OKtober 1961
Mozasu lehnte an dem Ahornbaum gegenüber Totoyamas Werkstatt, halb verborgen von dem Stamm. Dies war ihr Treffpunkt. An drei Abenden in der Woche traf Mozasu sich nach der Arbeit mit Yumi. Seit über einem Jahr hatte er sie zu den Englischstunden in der Kirche begleitet, danach waren sie in ihr Zimmer gegangen, wo Yumi ihnen ein einfaches Abendessen bereitete. Oft schliefen sie miteinander, bevor Mozasu ins Paradaisu Seven zurückkehrte, wo er so lange arbeitete, bis das Lokal schloss, und sich dann auf einem der Schlafplätze für Angestellte schlafen legte.
Es war schon Oktober, und obwohl die Abendbrise noch voller sommerlicher Wärme war, verfärbten sich die Blätter schon golden. Der hohe Baum über ihm war ein goldpoliertes Spitzengewebe vor dem verschwommenen Abendhimmel. Arbeiter und Menschen in Bürokleidung waren auf dem Weg nach Hause, und kleine Kinder kamen aus den Häusern gerannt, um ihre Väter zu begrüßen. Im letzten Jahr hatte die Gegend entlang der Straße, an der Totoyamas neue Werktstatt lag, einen Aufschwung erlebt, und Familien waren in die leer stehenden Häuser am Fluss gezogen. Ein Gemüsehändler hatte in der einst verlassenen Gegend so gute Geschäfte gemacht, dass er den Laden neben seinem für seinen Schwager mieten konnte, der dort Bekleidung verkaufte. Die neue Bäckerei, die portugiesische Biskuitkuchen verkaufte, deren Aroma sich in der Straße verbreitete, war inzwischen so berühmt in Osaka, dass sich morgens lange Schlagen davor bildeten.
Die Näherinen in Totoyamas Werkstatt arbeiteten länger als sonst, und Mozasu studierte die zerkrumpelte Liste der neuen Vokabeln. In der Schule hatte er nie viel auf sein Gedächtnis gegeben, aber jetzt stellte er fest, dass er sich englische Wörter und Ausdrücke gut merken konnte. Damit konnte er bei Yumi Eindruck machen. Anders als die meisten Mädchen, die sich für Geldgeschenke, Kleider oder Schnickschnack interessierten, war es für Mozasus Freundin das Wichtigste, dass sie etwas lernte. Yumi schien am glücklichsten, wenn Mozasu von Pfarrer John Maryman aufgerufen wurde und die richtigen Antworten geben konnte. Yumi wollte später einmal in Amerika leben und hielt deshalb gute Englischkenntnisse für unentbehrlich.
Das Tageslicht wurde schwächer, und das Lesen wurde schwieriger, und als der Schatten eines Menschen über ihn glitt, konnte er gar nichts mehr entziffern. Dann nahm er kurz vor sich ein Paar Männerschuhe wahr und hob den Blick.
»Ist es möglich, dass du am Lernen bist, Mo-san? Honto?«
»He, Haruki!«, rief Mozasu. »Bist du das? Ich habe dich wer weiß wie lange nicht gesehen!« Er packte die Hand seines Freundes und schüttelte sie kräftig. »Ich erkundige mich immer bei deiner Mutter nach dir. Sie ist richtig stolz auf dich. Sie prahlt nicht, das nicht, aber sie zeigt es auf ihre stille, höfliche Totoyama-Art. Und sieh dich an! Haruki, der – Polizist!« Mozasu pfiff anerkennend beim Anblick von Harukis Akademie-Uniform. »Du siehst aus, als wäre es dir ernst. Macht mir Lust, ein Verbrechen zu begehen. Du würdest mich nicht verpfeifen, oder?«
Haruki lächelte und klopfte Mozasu leicht auf die Schulter; in der Gegenwart seines alten Schulfreundes war er verlegen. Es war Haruki schwergefallen, den Kontakt mit Mozasu abzubrechen, aber es war nötig gewesen, weil seine Gefühle für Mozasu zu stark gewesen waren. Im Laufe der Jahre hatte es andere Verliebtheiten gegeben, außerdem Begegnungen mit Fremden. Seit Kurzem war da der Bursche an der Akademie, Koji, ein zäher, lustiger Typ. So wie von Mozasu hielt er sich auch von Koji fern; er wusste sehr genau, dass er das Öffentliche und das Private sorgfältig voneinander trennen musste.
