Osaka, Januar 1954
Sunja wachte mitten in der Nacht mit Geldsorgen auf und beschloss, in die Küche zu gehen und Toffees zu machen. Als Yangjin merkte, dass ihre Tochter nicht im Bett war, stand sie auch auf und ging in die Küche.
»Du schläfst nicht genug«, sagte Yangjin. »Du wirst krank, wenn du nicht schläfst.«
»Umma, es geht mir gut. Du solltest dich wieder hinlegen.«
»Ich bin alt. Ich brauche nicht so viel Schlaf wie du«, sagte Yangjin und band sich die Schürze um.
Sunja wollte mehr Geld verdienen, um für Noas Unterricht bezahlen zu können. Er hatte die Aufnahmeprüfung für die Waseda-Universität um wenige Punkte nicht geschafft, war aber zuversichtlich, dass er sie beim nächsten Mal bestehen würde, wenn er Zusatzunterricht in Mathematik bekäme. Die Preise für den Unterricht waren exorbitant. Die Frauen hatten versucht, mehr zu verdienen, damit Noa seine Stellung als Buchhalter aufgeben und sich ganz dem Studium widmen konnte, aber es war ohnehin schon schwierig, mit seinem Gehalt und dem, was die Frauen mit dem Verkauf von Esswaren verdienten, die Familie zu ernähren und Yosebs Arztrechnungen zu bezahlen. Kim gab ihnen jede Woche Geld für Kost und Logis. Er hätte gern einen Beitrag zu Noas Unterrichtskosten geleistet, aber Yoseb verbot den Frauen, mehr als eine angemessene Summe von ihm zu verlangen. Yoseb erlaubte es Sunja auch nicht, von Hansu Geld für Noas Ausbildung zu nehmen.
»Hast du überhaupt geschlafen?«, fragte Yangjin.
Sunja nickte und deckte ein Tuch über die großen Brocken von schwarzem Zucker, um das Geräusch des Stößels zu dämpfen.
Auch Yangjin war erschöpft. Noch drei Jahre, dann würde sie sechzig. Als junges Mädchen hatte sie geglaubt, sie könne mehr arbeiten als andere, aber jetzt war das nicht mehr so. In letzter Zeit war sie müde und ungeduldig; schon Kleinigkeiten irritierten sie. Mit dem Alter gewann man angeblich an Gelassenheit, aber bei ihr war das offenkundig nicht der Fall. Wenn Kunden sich beklagten, hätte sie ihnen gerne die Meinung gesagt. In letzter Zeit brachte sie jedoch vor allem die Schweigsamkeit ihrer Tochter in Rage. Am liebsten hätte sie Sunja geschüttelt.
Die Küche war der wärmste Raum im Haus, und die beiden nackten Glühbirnen, die an dem Kabel von der Decke hingen, sorgten für ein beständiges Licht und warfen scharfe Schatten an die Wand.
»Manchmal denke ich an unsere Mädchen«, sagte Yangjin.
»Dokhee und Bokhee? Hatten die nicht in China Arbeit gefunden?«
»Ich hätte nicht zulassen sollen, dass sie mit der Frau aus Seoul gingen, die sie mit schönen Worten verlockt hatte. Aber die beiden waren so erregt von der Aussicht, in der Mandschurei Geld zu verdienen. Sie wollten zurückkommen, sobald sie genug Geld hatten, um das Logierhaus zu kaufen. Es waren brave Mädchen.«
Sunja nickte bei der Erinnerung an ihr freundliches Wesen. Menschen wie sie kannte sie jetzt nicht mehr. Es schien, als hätten die Besatzung und der Krieg alle Menschen verändert, und jetzt machte der Krieg in Korea alles noch schlimmer.
