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März 1956

Goro war ein dicker und attraktiver Koreaner und sehr beliebt bei schönen Frauen. Seine Mutter war auf der Insel Jeju Seeschnecken-Taucherin gewesen. Und in dem Viertel Ikaino, wo Goro allein in einem bescheidenen Einzelhaus lebte, erzählte man sich, dass er einst ein wendiger und kräftiger Schwimmer gewesen sei. Dieser Tage konnte man sich nur schwerlich vorstellen, dass er zu etwas anderem in der Lage war, als lustige Geschichten zu erzählen und die schmackhaften Snacks zu verspeisen, die er sich in seiner Küche zubereitete. Mit seinen fleischigen Armen und dem großen Bauch verströmte er eine füllige Sinnlichkeit; vielleicht lag es an der glatten, hellbraunen Haut, oder wie er in einen gut geschnittenen Anzug passte, in dem er einem selbstzufriedenen Seelöwen ähnelte, der durch die Straßen der Stadt glitt. Er war äußerst redegewandt – einer von denen, der einem Eskimo einen Kühlschrank verkaufen konnte. Obwohl er mit seinen drei Pachinko-Lokalen viel Geld verdiente, lebte er einfach und verzichtete auf teure Gewohnheiten. Er war für seine Großzügigkeit gegenüber Frauen bekannt.

Seit sechs Monaten arbeitete Mozasu jetzt in Goros größtem Pachinko-Lokal und erledigte alles, was anstand. In dieser Zeit hatte der sechzehnjährige Junge mehr über die Welt gelernt als in seiner gesamten Schulzeit. Geld zu verdienen, war zehnmal leichter und angenehmer, als sich den Kopf mit Kanji vollzustopfen, für das er keine Verwendung hatte. Im Pachinko-Lokal arbeiteten fast ausschließlich Koreaner, und niemand machte dumme Bemerkungen über seine Herkunft. In der Schule hatte Mozasu geglaubt, der Spott der anderen machte ihm nicht viel aus; erst, als die vielen Sticheleien aus seinem Leben verschwanden, wurde ihm bewusst, welchen Frieden er mit einem Mal empfand. Seit er bei Goro arbeitete, war er nicht einmal in eine Schlägerei verwickelt gewesen.

Jeden Samstagabend gab er seiner Mutter seine Lohntüte, und sie gab ihm ein Taschengeld. Sie nahm das, was sie für den Haushalt brauchte, legte aber so viel wie möglich zurück, weil Mozasu eines Tages sein eigenes Geschäft haben wollte. Jeden Morgen eilte Mozasu zur Arbeit und blieb so lange, wie er die Augen offen halten konnte; bereitwillig fegte er Zigarettenstummel auf oder wusch Teetassen aus, wenn Kayoko, das Küchenmädchen, zu viel zu tun hatte.

Es war ein milder Märzmorgen, zwei Stunden nach Tagesanbruch. Mozasu duckte sich durch die Hintertür und fand Goro, der die Stifte in einer bestimmten Maschine bearbeitete. Jeden Tag, bevor der Laden aufmachte, manipulierte Goro mit einem kleinen Gummihammer die Stifte in den senkrecht stehenden Pachinko-Maschinen. Er klopfte ganz zart auf den Stift, um den Lauf der Metallkugel geringfügig zu ändern und den Ertrag der Maschine zu beeinflussen. Niemand wusste, welche Maschine Goro sich vornahm und in welche Richtung er die Stifte lenkte. In der Gegend gab es auch andere Pachinko-Lokale, die gute Geschäfte machten, aber Goros war am erfolgreichsten, denn er hatte ein echtes Händchen für die Stifte. Mit den winzigen Änderungen, die er vornahm, frustrierte er die Stammkunden, die die Maschinen genau studiert hatten und auf einen besseren Gewinn am nächsten Morgen hofften; dennoch gab es eine gewisse Vorhersehbarkeit, die zu attraktiven Gewinnen führte, sodass die Kunden immer wieder kamen und ihr Glück aufs Neue versuchten. Goro brachte Mozasu bei, wie man die Stifte bearbeiten musste, und zum ersten Mal in seinem Leben hatte jemand zu Mozasu gesagt, dass er schnell lerne.

»Guten Morgen, Goro-san«, sagte Mozasu und kam ins Geschäft gelaufen.

»Wieder so früh, Mozasu. Sehr gut. Kayoko hat Hühnerreis gemacht, du solltest etwas frühstücken. Du bist ein großer Junge, aber du musst noch etwas zulegen. Frauen mögen es, wenn sie was zum Festhalten haben!« Goro lachte laut und zog die Augenbrauen hoch. »Das ist doch so, oder?«

Mozasu lächelte; es machte ihm nichts aus, wenn man ihn neckte. Goro-san sprach mit ihm, als hätte er auch schon viele Frauen gehabt, während er in Wahrheit noch nie bei einem Mädchen gelegen hatte.

