Nagano, August 1978
Hansus Fahrer traf Sunja wie verabredet am Nordeingang des Bahnhofs von Yokohama und brachte sie zu der schwarzen Limousine, in der Hansu schon auf der Rückbank saß.
Sunja setzte sich auf die samtigen Polster und zog sich die Jacke über ihren Ajumma-Bauch. Sie trug ein importiertes französisches Designer-Kleid und italienische Lederschuhe, die Mozasus Freundin Etsuko für sie ausgesucht hatte. Sunja war zweiundsechzig Jahre alt, und obwohl sie wie eine reiche ältere Dame aus der Hauptstadt gekleidet war, blieb sie mit ihrer faltigen, fleckigen Haut und den kurzen weißen Haaren eine gewöhnliche alte Frau.
»Wohin fahren wir?«
»Nach Nagano«, sagte Hansu.
»Ist er da?«
»Ja. Sein Name lautet dort Nobuo Ban. Er lebt seit sechzehn Jahren dort. Er ist mit einer Japanerin verheiratet und hat vier Kinder.«
»Solomon hat vier Cousins! Warum konnte Noa uns das nicht sagen?«
»Er ist jetzt Japaner. In Nagano weiß niemand, dass er Koreaner ist. Seine Frau und seine Kinder wissen es auch nicht. Jeder in seinem Lebensumfeld hält ihn für einen Japaner.«
»Warum?«
»Weil er nicht will, dass die Leute etwas von seiner Vergangenheit wissen.«
»Geht das so leicht?«
»Ziemlich leicht. In seiner Welt interessiert es niemanden.«
»Was meinst du damit?«
»Er führt ein Pachinko-Lokal.«
»Wie Mozasu?« In der Pachinko-Industrie gab es auf jeder Stufe Koreaner, von den Lokalen und den Keihin bis zu den Herstellungsbetrieben, aber sie hätte nie gedacht, dass Noa dieselbe Arbeit hatte wie Mozasu.
»Soo nee. Wie geht es Mozasu?«
»Gut.« Sie nickte. Sie fand es schwer, sich zu konzentrieren.
»Läuft sein Geschäft gut?«
»Er hat in Yokohama ein neues Lokal gekauft.«
»Und Solomon? Er muss jetzt schon groß sein.«
»Er lernt eifrig. Er ist ein guter Schüler. Ich möchte mehr von Noa wissen.«
»Er ist wohlhabend.« Hansu lächelte.
»Weiß er, dass wir kommen?«
»Nein.«
»Aber –«
»Er will uns nicht sehen. Oder besser, er will mich nicht sehen. Vielleicht möchte er dich sehen, aber dann hätte er es dir gesagt.«
»Dann –«
»Wir sollten heute nicht mit ihm sprechen, aber ich dachte, du könntest ihn wenigstens einmal mit eigenen Augen sehen. Er ist in seinem Hauptbüro.«
»Woher weißt du das?«
»Ich weiß es einfach.« Hansu schloss die Augen und lehnte den Kopf an die mit weißer Spitze bezogene Kopfstütze. Er nahm verschiedene Medikamente ein, die ihn benommen machten.
Er wollte warten, bis Noa aus seinem Büro kam, um in einem Imbiss gegenüber Soba-ya zu essen. An den Wochentagen nahm er in unterschiedlichen Restaurants ein einfaches Mittagessen zu sich, und mittwochs aß er Soba. Hansus Privatdetektiv hatte Noas Leben in Nagano in einem sechsundzwanzig Seiten langen Bericht dokumentiert, und das Bemerkenswerte war Noas Bedürfnis nach Regelmäßigkeit. Er trank keinen Alkohol, spielte nicht und hatte keine Frauengeschichten. Er gehörte dem Anschein nach keiner Religion an, und er und seine Frau und seine vier Kinder lebten wie eine japanische Familie der Mittelschicht in einem bescheidenen Haus.
»Isst er allein zu Mittag, was meinst du?«
»Mittags isst er immer allein. Heute ist Mittwoch, da isst er Zaru Soba, was keine Viertelstunde dauert. Er liest ein bisschen in einem englischen Roman und kehrt dann in sein Büro zurück. Das ist meiner Meinung nach der Grund für seinen Erfolg. Er macht keine Fehler. Er hat einen festen Plan.« In Hansus Stimme schwang väterlicher Stolz.
»Glaubst du, dass er mich sehen möchte?«
»Das ist schwer zu sagen«, sagte er. »Du solltest im Auto sitzen bleiben, dann kannst du ihn sehen, danach bringt der Fahrer uns wieder nach Yokohama. Wir können nächste Woche wieder herkommen, wenn du willst. Vielleicht kannst du ihm erst schreiben.«
»Was ist der Unterschied zwischen dieser Woche und nächster Woche?«
»Wenn du ihn siehst und dich versichern kannst, dass es ihm gut geht, kannst du vielleicht innerlich zur Ruhe kommen. Er hat dieses Leben gewählt, Sunja, und vielleicht möchte er, dass wir das respektieren.«
»Er ist mein Sohn.«
»Meiner auch.«
»Noa und Mozasu. Sie sind mein Leben.«
Hansu nickte. Er hatte nie so für seine Kinder empfunden.