»Auf dem Markt habe ich Geschichten gehört, dass Mädchen, die sich für Fabrikarbeit gemeldet haben, woandershin gebracht wurden und von japanischen Soldaten zu entsetzlichen Dingen gezwungen wurden.« In ihrer Betroffenheit hielt Yangjin inne. »Meinst du, das ist wahr?«
Sunja hatte die gleichen Geschichten gehört, und Hansu hatte sie mehr als einmal gewarnt, sich vor den koreanischen Arbeitsvermittlern zu hüten, die für das japanische Militär arbeiteten und Menschen unter falschen Versprechungen vermittelten, aber sie wollte nicht, dass ihre Mutter sich noch mehr Sorgen machte. Sunja zerstieß den Zucker so fein wie möglich.
»Was, wenn unsere beiden Mädchen auch verschleppt wurden?«, fragte Yangjin.
»Umma, wir wissen das nicht«, flüsterte Sunja. Sie zündete die Flamme am Herd an und füllte Zucker und Wasser in die Schüssel.
»Es ist bestimmt so. Ich spüre das.« Yangjin nickte zu sich selbst. »Dein Appa – er wäre so traurig darüber gewesen, dass wir das Logierhaus verloren haben –, Aigoo. Und jetzt wird in Korea gekämpft.Wir können nicht zurückgehen, weil Noa und Mozasu zur Armee müssten. Ist das nicht so?«
Sunja nickte. Sie würde es niemals zulassen, dass ihre Söhne eingezogen wurden.
Yangjin zitterte. Der Zugwind, der durch die Ritzen des Küchenfensters drang, blies scharf auf ihre trockene, braune Haut, und sie stopfte ein Handtuch zwischen Rahmen und Fensterbrett. Sie zog sich ihre abgetragene Baumwollweste fester um ihr Nachthemd und fing an, die nächste Zuckermenge zu zerstoßen, während Sunja den blubbernden Inhalt des Topfs auf dem Feuer im Auge behielt.
Sunja fing an zu rühren, als der Zucker karamelisierte. Busan war wie ein anderes Leben, verglichen mit Osaka; Yeongdo, ihre kleine felsige Insel, war in ihrer Erinnerung unglaublich frisch und sonnig, obwohl sie seit vielen Jahren nicht mehr dort gewesen war. Als Isak ihr das Paradies erklären wollte, hatte sie sich ihre Heimatstadt vorgestellt – ein Ort klarer, schimmernder Schönheit. Selbst der Mond und die Sterne in Korea schienen ihr in ihrer Erinnerung anders als der kalte Mond hier; sosehr sich die Menschen auch beklagten, wie schwierig das Leben zu Hause jetzt war, Sunja konnte sich nichts anderes vorstellen als das helle, stabile Haus, das ihr Vater so gut in Schuss gehalten hatte, das grüne, glasige Meer, den fruchtbaren Garten, in dem Wassermelonen, Salat und Kürbis wuchsen, und der Markt, auf dem es immer köstliche Dinge zu kaufen gab. Damals, als das ihr Zuhause war, hatte sie es nicht genügend geliebt.
Die Nachrichten aus Korea waren so entsetzlich – Cholera, Hungersnöte, Soldaten, die selbst kleine Jungen entführten –, dagegen schienen ihre armseligen Bemühungen, genug Geld zusammenzukratzen, um Noa zur Universität zu schicken, reine Luxussorgen zu sein. Wenigstens waren sie alle zusammen. Wenigstens konnten sie auf etwas Besseres hinarbeiten. Der Krieg in Korea kurbelte die Wirtschaft in Japan an, und es gab mehr Arbeit für alle. Wenigstens waren die Amerikaner noch da, und die Frauen konnten Zucker und Weizen bekommen. Obwohl Yoseb es Sunja verboten hatte, Geld von Hansu anzunehmen, stellten die Frauen keine Fragen und sprachen auch nicht mit Yoseb darüber, wenn es Kim gelang, die knappen Zutaten ausfindig zu machen, die sie brauchten.
Sobald das Toffee in der Metallschüssel abkühlte, schnitten die Frauen es in kleine Vierecke.