»Was zum Teufel machst du hier? Lebst du nicht in der Akademie?«
Haruki nickte. »Ich habe eine Woche frei.«
»Und? Wann bist du fertiger Polizist? Ich meine Ermittler.« Mozasu schmunzelte und gab vor, sich förmlich zu verneigen.
»In zwei Jahren.«
Bei Mozasus Anblick unter dem Ahornbaum war Haruki im ersten Moment so überwältigt gewesen, dass er sich außerstande sah, auf ihn zuzugehen. Als Kind hatte Haruki Mozasu verehrt, denn er hatte ihn vor den Quälereien in der Schule bewahrt. Nachdem Mozasu von der Schule abgegangen war, hatte Haruki den Verlust wie einen körperlichen Schmerz empfunden. Die Schule war eine Qual, und Haruki suchte Zuflucht bei einer freundlichen Kunstlehrerin, in deren Obhut er sein Skizzenbuch mit Zeichnungen füllte. Zu Hause war alles beim Alten: Sein jüngerer Bruder wurde nicht erwachsen, und seine Mutter musste arbeiten, bis sie vor Müdigkeit umfiel. Die Kunstlehrerin, deren Mann und Bruder bei der Polizei waren, hatte ihm vorgeschlagen, auf die Polizeiakademie zu gehen. Interessanterweise hatte sie mit ihrer Eingebung nicht unrecht gehabt. Haruki liebte die Akademie mit ihren Regeln und hierarchischen Strukturen und erledigte das, was man von ihm verlangte, gewissenhaft und gut. Außerdem war es leicht, neu anzufangen, wo niemand ihn kannte.
»Warum stehst du hier draußen?«, fragte Haruki. Inzwischen stand die Sonne tief, und das glühende Orange rührte ihn.
»Ich warte auf Yumi. Sie arbeitet für deine Mutter. Aber niemand soll das wissen. Obwohl ich nicht glaube, dass es deine Mutter stören würde. So schrecklich bin ich ja nicht.«
»Ich sage nichts«, sagte Haruki und fand Mozasu noch attraktiver als früher. Er hatte Mozasus glatte Stirn, die kräftige Nase und die ebenmäßigen weißen Zähne immer bewundert, aber in seinem Manageranzug sah er aus wie ein erwachsener Mann, der sein Leben fest in den Händen hatte. Haruki wollte so sein wie er.
Die Fenster der Werkstatt waren immer noch hell erleuchtet, und die Mädchen hatten die Köpfe über die Arbeit gesenkt. Mozasu stellte sich vor, wie Yumis dünne Finger über den Stoff flogen. Wenn Yumi auf ihre Arbeit konzentriert war, konnte nichts sie ablenken. So war sie bei allem, und manchmal saß sie stundenlag über einer Sache. Mozasu konnte sich nicht vorstellen, so lange still zu sitzen, er würde den Lärm und die Betriebsamkeit im Pachinko-Lokal vermissen. Sein Vater, der presbyterianische Geistliche, hatte an einen göttlichen Plan geglaubt. Für Mozasu war das Leben wie ein Spiel, bei dem der Spieler die Rädchen einstellen konnte, aber auch mit Faktoren rechnen musste, die außerhalb seiner Kontrolle lagen und Ungewissheit bedeuteten. Er verstand, warum seine Kunden an einer Maschine spielen wollten, die vorhersagbar schien, aber trotzdem Platz für Zufall und Hoffnung ließ.
