Das junge Paar blieb vor dem Restaurant stehen, während Hansu in sein Auto stieg. Akiko und Noa verneigten sich tief zum Rücksitz, wo Hansu saß. Der Chauffeur schloss die hintere Tür, machte eine Verbeugung zu den beiden und setzte sich hinters Steuer, um Hansu zu seinem nächsten Termin zu fahren.
»Ich verstehe gar nicht, warum du so grantig bist«, sagte Akiko und lächelte wie ein japanisches Schulmädchen, obwohl Hansu schon verschwunden war. »Koh-san ist sehr nett. Ich bin froh, dass ich ihn kennengelernt habe.«
»Du hast gelogen«, sagte Noa mit zitternder Stimme. Eigentlich hatte er aus Angst, sich zu vergessen, nichts sagen wollen, aber er konnte sich nicht zurückhalten. »Ich … ich hatte dich nicht zu dem Lunch eingeladen. Warum hast du das zu Koh-san gesagt? Das hätte furchtbar schiefgehen können. Dieser Mann ist für unsere Familie wichtig. Er fördert mein Studium. Ich schulde ihm enorm viel.«
»Aber es ist nichts passiert. Es war ein gewöhnlicher Lunch mit Verwandten in einem schicken Sushi-ya. Was soll’s? Ich war in Dutzenden von solchen Restaurants. Ich habe mich vorbildlich betragen. Er mochte mich«, sagte Akiko, die nicht verstand, warum Noa so wütend war.
»Genierst du dich meinetwegen?«, fragte Akiko lachend. Ihre Auseinandersetzung bereitete ihr ein seltsames Vergnügen; normalerweise war er so ruhig und verschlossen, dass sie nie wusste, was in seinem Kopf vorging. Außerdem war er selbst schuld: Gerade, weil er so schwer zu durchschauen war, war ihr nichts anderes übrig geblieben, als ohne Einladung zum Lunch zu kommen. Sie hatte ihn nicht kränken wollen. Er hätte sich freuen sollen, dass sie ihn so sehr mochte und auch seine Freunde kennenlernen wollte.
»Du hättest mich nie eingeladen. Es war richtig, dass ich gekommen bin.« Sie berührte seinen Arm, aber er wich zurück.
»Akiko, warum? Warum musst du immer recht behalten? Warum musst du immer die Oberhand haben? Warum kann nicht ich bestimmen, wann du jemanden aus meinem Leben kennenlernst? Ich würde so etwas nie bei dir tun. Ich würde deine Privatsphäre respektieren«, platzte Noa heraus und legte dann eine Hand über den Mund.
Akiko starrte ihn verständnislos an. Sie war es nicht gewöhnt, dass ein Mann ihr etwas abschlug. Seine Wangen waren gerötet; er hatte Mühe, die Worte zu artikulieren. Der Mann vor ihr war nicht derselbe, der ihr schwierige Passagen in Soziologietexten erklärte oder bei den Hausaufgaben in Statistik half. Ihr sanfter, kluger Noa war wütend.
»Was ist mit dir? Ist es dir peinlich, dass du Koreaner bist?«
»Was?« Noa machte einen Schritt zurück. Er sah sich um, ob andere ihren Streit verfolgten. »Was sagst du da?« Er sah sie an, als wäre sie verrückt.
Akiko wurde ganz ruhig und sprach langsam.
»Mir ist es nicht peinlich, dass du Koreaner bist. Ich finde es großartig. Ungebildeten Menschen oder meinen rassistischen Eltern macht es vielleicht etwas aus, aber nicht mir. Koreaner sind klug und fleißig, und die Männer sind sehr attraktiv«, sagte sie und lächelte ihn an, als würde sie flirten. »Du bist wütend. Hör zu, wenn du willst, kann ich es einrichten, dass du meine gesamte Familie kennenlernst. Sie könnten sich glücklich schätzen, einen so bemerkenswerten Koreaner kennenzulernen. Vielleicht denken sie dann anders –«
»Nein«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Nein. Genug davon.«
Akiko trat an ihn heran. Eine ältere Frau ging an ihnen vorbei, aber Akiko beachtete sie nicht.