»Dokhee hat mich immer damit aufgezogen, dass ich Zwiebeln so unordentlich schneide«, sagte Sunja und lächelte. »Und es regte sie auf, wenn ich die Reistöpfe so langsam auswusch. Und jeden Morgen, wenn ich die Fußböden gewischt habe, sagte sie: ›Nimm immer zwei Lappen zum Wischen. Erst auffegen, dann mit einem sauberen Lappen wischen, dann mit einem frischen Tuch nachwischen!‹ Dokhee war der reinlichste Mensch, den ich je gekannt habe.« Während sie sprach, sah Sunja Dokhees rundes, schlichtes Gesicht vor sich, das ganz ernst wurde, während sie die Anweisungen erteilte. Gesichtsausdruck, Gesten, die Stimme – alles stand ihr lebhaft vor Augen, und Sunja, die nicht oft betete, betete in ihrem Herzen für die beiden Mädchen zu Gott. Isak hatte immer gesagt, niemand könne wissen, warum manche Menschen mehr zu leiden hatten als andere, und man solle nicht vorschnell urteilen, wenn andere Qualen zu erdulden hatten. Warum war sie verschont worden und die anderen nicht?, fragte sie sich. Warum stand sie mit ihrer Mutter hier, in dieser Küche, während so viele andere zu Hause hungerten? Isak hatte immer gesagt, Gott habe einen Plan, und Sunja war bereit, das zu glauben, aber der Gedanke tröstete sie nur wenig, als sie jetzt an die beiden Schwestern dachte.
Als Sunja aufblickte, sah sie, dass ihre Mutter weinte.
»Die beiden haben ihre Mutter verloren, dann ihren Vater. Ich hätte mehr für sie tun sollen. Ich hätte versuchen sollen, Ehemänner für sie zu finden, aber wir hatten kein Geld. Das Schicksal einer Frau ist es, zu leiden. Wir müssen leiden.«
Sie legte ihrer Mutter die Hand auf die Schulter. Das Haar ihrer Mutter war fast ganz grau, und am Tage trug sie es in einem altmodischen Knoten im Nacken. Jetzt, in der Nacht, hing ihr der dünne Zopf über den Rücken. Nach Jahren harter Arbeit war ihr braunes, ovales Gesicht von tiefen Falten durchzogen, besonders auf der Stirn und um den Mund. Solange sie denken konnte, war ihre Mutter morgens als Erste aufgestanden und abends als Letzte zu Bett gegangen; auch als die Schwestern bei ihnen waren, hatte ihre Mutter so viel gearbeitet wie die Jüngeren. Sie hatte nie viel geredet, aber je älter sie wurde, desto mehr wollte sie erzählen. Sunja hingegen wusste nicht, was sie zu ihrer Mutter sagen sollte.
»Umma, weißt du noch, wie wir mit Appa die Kartoffeln ausgegraben haben? Appas köstliche Kartoffeln. Sie waren dick und weiß und schmeckten so gut, wenn du sie in der Asche gebacken hast. Ich habe danach nie wieder so gute Kartoffeln gegessen –«
Yangjin lächelte. Es hatte glücklichere Zeiten gegeben. Ihre Tochter hatte Hoonie nicht vergessen, der ihr ein so wunderbarer Vater gewesen war. So viele ihrer Babys waren gestorben, aber sie hatten Sunja gehabt. Und sie hatte Sunja immer noch.
»Wenigstens sind die Jungen in Sicherheit. Vielleicht ist das der Grund, warum wir hier sind.« Sie unterbrach sich, und ihr Gesicht hellte sich auf. »Dein Mozasu, der ist so lustig. Gestern hat er gesagt, er möchte in Amerika leben und einen Anzug mit Hut tragen, so wie die Leute in den Filmen. Er hat gesagt, er möchte fünf Söhne haben!«
Sunja lachte; die Geschichte klang ganz nach Mozasu.
»Amerika? Was hast du gesagt?«
»Ich habe gesagt, meinetwegen, solange er mich mit seinen fünf Söhnen besuchen kommt.«
Der Geruch von Karamell füllte die Küche, und die Frauen arbeiteten fleißig weiter, bis Sonnenlicht ins Haus strömte.