»Kannst du sie sehen?« Mozasu zeigte mit Stolz in die Werkstatt. »Da! Am vierten Tisch von –«
»Yumi-san. Ja, ich kenne sie. Sie ist eine sehr gute Näherin. Ein sehr elegantes Mädchen. Da hast du Glück«, sagte Haruki. »Und wie läuft es bei dir? Bist du ein reicher Mann?«
»Du solltest mal vorbeikommen. Ich bin jetzt im Paradaisu Seven. Komm morgen. Ich bin den ganzen Tag über da und auch am Abend, außer wenn ich mit Yumi zum Englischunterricht gehe.«
»Ich weiß nicht. Ich muss bei meinem Bruder bleiben, wenn ich zu Hause bin.«
»Ich habe gehört, in letzter Zeit ist er ein bisschen niedergeschlagen.«
»Deswegen bin ich nach Hause gekommen. Mutter sagt, er wird ein bisschen wunderlich. Er macht ihr keine Schwierigkeiten, aber sie sagt, er spricht immer weniger. Die Ärzte wissen nicht, was sie tun sollen. Sie schlagen vor, dass wir ihn in ein Heim geben. Ihrer Meinung nach geht es ihm vielleicht besser, wenn er mit Menschen lebt, die ähnlich sind wie er, aber das bezweifle ich. Diese Häuser können –« Haruki sog Luft durch die Zähne ein. »Natürlich würde Mutter es nie zulassen. Daisuke ist ein guter Junge.« Haruki sagte das leise; er hatte schon immer gewusst, dass Daisuke seine Verantwortung wäre, wenn seine Mutter eines Tages nicht mehr für seinen Bruder sorgen konnte. Haruki konnte nur eine Frau heiraten, die bereit wäre, sich um Daisuke und Harukis alternde Mutter zu kümmern.
»Yumi sagt, vielleicht wäre er in Amerika besser dran. Aber natürlich denkt sie, dass jeder in Amerika besser dran wäre. Sie sagt, dort ist es nicht wie hier, wo niemand von dem bestehenden Muster abweichen darf.«
Mozasu hielt die Vorliebe seiner Freundin für alles Amerikanische für übertrieben. Wie sein Bruder Noa fand auch Yumi, dass Englisch die wichtigste Sprache war und Amerika das beste Land.
Als Yumi auf die beiden unter dem Baum zukam, erkannte sie den älteren Sohn ihrer Chefin. Es wäre unhöflich gewesen, wieder umzukehren, also ging sie weiter.
»Du kennst Haruki-san«, sagte Mozasu zu Yumi mit einem Lächeln. »In der Schule war er mein einziger Freund. Und jetzt wird er Verbrechensbekämpfer!«
Yumi nickte und lächelte verlegen.
»Yumi-san. Wie schön, Sie zu sehen. Ich habe es Ihnen zu verdanken, dass ich nach so vielen Jahren meinen Freund wiedergesehen habe.«
»Sind Sie von der Akademie nach Hause gekommen, Haruki-san?« Yumi verharrte in einer förmlichen und höflichen Haltung.
Haruki nickte, dann verabschiedete er sich unter dem Vorwand, dass Daisuke zu Hause auf ihn wartete. Aber bevor er ging, versprach er Mozasu, ihn am nächsten Morgen im Pachinko-Lokal zu besuchen.