»Noa-chan, warum bist du so böse auf mich? Für mich bist du der Beste, das weißt du. Lass uns nach Hause gehen, da darfst du mich ficken.«
Noa starrte sie an. Sie würde immer einen anderen in ihm sehen, nicht den, der er war, sondern eine fantasievolle Version eines Fremden; und sie würde sich immer für etwas Besonderes halten, weil sie sich mit jemandem einließ, der von den anderen verachtet wurde. Durch ihn bewies sie der Welt, dass sie ein guter Mensch war, gebildet und liberal. Wenn Noa mit ihr zusammen war, dachte er nicht daran, dass er Koreaner war. Im Gegensatz zu ihr dachte er nie daran, ob er Koreaner oder Japaner war. Er wollte einfach er selbst sein, was immer das bedeuten mochte; manchmal wollte er sich einfach vergessen. Aber das war mit ihr nicht möglich.
»Ich packe deine Sachen zusammen und lasse sie von einem Boten zu dir nach Hause schicken. Ich möchte dich nicht mehr sehen. Komm bitte nie mehr zu mir.«
»Noa, was sagst du da?«, fragte Akiko verwundert. »Ist das dein koreanisches Temperament, das ich bisher nicht gesehen habe?« Sie lachte.
»Du und ich. Das kann nicht sein.«
»Warum nicht?«
»Es geht einfach nicht.« Mehr fiel ihm nicht ein, er wollte nicht grausam sein und ihr ersparen, was er über sie wusste. Sie würde ihm nicht glauben, aber sie war wie ihre Eltern, denn ihn ausschließlich als Koreaner zu sehen – ob gut oder schlecht –, war nicht anders, als ihn als schlechten Koreaner zu sehen. Sie sah nicht den Menschen ihn ihm, und Noa verstand, dass er sich das am allermeisten wünschte: als Mensch gesehen zu werden.
»Er ist dein Vater, richtig?«, sagte Akiko. »Er sieht genau aus wie du. Du hast mir erzählt, dein Vater sei tot, aber er ist nicht tot. Du wolltest nicht, dass ich ihn kennenlerne, weil du nicht wolltest, dass ich deinen Yakuza-Papa sehe. Und ich sollte nicht erfahren, dass er ein Gangster ist. Wie soll man sonst dieses lächerliche Auto und den Chauffeur erklären? Wie sollte er sonst diese große Wohnung für dich bezahlen? Selbst mein Vater könnte sich die Wohnung nicht leisten, und ihm gehört eine Handelsgesellschaft! Komm schon, Noa, wie kannst du so böse auf mich sein, ich wollte doch einfach mehr über dich erfahren. Mir ist es nicht wichtig, was er macht. Es ist bedeutungslos – mir ist es nicht wichtig, dass du Koreaner bist. Verstehst du das nicht?«
Noa wandte sich ab und ging. Er ging, bis er sie nicht mehr seinen Namen rufen hörte. Er ging mit steifen, gemessenen Schritten und konnte nicht glauben, dass jemand, den er geliebt hatte – ja, er hatte sie geliebt –, sich als jemand erwies, den er gar nicht kannte. Vielleicht hatte er es die ganze Zeit gewusst und nicht sehen können. Als Noa beim Bahnhof ankam, ging er langsam die Stufen zum Bahnsteig hinunter. Er hatte das Gefühl, jeden Moment zu fallen. Er nahm den nächsten Zug nach Osaka.
Am frühen Abend traf er zu Hause ein. Seine Tante Kyunghee war überrascht, Noa an der Tür zu sehen. Er schien aufgewühlt und wollte mit seiner Mutter sprechen. Onkel Yoseb schlief im hinteren Zimmer, und seine Mutter saß vorn und nähte. Noa wollte sich seinen Mantel nicht ausziehen. Als Sunja zur Tür kam, fragte Noa, ob sie draußen miteinander sprechen könnten.
»Warum? Was ist passiert?«, fragte Sunja und zog sich die Schuhe an.
Noa sagte nichts. Er ging vor die Tür und wartete dort auf sie.