»Ich habe allein für sie gelebt.«
Es war falsch, das zu sagen. In der Kirche predigte der Geistliche, dass die Mütter sich zu eng an ihre Kinder bänden und die Familie nicht verehrt werden dürfe wie ein Götze. Man dürfe seine Familie nicht mehr als Gott lieben. Die Familie könne einem nicht geben, was Gott einem geben kann. Aber sie war eine Mutter, die ihre Kinder über alles liebte, und begriff, was Gott durchmachte. Noa hatte jetzt eigene Kinder; vielleicht verstand er, wie sehr sie für ihn gelebt hatte.
»Da. Er kommt«, sagte Hansu.
Das Gesicht ihres Sohnes hatte sich nur wenig verändert. Die grauen Schläfen überraschten sie, aber Noa war fünfundvierzig und kein Universitätsstudent mehr. Er trug eine runde Goldrandbrille so ähnlich wie die, die Isak früher getragen hatte, und sein schwarzer Anzug hing lose an seiner schlanken Gestalt. Sein Gesicht war das von Hansu.
Sunja machte die Seitentür auf und stieg aus.
»Noa!«, rief sie und rannte auf ihn zu.
Er drehte sich um und sah seine Mutter an, die keine zehn Schritte vor ihm stand.
»Umma«, sagte er leise. Noa ging zu ihr und berührte sie am Arm. Seit Isaks Beerdigung hatte er seine Mutter nicht weinen sehen. Sie weinte nicht leicht, und sie tat ihm leid. Er hatte sich immer vorgestellt, dass dieser Tag kommen würde, und sich dafür gewappnet, aber jetzt, da Sunja vor ihm stand, war er von seiner eigenen Erleichterung überrascht.
»Es gibt keinen Grund, zu weinen. Lass uns in mein Büro gehen«, sagte er. »Wie bist du hergekommen?«
Sunja konnte nicht sprechen, sie rang nach Luft. Sie atmete tief durch. »Koh Hansu hat mich hergebracht. Er hat dich gefunden und mich hergebracht, weil ich dich sehen wollte. Er sitzt im Auto.«
»Ach so«, sagte Noa. »Da kann er bleiben.«
Als Noa in sein Büro kam, verneigten sich seine Angestellten vor ihm, und Sunja ging hinter ihm her. Er bot ihr einen Stuhl an und schloss die Tür.
»Du siehst gut aus, Umma«, sagte er.
»Es ist so lange her. Ich habe mir so viele Sorgen um dich gemacht.«
Als sie seinen verletzten Gesichtsausdruck sah, unterbrach sie sich. »Aber ich bin froh, dass du mir geschrieben hast. Ich habe alles Geld, das du geschickt hast, gespart. Das war sehr freundlich von dir.«
Noa nickte.
»Hansu hat gesagt, du bist verheiratet und hast Kinder.«
Noa lächelte. »Ich habe einen Sohn und drei Töchter. Alle sind gute Schüler, nur mein Sohn nicht, er interessiert sich nur für Baseball. Er ist das Lieblingskind meiner Frau. Er sieht Mozasu sehr ähnlich und hat die gleichen Angewohnheiten wie er.«
»Mozasu möchte dich gerne sehen, das weiß ich. Wann kannst du zu uns kommen?«
»Ich weiß nicht, ob das geht.«
»Es sind so viele Jahre vergangen. Noa, sei barmherzig. Sei bitte barmherzig. Deine Umma war damals ein Mädchen, ich wusste doch nicht, dass er verheiratet ist, und als ich es erfuhr, habe ich mich geweigert, seine Geliebte zu sein. Dann hat dein Vater mich geheiratet und dir seinen Namen gegeben. Ich war deinem Vater mein Leben lang treu –«
»Trotzdem ist Koh Hansu mein leiblicher Vater«, sagte Noa mit ausdrucksloser Stimme.
»Ja.«
»Ich bin Koreaner und arbeite in diesem schmutzigen Geschäft. Ich habe Yakuza-Blut, davon kann ich mich nicht reinwaschen.« Er lachte. »Das ist mein Fluch.«
»Aber du bist kein Yakuza«, sagte sie protestierend. »Oder? Mozasu besitzt Pachinko-Lokale, und er ist sehr ehrlich. Er sagt immer, es sei möglich, ein guter Arbeitgeber zu sein und schlechten Menschen aus dem Weg zu gehen, solange man –«
Noa schüttelte den Kopf.
»Umma, ich bin ehrlich, aber in diesem Geschäft gib es Leute, die man nicht vermeiden kann. Ich habe eine große Firma und muss das tun, was nötig ist.« Er verzog angewidert das Gesicht.