Für Mozasu war die Schule eine Qual. Er war dreizehn und groß für sein Alter. Er hatte breite Schultern, muskulöse Oberarme und wirkte männlicher als manche seiner Lehrer. Weil er trotz Noas selbstloser Bemühungen, ihm Kanji beizubringen, in Lesen und Schreiben nicht auf dem Klassenstand war, wurde er in eine Klasse von Zehnjährigen versetzt. Japanisch sprechen konnte Mozasu so gut wie seine Altersgenossen; mehr noch, er hatte eine große Redegewandtheit, die ihm bei seinen Kabbeleien mit älteren Kindern weiterhalf. Allein in Mathematik konnte er mithalten. Seine Lehrer nannten ihn einen koreanischen Dummkopf, und Mozasu nahm sich vor, stillzuhalten, bis er dieser Hölle entkam. Trotz des Krieges und der schwierigen Zeit in der Schule hatte Noa seinen Abschluss gemacht und lernte, wenn er nicht arbeitete, für die Aufnahmeprüfung an der Universität. Nie verließ er das Haus ohne eins der Prüfungsbücher oder einen der englischsprachigen Romane, die er gebraucht kaufte.
An sechs Tagen in der Woche arbeitete Noa für Hoji-san, den fröhlichen Japaner, dem die meisten Häuser im Viertel gehörten. Es wurde gemunkelt, dass Hoji-san in Wirklichkeit Burakumin oder Koreaner war, aber niemand sagte etwas über seine schändliche Abstammung, weil er der Vermieter der meisten Leute im Viertel war. Möglicherweise war dieses hässliche Gerücht von einem unzufriedenen Mieter in die Welt gesetzt worden, aber Hoji-san schien davon keine Notiz zu nehmen. Noa war sein Buchhalter und Sekretär, führte die Bücher vorbildlich und schrieb in Hoji-sans Auftrag in elegantem Japanisch Briefe an die Stadtverwaltung. Trotz seines Lächelns und seiner Witze kannte Hoij-san kein Erbarmen, wenn er die Mieten eintrieb. Er bezahlte Noa ein sehr kleines Gehalt, aber Noa beschwerte sich nicht. Hätte Noa für Koreaner im Glücksspielbetrieb oder in einem der Yakiniku-Restaurants gearbeitet, hätte er mehr verdienen können, aber er wollte in einem japanischen Büro eine Schreibtischarbeit haben. Wie fast alle japanischen Geschäftsleute stellte Hoji-san normalerweise keine Koreaner ein, aber Hoji-sans Neffe war Noas Lehrer gewesen, und so stellte Hoji-san, in jeder Hinsicht ein geschickter Geschäftsmann, den hochintelligenten zweisprachigen Schüler seines Neffen ein.
Abends half Noa seinem Bruder bei den Hausaufgaben, auch wenn beide wussten, dass es sinnlos war. Noa war von endloser Geduld und ärgerte sich nie, wenn Mozasu bei Prüfungen schlecht abschnitt. Er wollte nur verhindern, dass sein Bruder, wie so viele Koreaner, die Schule nicht zu Ende machte. Er bat auch Onkel Yoseb und seine Mutter, über Mozasus Zeugnisse nicht unglücklich zu sein. Er wolle lediglich erreichen, erklärte er, dass Mozasu durch einen Abschluss bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt hätte und ihm das Schicksal vieler anderer erspart bliebe, die Altmetall sammelten und weiterverkauften, alte Lebensmittel für die Schweine ihrer Mütter zusammensuchten, oder wegen Diebstählen und kleiner Vergehen ins Visier der Polizei gerieten.
War der Nachhilfeunterricht mit Mozasu vorbei, lernte Noa mithilfe eines Wörterbuchs und einer Grammatik Englisch. Jetzt konnte Mozasu ihm helfen, denn er war mehr an der englischen Sprache interessiert als an Japanisch oder Koreanisch.