Ihr Englischkurs fand in dem großen Konferenzraum einer neuen koreanischen Kirche statt, die vor Kurzem mit den üppigen Spenden einiger reicher Yakiniku-Familien gebaut worden war. Trotz seines europäischen Namens war John Maryman, der Lehrer, gebürtiger Koreaner, der als Baby von amerikanischen Missionaren adoptiert worden war. Englisch war seine Muttersprache. Aufgrund seiner besseren, protein- und kalziumreichen Ernährung war John bemerkenswert viel größer als die Koreaner und Japaner in seiner Umgebung. Mit seiner Größe von fast einem Meter achtzig löste sein Erscheinen stets Aufsehen aus, als wäre ein Riese vom Himmel gestiegen. Er sprach fließend Japanisch und Koreanisch, hatte aber in beiden Sprachen einen amerikanischen Akzent. Nicht nur in seiner Körpergröße unterschied John sich von den anderen, sondern auch in seinem Verhalten, denn es war das eines Fremden. John scherzte mit Menschen, auch wenn er sie nicht gut kannte, und wenn etwas lustig war, lachte er lauter als alle anderen. Wäre da nicht seine geduldige koreanische Frau gewesen, deren Noonchi meisterhaft war und die den Menschen taktvoll erklärte, dass John es einfach nicht besser wusste, würde er wegen seiner sozialen Ungeschicklichkeiten viel öfter in Schwierigkeiten geraten. Für einen presbyterianischen Pastor war er viel zu jovial, aber er war ein guter Mensch, sein Gottvertrauen war groß und seine Intelligenz bemerkenswert. Seine Mutter, Cynthia Maryman, Erbin eines Automobilreifenkonzerns, hatte ihn zum Theologiestudium nach Princeton und Yale geschickt, und zur Freude seiner Eltern war er nach Asien zurückgekehrt, um das Evangelium zu verkünden. Sein hübscher Teint war eher olivfarben als golden, und seine tintenschwarzen, dicht bewimperten Augen hatten einen leicht amüsierten Ausdruck und ließen Frauen länger als nötig in seiner Gegenwart verweilen.
Yumi, die gewöhnlich nicht so leicht zu beeindrucken war, bewunderte den Lehrer, den alle Pastor John nannten. Sie sah in ihm einen Koreaner aus einer besseren Welt, einer, in der Koreaner nicht Huren, Alkoholiker oder Diebe waren. Yumis Mutter war eine Prostituierte, die für Geld oder Alkohol mit Männern geschlafen hatte, und ihr Vater, Zuhälter und ebenfalls Alkoholiker, war immer wieder für seine Verbrechen eingesperrt worden. Yumi fand ihre drei älteren Halbschwestern ordinär, verderbt und stumpfsinnig. Ein jüngerer Bruder war als kleines Kind gestorben. Kurz danach, als Yumi vierzehn Jahre alt war, lief sie mit ihrer kleineren Schwester von zu Hause weg, und es gelang ihr, sie beide mit Gelegenheitsarbeit in Textilfabriken zu ernähren, doch dann starb ihre Schwester. Im Laufe der Zeit war Yumi zu einer ausgezeichneten Näherin geworden. Mit ihrer Familie, die in einem der übelsten Viertel von Osaka lebte, wollte sie nichts zu tun haben. Wenn sie auf der Straße eine Frau sah, die nur die geringste Ähnlichkeit mit ihrer Mutter hatte, wechselte Yumi auf die andere Straßenseite oder ging in die andere Richtung. Sie hatte viele amerikanische Filme gesehen und war fest entschlossen, eines Tages in Kalifornien zu leben und als Schneiderin in Hollywood zu arbeiten. Sie wusste von Koreanern, die nach Nord- oder Südkorea zurückgekehrt waren, aber sie konnte sich für keins der beiden Länder erwärmen. Für sie war die Tatsache, dass sie Koreanerin war, nur eine weitere Hürde, so wie die, dass sie arm war und aus einer verkommenen Familie stammte, der sie nicht entrinnen konnte. Warum sollte sie in Korea leben? Andererseits konnte sie sich nicht vorstellen, Wurzeln in Japan zu schlagen, das wie eine geliebte Stiefmutter war, die einem die Liebe verweigerte, und deshalb träumte Yumi von Los Angeles. Bis sie Mozasu mit seiner lässigen Art und seinen großen Träumen kennenlernte, hatte sie niemanden in ihr Bett gelassen, und da sie sich jetzt mit ihm zusammengetan hatte, wollte sie, dass sie zusammen nach Amerika gingen und sich dort ein neues Leben aufbauten, in dem sie nicht verachtet oder an den Rand gedrängt wurden.