»Du bist ein guter Junge, Noa. Das weiß ich –«, sagte sie, dann kam sie sich töricht vor, weil sie ihn einen Jungen genannt hatte. »Ich meine, ich bin mir sicher, dass du ein guter Geschäftsmann bist. Und ehrlich.«
Sie schwiegen. Noa legte sich die rechte Hand auf den Mund. Seine Mutter sah aus wie eine alte, müde Frau.
»Möchtest du Tee?«, fragte er. In den vergangenen Jahren hatte Noa sich oft vorgestellt, dass seine Mutter und sein Bruder ihn zu Hause entdecken würden, nicht in diesem weißen, sonnigen Büro. Sie war hierhergekommen und hatte es ihm dadurch leichter gemacht. Hansu hatte länger gebraucht, ihn zu finden, als er sich vorgestellt hatte.
»Möchtest du etwas essen? Ich kann etwas bestellen –«
Sunja schüttelte den Kopf. »Du solltest nach Hause kommen.«
Er lachte. »Dies ist mein Zuhause. Ich bin kein Kind mehr.«
»Ich habe es nie bereut, dass ich dich bekommen habe. Du bist mir kostbar. Ich gehe erst –«
»Hier weiß niemand, dass ich Koreaner bin. Niemand.«
»Ich werde es niemandem sagen. Ich verstehe das. Ich werde alles tun –«
»Meine Frau weiß es nicht. Ihre Mutter würde es nicht tolerieren. Meine Kinder wissen es nicht, und ich werde es ihnen niemals sagen. Mein Chef würde mich vor die Tür setzen. Er stellt keine Ausländer ein. Umma, niemand darf wissen –«
»Ist es so schrecklich, Koreaner zu sein?«
»Für mich ja.«
Sunja nickte und blickte auf ihre gealterten Hände.
»Ich habe für dich gebetet, Noa. Ich habe gebetet, dass Gott dich beschützen möge. Mehr kann eine Mutter nicht tun. Und ich bin froh, dass es dir gut geht.« Jeden Morgen ging sie zum Frühgottesdienst und betete für ihre Söhne und ihren Enkel. Sie hatte für diesen Moment gebetet.
»Wie heißen die Kinder?«
»Ist das wichtig?«
»Noa, es tut mir leid. Dein Vater hat uns nach Japan gebracht, und dann, das weißt du, konnten wir nicht zurück wegen des Krieges, und dann war hier Krieg. Für uns gab es kein Leben zu Hause, und jetzt ist es zu spät. Auch für mich.«
»Ich war da«, sagte er.
»Wie meinst du das?«
»Ich bin japanischer Bürger und kann reisen. Ich war in Südkorea. Ich wollte mein sogenanntes Mutterland sehen.«
»Du bist japanischer Bürger? Wirklich? Wie das?«
»Es ist möglich. So etwas ist immer möglich.«
»Und warst du in Busan?«
»Ja. Und ich war in Yeongdo. Es war klein, aber wunderhübsch«, sagte er.
Sunjas Augen füllten sich mit Tränen.
»Umma, ich muss zu einer Besprechung. Es tut mir leid, aber vielleicht können wir uns nächste Woche sehen. Ich komme zu euch. Ich möchte Mozasu sehen. Aber jetzt muss ich mich um ein paar dringende Angelegenheiten kümmern.«
»Wirklich? Du kommst zu uns?« Sunja lächelte. »Danke, Noa. Darüber bin ich so froh. Du bist so ein guter –«
»Es ist besser, wenn du jetzt gehst. Ich rufe dich heute Abend an, wenn ich zu Hause bin.«
Sunja stand schnell auf, und Noa begleitete sie zurück zu der Stelle, wo sie sich begegnet waren. Er warf keinen Blick in Hansus Auto.
»Bis später«, sagte er und ging wieder über die Straße zu dem Bürogebäude.
Sunja sah ihrem Sohn nach, wie er in dem Gebäude verschwand, dann klopfte sie an die Tür von Hansus Wagen. Der Fahrer stieg aus und hielt ihr die Tür auf.
Hansu nickte.
Sunja lächelte froh und hoffnungsvoll.
Hansu musterte sie und runzelte die Stirn.
»Du hättest nicht mit ihm sprechen sollen.«
»Es war gut. Er kommt nächste Woche nach Yokohama. Mozasu wird sich so sehr freuen.«
Hansu gab dem Fahrer Anweisung, zu fahren. Er hörte zu, als sie ihm über die Begegnung erzählte.
Als Noa sich an jenem Abend nicht meldete, fiel ihr ein, dass sie ihm ihre Nummer in Yokohama nicht gegeben hatte. Am Morgen darauf rief Hansu sie an. Noa hatte sich wenige Minuten, nachdem sie sich verabschiedet hatten, erschossen.