In der schrecklichen Schule, die er besuchte, hielt Mozasu sich mittags und in den Pausen abseits. Außer ihm gab es vier weitere Koreaner in der Klasse, aber sie waren alle unter ihrem japanischen Namen bekannt und weigerten sich, über ihre Herkunft zu sprechen, besonders in Gegenwart anderer Koreaner. Mozasu kannte sie gut, denn sie lebten in seiner Straße, und er kannte ihre Familien. Die Jungen waren erst zehn Jahre alt und damit kleiner als Mozasu, und Mozasu empfand sowohl Verachtung als auch Mitleid mit ihnen und hielt sich von ihnen fern.
Die meisten Koreaner, die in Japan lebten, hatten mindestens drei Namen. Mozasu wurde Mozasu Boku genannt, die japanische Version von Moses Baek. Seinen offiziellen japanischen Nachnamen Bando, der Tsumei, der auf allen Schuldokumenten und Einwohnerpapieren eingetragen war, benutzte er nur selten. Mit einem Vornamen aus einer westlichen Religion und einem erkennbaren koreanischen Nachnamen, dazu einer Adresse im Getto, war allgemein bekannt, dass er Koreaner war – es hatte keinen Sinn, es zu leugnen. Die japanischen Kinder wollte nichts mit ihm zu tun haben, aber das störte Mozasu nicht. Als er jünger war, hatte es ihn unglücklich gemacht, wenn er gehänselt wurde. Jeden Tag sagten die größeren Jungen zu Mozasu: »Geh wieder nach Korea, du stinkender Mistbock.« Wenn es ein ganzer Pulk war, ging Mozasu einfach weiter; waren es aber nur ein oder zwei von den kleinen Arschlöchern, dann schlug er so lange zu, bis er Blut sah.
Mozasu wusste, dass er kurz davor war, ein schlechter Koreaner zu werden. Die Polizei verhaftete oft junge Koreaner, weil sie stahlen oder zu Hause Alkohol brauten. So bekam jede Woche jemand in seiner Straße Ärger mit der Polizei. Noa hatte erklärt, es würde immer allen Koreanern die Schuld gegeben, wenn einige wenige gegen das Gesetz verstießen. In jeder Straße in Ikaino gab es Männer, die ihre Frauen schlugen, und Mädchen, die in Bars arbeiteten und sich angeblich prostituierten. Noa war der Meinung, Koreaner sollten sich darüber erheben, indem sie viel arbeiteten und versuchten, gute Menschen zu sein. Doch Mozasu wollte am liebsten jeden verhauen, der etwas Gemeines gegen Koreaner sagte. In Ikaino gab es alte Frauen, die fluchten, und Männer, die so betrunken waren, dass sie vor dem Haus schliefen. Die Japaner wollten nicht in der Nähe von Koreanern wohnen, weil es hieß, die Koreaner seien schmutzig, sie lebten mit Schweinen, und ihre Kinder hätten Läuse. Außerdem stünden die Koreaner in den Augen der Japaner noch unter den Burakumin, denn wenigstens hatten die Burakumin japanisches Blut. Als Noa seinem Bruder erzählte, er sei früher in den Augen seiner Lehrer ein guter Koreaner gewesen, begriff Mozasu, dass er selbst aufgrund seiner schlechten Schulnoten und seines schlechten Betragens in den Augen derselben Lehrer ein schlechter Koreaner war.
Was sollte das Ganze? Wenn die zehnjährigen Jungen fanden, er sei dumm – sollten sie doch. Wenn sie dachten, er sei aggressiv – auch gut. Wenn nötig, würde Mozasu ihnen die Zähne ausschlagen. Wenn ihr denkt, ich bin ein Tier, dachte Mozasu, dann benehme ich mich wie ein Tier und tue euch weh. Mozasu hatte nicht die Absicht, ein guter Koreaner zu sein. Wozu sollte er?