In dem Englischkurs waren fünfzehn Schüler, die dreimal in der Woche zu den Stunden kamen. Bevor Mozasu sich dem Kurs anschloss, war Yumi Pastor Johns beste Schülerin gewesen. Mozasu hatte den unschätzbaren Vorteil, dass er viele Jahre lang, eigentlich, ohne es richtig zu merken, Englisch gelernt hatte, weil er mit seinem Bruder Noa Vokabeln gebüffelt hatte. Yumi war nicht neidisch, sondern froh, dass er besser als sie in Englisch war, mehr Geld verdiente als sie und immer freundlich zu ihr war.
Jede Stunde begann damit, dass Pastor John den Schülern nacheinander mehrere Fragen stellte.
»Moses«, sagte Pastor John mit seiner Lehrerstimme, »how is the pachinko parlour? Did you make a lot of money yesterday?«
Mozasu lachte. »Yes, Pastor John, today, I earned lot money. Tomorrow, I make more! Do you need money?«
»No, thank you, Moses. But please remember to help the poor, Moses. There are many among us.«
»The pachinko money isn’t mine, Pastor John. My boss is rich, but I am not a rich man yet. One day, I will rich.«
»I will be rich.«
»Yes, I will be rich, Pastor John. A man must have money.«
John lächelte Mozasu freundlich zu und hätte ihn gern vor solcher Götzenverehrung gewarnt, aber er wandte sich Yumi zu.
»Yumi, how many uniforms did you make today?«
Yumi lächelte, und die Röte stieg ihr ins Gesicht.
»Today, I made two vests, Pastor John.«
John wandte sich den anderen Schülern zu und ermutigte auch die schüchternen, sowohl untereinander als auch vor der ganzen Klasse zu sprechen. Er wollte, dass die Koreaner sich gut ausdrücken konnten, niemand sollte auf sie hinabblicken. Er hatte sein herrlich komfortables Leben in Princeton, New Jersey, aus Mitleid mit den verarmten Koreanern in Japan verlassen. Während seiner glücklichen Kindheit, im warmen Nest seiner liebevollen Eltern, hatte er immer mit schlechtem Gewissen an die Koreaner gedacht, die ihr Land für immer verloren hatten. Junge Leute wie Moses und Yumi waren nie in Korea gewesen. Es war viel die Rede davon, dass die Koreaner eines Tages in ihr Land zurückkehren würden, aber ihr Zuhause, das ohnehin nur in ihren Köpfen bestand, hatten sie für immer verloren. Seine Eltern hatten nur ihn adoptiert, soweit er wusste, hatte er keine Geschwister. Wegen seiner glücklichen Kindheit hatte er Schuldgefühle gegenüber den vielen Kindern, die nicht wie er ausgewählt worden waren. »Ausgewählt«, das war das Wort, das seine Mutter immer benutzte.
»Wir haben dich ausgewählt, unseren lieben John. Du hattest ein so hübsches Lächeln, schon als Baby. Die Damen im Waisenhaus nahmen dich immer gern auf den Arm, weil du ein so zärtliches Kind warst.«
Der Englischunterricht gehörte nicht zu seinen Aufgaben als Pastor, und er versuchte auch nicht, seine Schüler, von denen die meisten nicht zu seiner Gemeinde gehörten, zu bekehren. John mochte den Klang der englischen Sprache, den amerikanischen Akzent. Beides wollte er den armen Koreanern in Osaka vermitteln. Er wollte, dass sie eine weitere Sprache konnten, nicht nur Japanisch.