Er ging mit ihr von den Geschäften weg zu einem unbelebten Teil der Straße.
»Stimmt es?«, fragte Noa seine Mutter. »Das mit Koh Hansu.«
Er konnte die Wörter nicht sagen, aber er musste es wissen.
»Warum er für mein Studium bezahlt und warum er immer da ist. Ihr wart zusammen –«, sagte er. Es klarer zu sagen, war ihm nicht möglich.
Sunja, die noch dabei war, sich ihren alten Wollmantel zuzuknöpfen, blieb stehen und sah ihrem Sohn ins Gesicht. Sie verstand. Yoseb hatte die ganze Zeit recht gehabt. Sie hätte es nicht erlauben sollen, dass Hansu für Noas Ausbildung bezahlte.
Aber wie hätte sie es ablehnen können?
Ein Kind wie Noa, ein Junge, der so fleißig lernte, hatte es verdient, dass sein Wunsch zu studieren erfüllt wurde und er sein Ziel erreichen konnte. Isak hatte gesagt, mit seinem ausgezeichneten Charakter und seiner Tüchtigkeit würde Noa dem koreanischen Volk einen Dienst erweisen, und niemand würde auf ihn herabsehen können. Isak hatte Noa ermutigt, und Noa, der ein guter Sohn war, hatte sein Bestes gegeben, um der Beste zu sein. Isak hatte Noa von Herzen geliebt. Sunja konnte nichts sagen, ihr Mund war trocken. Der einzige Gedanke in ihrem Kopf war, wie nobel Isak gewesen war, Noa einen Namen zu geben und ihn zu beschützen.
»Wie war das möglich?«, sagte Noa ungläubig. »Wie konntest du ihn hintergehen?«
Sunja verstand, dass er Isak meinte, und versuchte zu erklären.
»Ich kannte ihn, bevor ich deinen Vater kennenlernte. Ich wusste nicht, dass Koh Hansu verheiratet war. Ich war ein junges Mädchen, und ich glaubte, er würde mich heiraten. Als ich mit dir schwanger war, kam Isak in unser Logierhaus; er hat mich geheiratet, obwohl er davon wusste. Baek Isak wollte, dass du sein Sohn bist. Blut ist nicht wichtig. Kannst du das verstehen? Als junger Mensch macht man schwere Fehler. Man vertraut den falschen Menschen, aber ich bin dankbar, dass du mein Sohn bist, und dankbar, dass dein Vater mich geheiratet hat –«
»Nein.« Er sah sie verächtlich an. »So einen Fehler kann ich nicht verstehen. Warum hast du es mir nicht eher gesagt? Wer weiß noch davon?« Seine Stimme wurde kälter.
»Ich hielt es nicht für wichtig, es jemandem zu erzählen. Hör mir zu, Noa, der Mann, der dein Vater sein wollte, war Baek –«
Noa tat so, als hätte er sie nicht gehört.
»Onkel Yoseb und Tante Kyunghee – wissen sie es?« Sein Verstand konnte nicht begreifen, dass niemand ihm das gesagt hatte.
»Wir haben nie darüber gesprochen.«
»Und Mozasu? Er ist Baek Isaks Sohn? Wir sehen uns nicht ähnlich.«
Sunja nickte. Noa sprach von seinem Vater als Baek Isak, das hatte er noch nie getan.
»Dann ist er mein Halbbruder –«
»Ich kannte Koh Hansu, bevor ich deinen Vater kennenlernte. Ich war Baek Isak immer treu – er ist mein einziger Mann. Koh Hansu hat uns ausfindig gemacht, als dein Vater im Gefängnis war. Er war besorgt, weil wir kein Geld hatten.«
Insgeheim hatte sie immer befürchtet, dass Noa eines Tages die Wahrheit erfahren würde, aber sie hatte auf sein Verständnis vertraut, weil er so klug war; er war immer ein umgängliches Kind gewesen und hatte ihr nie Sorgen gemacht. Aber der junge Mann, der jetzt vor ihr stand, war wie kalter Stahl, und er blickte sie an, als könnte er sich nicht erinnern, wer sie in seinem Leben war.