Am Ende des Winters, wenige Monate, bevor der Krieg in Korea zu Ende ging, kam ein neuer Junge in die Klasse. Er war aus Kyoto und elf Jahre alt, fast schon zwölf. Haruki Totoyama kam aus ärmlichen Verhältnissen, wie man an seiner schäbigen Schuluniform und den abgestoßenen Schuhen sehen konnte. Er war dünn und drahtig und dazu kurzsichtig. Der Junge hatte ein kleines, dreieckiges Gesicht, und vielleicht wäre er mit den anderen klargekommen, aber es war sein Pech, dass jemand erzählte, er lebe in der Straße zwischen dem koreanischen Getto und dem japanischen Armenviertel. Schon bald ging das Gerücht um, dass Haruki ein Burakumin war, obwohl das nicht stimmte. Dann stellte sich heraus, dass Haruki einen jüngeren Bruder hatte, dessen Kopf die Form einer eingedrückten Melone hatte. Auch als Japanerin war es schwer für Harukis Mutter gewesen, eine bessere Wohnung zu finden, denn die japanischen Vermieter glaubten, auf der Familie läge ein Fluch. Haruki hatte keinen Vater; das wäre hinnehmbar, wenn sein Vater als Soldat im Krieg gestorben wäre, aber in Wahrheit hatte der Vater nach der Geburt von Harukis Bruder einen Blick auf das Baby geworfen und sich aus dem Staub gemacht.
Anders als Mozasu lag Haruki sehr viel daran, akzeptiert zu werden, und er gab sich alle Mühe, doch selbst die Kinder mit dem geringsten sozialen Ansehen verachteten ihn. Er wurde wie ein räudiges Tier behandelt. Die Lehrer, die sich in ihrem Verhalten nach den ältesten Schülern richteten, hielten sich von Haruki fern. Der Neue hatte gehofft, in seiner neuen Schule würde es anders sein als in Kyoto, aber er sah schnell ein, dass er auch hier keine Chance hatte.
Mittags saß Haruki allein am Ende des langen Tisches, auf jeder Seite zwei leere Plätze, wie eine Klammer um ihn herum, während die anderen Jungen in ihren dunklen Wolluniformen nebeneinander saßen. Mozasu, der nicht weit entfernt ebenfalls allein saß, beobachtete den Neuen, der immer wieder etwas zu der Gruppe Jungen sagte, aber natürlich keine Antwort bekam.
Nachdem Mozasu sich das einen Monat lang angesehen hatte, sprach er den Jungen in der Toilette endlich an.
»Warum willst du, dass die Jungen dich mögen?«, fragte Mozasu.
»Was soll ich sonst tun?«, antwortete Haruki.
»Du kannst sagen, sie sollen sich verpissen, und für dich allein bleiben.«
»Und was mache ich dann?«, fragte Haruki. Er wollte nicht frech sein, aber er wollte wissen, was die Alternative war.
»Weißt du, wenn Leute dich nicht mögen, liegt das nicht immer an dir. Das hat mir mein Bruder beigebracht.«
»Du hast einen Bruder?«
»Ja. Er arbeitet für Hoji-san, du weißt schon, den Vermieter.«
»Ist dein Bruder der junge Mann mit Brille?«, fragte Haruki. Hoji-san war auch der Vermieter seiner Mutter.
Mozasu nickte und lächelte. Er war stolz auf Noa, der in der Nachbarschaft von allen gemocht und respektiert wurde.
»Ich muss wieder zum Unterricht«, sagte Haruki. »Ich kriege Ärger, wenn ich zu spät komme.«
»Du bist ein Weichei«, sagte Mozasu. »Warum kümmert es dich überhaupt, wenn die Lehrer dich anschreien? Kara-sensei ist ein noch größeres Weichei als du.«
Haruki schluckte überrascht.
»Wenn du willst, kannst du in den Pausen neben mir sitzen«, sagte Mozasu. Ein solches Angebot hatte er noch nie jemandem gemacht, aber er hätte es nicht ertragen, wenn Haruki noch ein einziges Mal vergebens versucht hätte, mit diesen Arschlöchern zu reden.
»Wirklich?«, fragte Haruki und lächelte.
Mozasu nickte, und später, als erwachsene Männer, vergaßen sie nie, wie ihre Freundschaft begonnen hatte.