Sein genaues Alter wusste John nicht. Seine Adoptiveltern gaben ihm den Geburtstag von Martin Luther, den 10. November. Seine biologischen Eltern hatten ihn eines Morgens in einem gemieteten Zimmer zurückgelassen und verschwanden spurlos, ohne die Miete bezahlt zu haben. Ihn zurückzulassen, sei eine Liebestat gewesen, sagte seine Adoptivmutter immer, wenn John danach fragte, damit hätten sie ihn gerettet. Wenn er ein Ehepaar sah, das im Alter seiner Eltern war, kam ihm dieser Satz seiner Mutter unwillkürlich in den Sinn. Er wünschte, er würde seine leiblichen Eltern eines Tages kennenlernen, dann würde er ihnen ein Haus schenken, wo es warm war und genug zu essen gab.
Als Pastor John die beiden Schwestern hinten im Klassenraum wegen ihrer Vorliebe für Süßes neckte, strich Mozasu sanft mit seinem Knie an Yumis. Mozasu hatte lange Beine, und er musste seinen Oberschenkel nur ein bisschen bewegen, um den Rockstoff zu berühren, der Yumis hübsche Beine bedeckte. Sie erwiderte die Berührung leicht verärgert, obwohl das eher gespielt war.
Pastor John hatte die jüngere Schwester gefragt, was sie bei Regen tat, aber Mozasu hörte nicht zu, wie das Mädchen nach dem Wort »umbrella« suchte, sondern war versunken in Yumis Anblick. Er liebte ihr weiches Profil, die Linie, in der ihre dunklen, traurigen Augen auf die hohen Wangenknochen trafen.
»Moses, wie kannst du Englisch lernen, wenn du Yumi die ganze Zeit anstarrst?«, fragte John lachend.
Yumi errötete wieder. »Benimm dich«, flüsterte sie ihm auf Japanisch zu.
»I cannot stop, Pastor John. I love her«, erkärte Mozasu, und John schlug erfreut die Hände zusammen.
Yumi sah auf ihr Heft.
»Werdet ihr heiraten?«, fragte Pastor John auf Englisch.
Yumi war verblüfft von der Frage, obwohl sie damit hätte rechnen können. Pastor John war bekannt dafür, dass er solche Bemerkungen machte.
»She will marry me«, sagte Mozasu auf. »I am confident.«
»Was?«, rief Yumi.
Die Frauen, die hinten saßen, hatten vor Lachen Tränen in den Augen. Zwei Männer weiter vorn hämmerten mit den Fäusten auf den Tisch und grölten.
»Das ist doch schön«, sagte Pastor John auf Englisch. »Ich glaube, wir werden Zeugen eines Heiratsantrags. ›Proposal‹, das bedeutet Heiratsantrag.«
»Natürlich wirst du mich heiraten, Yumi-chan. Du liebst mich, und ich liebe dich sehr. We will marry. You see«, sagte Mozasu ruhig auf Englisch. »I have plan.«
Yumi verdrehte die Augen. Er wusste, dass sie nach Amerika gehen wollte, aber er hatte vor, in Osaka zu bleiben und in ein paar Jahren sein eigenes Pachinko-Lokal zu eröffnen. Er wollte seiner Mutter, seiner Tante, seinem Onkel und seiner Großmutter ein großes Haus kaufen, wenn er reich war. Er sagte, wenn sie nach Korea zurückgingen, würde er so viel Geld verdienen, dass er ihnen Schlösser bauen könnte. Er konnte seine Familie nicht verlassen, das wusste Yumi.
»Wir beide lieben uns. Soo nee, Yumi-chan?« Mozasu lächelte sie an und nahm ihre Hand.
Die Schüler klatschten laut und stampften mit den Füßen, als wären sie bei einem Baseball-Spiel.
Yumi senkte den Kopf, sein Verhalten machte sie verlegen, aber sie konnte nicht böse auf ihn sein. Sie konnte nie böse auf ihn sein. Er war ihr einziger Freund auf der Welt.
»Dann müssen wir die Hochzeit planen«, sagte John.