»Meine Mutter hat heute Morgen Suppe gemacht, ich habe also schon gegessen. Vielen Dank.« Mozasu setzte sich neben seinen Chef.

»Wie geht es deiner Mutter?«

»Gut. Sehr gut.«

Obwohl Noa es streng missbilligte, dass Mozasu in einem Pachinko-Lokal arbeitete, hatte Sunja ihm erlaubt, bei Goro zu lernen, der in Ikaino große Achtung genoss. Mozasu würde keinen Schulabschluss haben, aber Noa lernte immer noch für die Aufnahmeprüfung an der Waseda-Universität, und das war der Familie ein Trost – wenigstens einer der Jungen würde eine Bildung haben, so wie ihr Vater.

»Wie läuft das Geschäft? Zucker macht abhängig. Man kann gut Geld damit verdienen. Nee?« Er lachte und klopfte sachte auf einen Stift und dann auf den nächsten.

Mozasu nickte. Er war stolz auf den Süßwarenstand der Familie. Mozasu wollte so viel Geld verdienen, dass er für Noas Studium bezahlen und seiner Mutter einen schönen Laden kaufen konnte.

Goro gab Mozasu den Hammer.

»Versuch es mal.«

Mozasu klopfte sachte auf den Stift, Goro sah ihm zu.

»Gestern Abend habe ich mich mit einer Dame getroffen, meiner Freundin Miyuki, und wir haben zu viel getrunken. Mozasu, mach es nicht wie ich, verbring deine freie Zeit nicht mit teuren Mädchen«, sagte Goro und lächelte. »Außer, sie sind sehr hübsch.«

»Miyuki-san ist sehr hübsch«, sagte Mozasu.

»Soo nee. Schöne Titten und ein Bauch wie eine Meerjungfrau. Frauen schmecken so gut. Wie Toffee! Ich weiß nicht, wie ich mich je mit einer einzigen zufriedengeben könnte«, sagte Goro. »Aber ich sehe auch gar nicht ein, warum ich das sollte. Weißt du, Mozasu, ich habe keine Eltern mehr, und das macht mich traurig, aber andererseits ist niemand da, der mich verheiraten möchte.« Er nickte und sah nicht im Mindesten traurig aus.

»Und mit wem bist du gestern Abend ausgegangen?«, fragte Goro.

Mozasu lächelte.

»Sie wissen, dass ich hier war, bis wir zugemacht haben. Dann bin ich nach Hause gegangen.«

»Du hast also nicht mit Kayoko in der Küche geschäkert?«

»Nein.« Mozasu lachte.

»Ah, stimmt ja. Das war ich. Die Arme. Sie ist so kitzelig. Sieht nicht schlecht aus, und eines Tages wird sie eine gute Figur haben, aber im Moment ist sie zu jung. Eines Tages wird ihr jemand Rouge und Puder kaufen, und dann wird sie uns verlassen. So ist das mit den Frauen.«

Mozasu verstand nicht, warum sein Chef an dem Küchenmädchen interessiert war, wenn er regelmäßig mit Schauspielerinnen und Tänzerinnen ausging.

»Aber Kayoko eignet sich sehr gut zum Kitzeln. Sie hat ein süßes Lachen.« Goro stieß Mozasus Knie mit seinem an. »Weißt du was, Mozasu, ich mag es, dass ihr jungen Leute hier seid. Das macht es viel lustiger.« Goro ließ Mozasu im Hauptgeschäft arbeiten, weil er eine wunderbare Energie mitbrachte. Goro konnte es sich jetzt leisten, in all seinen Geschäften genügend Mitarbeiter einzustellen. Noch bis vor Kurzem hatte er, nachdem er die Läden eröffnet hatte, dieselbe Arbeit verrichtet wie jetzt Mozasu. Goro musterte den Jungen von oben bis unten und runzelte die Stirn.

Mozasu sah seinen Chef fragend an.

»Du hast jeden Tag dasselbe an, weißes Hemd und schwarze Hosen. Du siehst sauber aus, aber ein bisschen wie ein Hausmeister. Du hast zwei Hemden und zwei Paar Hosen. Ist das so?« Goros Tonfall war freundlich.

»Ja, Sir.« Mozasu sah nach unten. Seine Mutter hatte das Hemd am Abend zuvor gebügelt. Er sah gut angezogen aus, aber Goro-san hatte recht – er sah nicht wichtig aus. Sie hatten kein Geld für Kleidung. Nach den Ausgaben für Lebensmittel, Unterricht und Fahrtkosten wurde das ganze Geld für Onkel Yosebs Behandlung gebraucht. Es ging ihm schlechter, die meiste Zeit blieb er im Bett.