Noa blieb stehen und atmete tief ein, dann atmete er aus, und ihm war schwindlig.
»Deshalb hilft er uns – und deshalb hat er im Krieg den Bauernhof für uns gefunden. Deshalb hat er uns Sachen gebracht.«
»Er wollte sich versichern, dass du alles hattest. Er wollte dir helfen. Es hatte nichts mit mir zu tun. Ich war jemand, die er vor langer Zeit gekannt hatte.«
»Weißt du, dass er ein Yakuza ist? Das stimmt doch, oder?«
»Nein. Nein, das weiß ich nicht. Ich weiß nicht, was er tut. Als ich ihn kannte, lebte er in Osaka und war Fischgroßhändler. Er kaufte in Korea Fisch für japanische Firmen. Es war Geschäftsmann. Er besitzt eine Baugesellschaft und mehrere Restaurants, glaube ich. Ich weiß nicht, was er noch macht. Ich spreche nur selten mit ihm. Das weißt du auch –«
»Yakuza sind die schlimmsten Menschen in Japan. Sie sind Verbrecher, gewöhnliche Kriminelle. Sie schüchtern Ladeninhaber ein, sie verkaufen Drogen, sie beherrschen die Prostitution, sie tun unschuldigen Menschen weh. Die schlimmsten Koreaner sind Mitglieder in diesen Banden. Ich bekomme für mein Studium Geld von einem Yakuza, und du glaubst, das ist hinnehmbar? Nie werde ich meinen Namen von dieser Schande reinwaschen können. Du kannst nicht sehr helle sein«, sagte er. »Wie kann man etwas, das schmutzig ist, in etwas Reines verwandeln? Und jetzt hast du mich schmutzig gemacht«, sagte Noa leise. »Mein Leben lang haben mir Japaner gesagt, dass mein Blut koreanisch ist und dass Koreaner zornige, gewalttätige, gerissene und betrügerische Kriminelle sind. Mein ganzes Leben lang musste ich das ertragen. Ich habe versucht, so ehrlich und so bescheiden wie Baek Isak zu sein; ich habe nie meine Stimme erhoben. Aber dieses Blut, mein Blut, ist koreanisches Blut, und jetzt erfahre ich, dass es Yakuza-Blut ist. Das wird für alle Zeit so sein, ganz gleich, was ich tue. Es wäre besser gewesen, ich wäre nie zur Welt gekommen. Wie konntest du es zulassen, dass mein Leben zerstört wurde? Wie konntest du so unbedacht sein? Eine dumme Mutter und ein krimineller Vater. Mein Leben ist verflucht.«
Sunja sah ihn erschüttert an. Wäre er noch der kleine Junge, hätte sie ihm vielleicht gesagt, er solle den Mund halten und sich nicht so aufführen. Man dürfe nie schlecht von seinen Eltern sprechen. Aber das ging nicht mehr. Wie konnte sie einen Gangster verteidigen? Überall gab es Verbrecher, dachte sie, und sie wusste, dass sie schlimme Dinge taten, sie wusste auch, dass viele, auch gute und freundliche Koreaner für Gangster arbeiten mussten, weil es keine andere Arbeit für sie gab. Die Regierung und die guten Unternehmen stellten keine Koreaner ein, auch keine gebildeten. Noa hatte alles getan, er hatte studiert und sich abgemüht und versucht, sich aus seiner Umgebung herauszuheben, und in seinen Augen waren alle, die das nicht versuchten, nicht besonders klug. Er würde sie nicht verstehen. Ihr Sohn war nicht imstande, Mitgefühl für die Menschen aufzubringen, die sich nicht bemühten.
»Noa«, sagte Sunja, »verzeih mir. Umma tut das leid. Ich wollte einfach, dass du studieren kannst. Ich wusste, wie sehr du das wolltest. Ich weiß, wie fleißig –«
»Du. Du hast mein Leben zerstört. Ich bin nicht mehr der, der ich war«, sagte er und zeigte mit dem Finger auf sie. Dann drehte er sich um und ging zurück zum Bahnhof.