es ist gefährlich. Wenn die Lage sich verbessert –«

»Meinst du, das wird bald sein?«

»Na ja, du kennst uns ja.«

»Wie meinst du das?«, fragte sie.

»Wir sind Koreaner. Wir streiten. Jeder hält sich für klüger als seinen Nachbarn. Vermutlich wird derjenige, der an der Macht ist, alles tun, um sie zu behalten.« Er wiederholte nur das, was Hansu gesagt hatte, denn Hansu hatte recht, besonders, wenn es darum ging, das Schlechte in den Menschen zu erkennen – darin hatte er immer recht.

»Dann bist du also kein Kommunist?«, fragte sie.

»Was?«

»Du gehst doch zu politischen Versammlungen. Ich hatte gedacht, vielleicht sind die nicht so schlimm, wenn du dahin gehst. Sie sind gegen die japanische Regierung, und sie wollen, dass es eine Wiedervereinigung gibt, richtig? Ich meine, versuchen die Amerikaner nicht, das Land in mehrere Teile zu zerbrechen? Auf dem Markt höre ich alles Mögliche, und man weiß nicht mehr, was man glauben soll. Mein Mann sagt, die Kommunisten sind schlecht. Sie hätten unsere Eltern erschossen. Mein Vater, weißt du, hat immer gelächelt. Er hat immer Gutes getan.«

Kyunghee konnte nicht verstehen, warum ihre Eltern umgebracht worden waren. Ihr Vater war der dritte Sohn gewesen, deshalb hatte er nur ein kleines Stück Land bekommen. Hatten die Kommunisten alle Landbesitzer umgebracht? Auch die mit nur wenig Land? Sie wollte gern erfahren, was Kim dachte, denn er war ein guter Mensch und wusste viel über die Welt.

Kim beugte sich über die Karre und sah Kyunghee intensiv an, er wollte sie gern trösten. Er wusste, dass sie ihn um Rat bat, und das gab ihm das Gefühl, wichtig zu sein. Vielleicht würde er sich, wenn er eine Frau wie sie an seiner Seite hätte, nicht länger für Politik interessieren.

»Gibt es verschiedene Sorten Kommunisten?«, fragte sie.

»Ich glaube schon. Ich weiß nicht, ob ich Kommunist bin. Ich bin dagegen, dass die Japaner Korea wieder beherrschen, aber ich will auch nicht, dass die Russen oder die Chinesen die Herrschaft über unser Land bekommen. Oder die Amerikaner. Ich verstehe nicht, warum sie Korea nicht in Ruhe lassen können.«

»Gerade hast du gesagt, wir würden immer streiten. Wahrscheinlich ist es wie bei zwei Omas, die miteinander in Streit geraten, und die Dorfbewohner mischen sich ein. Wenn die Omas Frieden haben wollen, dürfen sie auf niemanden hören und müssen sich wieder daran erinnern, dass sie einmal gute Freundinnen gewesen sind.«

»Ich finde, du solltest das Regieren übernehmen«, sagte er und schob die Karre zum Haus. Obwohl es nur ein kurzer Gang gewesen war, hatte es ihn glücklich gemacht, neben ihr zu gehen, aber natürlich wollte er danach mehr. Er war zu den Versammlungen gegangen, um aus dem Haus zu kommen, denn manchmal überforderte es ihn, ständig in ihrer Nähe zu sein. Er lebte in dem Haus, weil er in ihrer Nähe sein wollte. Er liebte sie. Das würde so bleiben. Seine Lage war unerträglich.

Sie waren wenige Schritte vom Haus entfernt und gingen langsamer, während sie sich über ihren Tag austauschten, zufrieden und ein bisschen weniger befangen. Er würde weiterhin an seiner Liebe leiden.