»Du brauchst mehr Sachen zum Anziehen. Los.« Goro rief: »Kayo-chan, ich bin ein paar Minuten mit Mozasu weg. Lass niemanden rein, verstanden?«

»Ist gut, Sir«, rief Kayoko aus der Küche.

»Aber ich muss die Tabletts mit den Kugeln auslegen und den Eingang fegen. Die Maschinen müssen geputzt werden, außerdem wollte ich Kayoko mit den Handtüchern helfen –« Mozasu zählte seine Aufgaben für den Vormittag auf, aber sein Chef war schon zur Tür hinaus.

»Mozasu, komm! Beeil dich, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit. So kannst du nicht länger rumlaufen.«

 

Die Frau, die an die schmale Holztür kam, war überrascht, den hochgeschossenen Jungen neben ihrem Kunden Goro-san zu sehen.

Mozasu erkannte sofort Harukis Mutter. Er war noch nie im Haus seines Freundes gewesen, aber er hatte sie mehrmals auf der Straße gesehen, und Haruki hatte ihn seiner Mutter vorgestellt.

»Totoyama-san! Hallo.« Mozasu verneigte sich tief.

»Mozasu-san, hallo. Willkommen. Ich hatte schon gehört, dass du jetzt für Goro-san arbeitest.«

Goro lächelte. »Er ist ein guter Junge. Entschuldigen Sie bitte, dass ich so früh komme, Totoyama-san, Mozasu braucht ein paar Dinge zum Anziehen.«

Als Mozasu das Haus betrat, war er überrascht, wie klein es war. Die Wohnfläche war höchstens ein Drittel von seinem Zuhause. Im Grunde war es ein einziger Raum, der von einer langen Trennwand geteilt wurde – im vorderen Teil standen die Nähmaschine und eine Schneiderpuppe, auch die Stoffe waren hier. Ein Sandelholz-Räucherstäbchen überdeckte den Kochgeruch von Shoyu und Mirin. Der Raum war blitzsauber. Er war bestürzt zu sehen, wie beengt Haruki mit seiner Mutter und seinem Bruder lebte. In dem Moment wurde ihm bewusst, dass er seinen Freund vermisste. Mozasu hatte Haruki nicht mehr gesehen, seit er von der Schule abgegangen war und zu arbeiten begonnen hatte.

»Mozasu wird mein neuer Vormittags-Schichtleiter. Mein Jüngster bisher.«

»Ehh?«, sagte Mozasu.

»Aber ein Schichtleiter kann nicht aussehen wie ein Junge, der die Maschinen reinigt und Handtücher und Tee an die Gäste verteilt«, sagte Goro. »Totoyama-san, machen Sie ihm bitte zwei richtige Jacketts und dazu passende Hosen.«

Totoyama nickte ernst und rollte ihr Maßband auf, um die Schultern und Arme des jungen Mannes zu messen. Mit einem Bleistiftstummel schrieb sie die Maße auf einen Block, der aus altem Einwickelpapier gemacht war.

»Mama! Mama! Kann ich rauskommen?«

Es war die Stimme eines Mannes, der in dem bittenden Ton eines Kleinkindes sprach.

»Entschuldigen Sie. Mein Sohn ist neugierig. Normalerweise haben wir so früh am Morgen keine Kunden.«

Goro-san gab ihr mit einer Geste zu verstehen, dass sie nach ihrem Sohn sehen solle.

Als sie aus dem Zimmer war, machte Goro ein trauriges Gesicht. »Der Junge ist –«

Mozasu nickte; er wusste das mit Harukis jüngerem Bruder. Sechs Monate waren vergangen, seit er Haruki gesehen hatte, der weiter zur Schule ging. Er wollte Polizist werden. Erst, als Mozasu abging, verstanden die beiden, dass die Schule ihnen die Freundschaft ermöglicht hatte; jetzt konnten sie sich nicht mehr treffen, weil Mozasu den ganzen Tag arbeitete.

Die Schiebetür zwischen den beiden Zimmerteilen bestand aus Papier und dünnen Holzstreben, und Goro und Mozasu konnten jedes Wort verstehen.

»Daisuke-chan, Mama kommt gleich wieder, nee? Ich bin nebenan. Du kannst mich hören, nee?«

»Mama, ist mein Bruder aus der Schule gekommen?«

»Nein, nein. Daisuke-chan. Haruki ist erst vor einer Stunde gegangen. Wir müssen ganz geduldig auf ihn warten. Er kommt noch lange nicht nach Hause. Mama soll ein paar Jacketts für Harukis lieben Freund nähen. Bleibst du schön hier und legst deine Puzzles?«

»Ist Mozasu-san hier?«

Mozasu war überrascht, als er seinen Namen hörte, und blickte auf die Tür.

»Ich möchte ihn kennenlernen, Mama. Das ist der koreanische Junge. Darf ich ihn bitte sehen? Mein Bruder sagt, Mozasu kann fluchen. Ich will das hören.« Daisuke lachte laut.

Goro klopfte Mozasu auf den Rücken, als wollte er ihn beruhigen. Mozasu spürte Goros Mitgefühl und Freundlichkeit.

»Oh, Mama! Mama! Ich möchte den koreanischen Freund sehen. Oh, Mama, bitte?«

Plötzlich wurde es still, und Totoyamas Stimme war ein leises Murmeln, wie ein Vogelgurren. »Daisuke-chan, Daisuke-chan, Daisuke-chan«, summte Harukis Mutter. Sie sagte den Namen immer wieder, bis der Junge sich beruhigt hatte.

»Am besten, du bleibst hier und machst dein Puzzle und hilfst Mama. Einverstanden? Du bist ein liebes Kind. In ein paar Stunden kommt Haruki nach Hause. Dann möchte er sehen, dass du mit dem Puzzle weitergekommen bist.«

»Ja, Mama, ja. Aber erst spiele ich mit meinem Kreisel. Können wir heute Reis essen? Wenn wir einen Kunden haben, können wir dann Reis essen? Manchmal kaufst du Reis, wenn wir Kunden haben. Ich will einen großen Reisball, Mama.«

»Später, Daisuke-chan. Wir sprechen später weiter, Daisuke-chan, Daisuke-chan, Daisuke-chan«, murmelte sie.

Totoyama kam zurück und entschuldigte sich. Goro winkte ab. Zum ersten Mal sah Mozasu bei Goro einen bekümmerten Ausdruck. Er lächelte Totoyama die ganze Zeit an, aber in seinen schräg stehenden Augen stand Anteilnahme angesichts ihrer stoischen und doch sanften Miene.

»Könnten Sie dem Jungen bitte zwei Jacketts, zwei Paar Hosen und einen richtigen Wintermantel nähen? Er trägt immer eine blank gescheuerte Jacke. Meine Kunden sollen sehen, dass die Angestellten in meinen Läden sauber und gut gekleidet sind.«

Goro-san gab ihr einige Scheine, und Mozasu wandte sich ab. Er sah sich in dem winzigen Raum nach Hinweisen auf seinen Freund um. Aber es gab keine Fotos, Bücher oder Bilder. An der Wand neben der mit einem Vorhang abgetrennten Umkleidekabine hing ein kleiner Spiegel.

»Später schicke ich Kayoko vorbei, dann können Sie ihr auch etwas nähen, was zu Mozasus Ausstattung passt. Ich finde, sie sollten eine gestreifte Krawatte oder irgendetwas Gestreiftes tragen, beide das Gleiche. Etwas Ähnliches habe ich letzten Monat in einem Salon in Tokio gesehen. Das Mädchen sollte ein gutes Kleid mit einer Schürze darüber tragen. Vielleicht sollte die Schürze gestreift sein. Was meinen Sie? Gut, ich überlasse das Ihnen. Zwei oder drei Ausstattungen wären gut, recht robust.« Goro nahm noch ein paar Scheine aus dem Bündel und gab sie ihr.

Totoyama verneigte sich immer wieder. »Das ist zu viel«, sagte sie und sah auf die Scheine.

Goro sah Mozasu an. »Wir müssen zurück. Die Kunden wollen an ihre Maschinen!«

»Goro-san, die Jacketts und Hosen sind Ende der Woche fertig. Den Mantel nähe ich zuletzt. Mozasu soll noch einmal kommen, um die Jacketts anzuprobieren. Kannst du in drei Tagen wiederkommen?«

Mozasu sah Goro-san an, der bestätigend nickte.

»Jetzt komm, Mozasu. Nicht, dass die Kunden warten müssen.«

Mozasu folgte seinem Chef; er hatte nichts über seinen Freund erfahren, der gerade die morgendlichen Schulstunden durchlitt.

Totoyama verneigte sich, als sie gingen, und blieb auf der Schwelle stehen, bis Goro und Mozasu um die Ecke verschwanden. Sie machte die Tür hinter sich zu und verriegelte sie. Jetzt war genug Geld für Miete und Essen in diesem Monat da. Totoyama setzte sich mit dem Rücken an die Tür und weinte vor Erleichterung.