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Osaka, 1979

Sunja hatte ihren Sohn und ihren Enkel Solomon in Yokohama verlassen und war nach Osaka zurückgekehrt, als sie erfuhr, dass ihre Mutter Magenkrebs hatte. Den Herbst und Winter über hatte Sunja am Fußende des Bettes ihrer Mutter geschlafen, um ihre erschöpfte Schwägerin Kyunghee abzulösen, die Yangjin getreulich versorgt hatte, nachdem ihr Mann Yoseb nach langer Zeit der Krankheit endlich gestorben war.

Yangjin konnte sich kaum noch erheben und verbrachte die Tage auf der dicken Baumwollmatratze im Vorderzimmer, das praktisch zu ihrem Zimmer geworden war. Im größten Zimmer im Haus roch es nach Mandarinen und Eukalyptus. Der Boden war kürzlich mit frischen Tatami-Matten ausgelegt worden, und vor den blinkend reinen Fenstern standen Grünpflanzen in Keramiktöpfen. Ein großer Korb beim Bett war randvoll mit Kyushu-Tangerinen – ein kostbares Geschenk der koreanischen Gemeinde in Osaka – und verströmte einen herrlichen Duft. Der neue Sony-Fernseher lief, die Lautstärke niedrig gestellt, während die drei Frauen warteten, dass ›Other Lands‹, Yangjins Lieblingssendung, anfing.

Sunja saß neben ihrer Mutter, die im Bett, so gut es ging, aufgestützt war, und Kyunghee saß auf ihrem normalen Platz auf der anderen Seite der Matratze am Kopfende. Sunja und Kyunghee strickten an Teilen eines dunkelblauen Pullovers für Solomon.

Es war seltsam, zu beobachten, wie zwar Yangjins Gliedmaßen und Gelenke nach und nach den Dienst versagten und ihre Muskeln erschlafften, aber gleichzeitig ihr Verstand klarer und freier schien. Ihr fiel es leicht, sich vorzustellen, wie sie aus ihrem Körper stieg und schnell wie ein Reh rannte, doch in Wirklichkeit konnte sie sich kaum noch bewegen; sie war nicht mehr imstande, normale Speisen zu sich zu nehmen. Die unerwartete positive Seite der Krankheit war jedoch, dass Yangjin zum ersten Mal in ihrem Leben, zum ersten Mal vielleicht seit dem Moment, da sie laufen gelernt hatte und Aufgaben übernehmen konnte, keinerlei Druck verspürte zu arbeiten. Sie war nicht mehr in der Lage, Essen zu kochen, den Abwasch zu machen, den Boden zu fegen, Kleider zu nähen, die Toilette zu putzen, auf die Kinder aufzupassen, die Wäsche zu machen, Süßigkeiten für den Markt herzustellen, oder was sonst noch zu tun war. Jetzt war es ihre Aufgabe, auszuruhen, bevor sie starb. Sie durfte nichts tun. Sie hatte bestenfalls noch einige wenige Tage zu leben.

Yangjin wusste nicht, was passieren würde, wenn das hier vorbei war, aber sie glaubte, dass sie nach Hause kommen würde, zu denen, die vor ihr gestorben waren, oder zu Yesu Kuristo in sein Königreich. Sie wollte Hoonie, ihren Mann, wiedersehen; einmal hatte der Pfarrer in seiner Predigt gesagt, im Himmel könnten die Lahmen wieder gehen und die Blinden wieder sehen. Ihr Mann hatte die Vorstellung von einem Gott abgelehnt, aber sie hoffte, dass Gott, wenn es ihn gab, verstand, dass Hoonie ein guter Mensch war und aufgrund seiner körperlichen Gebrechen genug erduldet hatte und es verdiente, dass es ihm gut ging. Wenn Yangjin vom Sterben sprechen wollte, wechselten Kyunghee und Sunja das Thema.

»Hast du Solomon das Geld geschickt?«, fragte Yangjin. »Ich wollte, dass du neue, knisternde Scheine, frisch von der Bank, schickst.«

»Ja, ich habe das Geld gestern geschickt«, sagte Sunja und richtete die Kissen ihrer Mutter so, dass sie besser auf den Fernseher sehen konnte.

»Wann wird er es bekommen? Ich habe noch nicht von ihm gehört.«

»Umma, er bekommt die Karte heute Abend oder morgen.«

Die ganze Woche hatte Solomon nicht angerufen, um mit seiner Urgroßmutter zu sprechen, aber das war nur verständlich. Er hatte gerade seine Geburtstagsparty gefeiert, und normalerweise war es Sunja, die ihn erinnerte, einen Brief zu schreiben oder anzurufen, um sich zu bedanken oder einfach, um sich zu melden. »Wahrscheinlich hat er in der Schule viel zu tun. Ich rufe ihn später an.«

»Ist wirklich ein berühmter Sänger gekommen?«, fragte Yangjin. Mozasu hatte das Haus eingerichtet und bezahlte für den Lebensunterhalt der Frauen, seit sie das Süßwarengeschäft aufgegeben hatten; Yangjin konnte es immer noch nicht fassen, dass ihr Enkel Mozasu so viel Geld hatte und für die Geburtstagsparty seines Sohnes einen Popstar engagieren konnte.

»Das muss doch sehr teuer gewesen sein!«

»Das hat Etsuko gesagt.« Auch Sunja wollte wissen, wie es ihrem Enkel ging; er hatte sich zum ersten Mal eine Meldekarte ausstellen lassen müssen. Daran dachte sie mit Sorge.

Die Sendung begann, und Kyunghee stand auf, um die Antenne auszurichten. Das Bild wurde besser. Die vertraute japanische Volksweise der Serie erklang.

»Wo Higuchi-san heute wohl sein wird?« Yangjin lächelte breit.

In ›Other Lands‹ reiste Higuchi-san, eine drahtige, alterslose Frau mit schwarz gefärbten Haaren, über den gesamten Erdball und interviewte Japaner, die in andere Länder ausgewandert waren. Die Interviewerin war keine normale Frau ihrer Generation; sie war unverheiratet und kinderlos und eine erfahrene, weit gereiste Journalistin, die sich traute, sehr persönliche Fragen zu stellen. Es hieß, sie habe koreanisches Blut, und das allein reichte, damit Yangjin und Kyunghee sich für Higuchi-sans Unerschrockenheit und Wanderlust interessierten, während Sunja sich die Serie ihrer Mutter zuliebe ansah.

»Kissen!«, rief Yangjin, und Sunja stopfte ihr die Kissen zurecht.

Kyunghee klatschte in die Hände, als der Vorspann abrollte. Sie hatte gehofft, dass Higuchi-san eines Tages trotz aller Beschränkungen nach Nordkorea kommen würde. Koh Hansu hatte ihrem Mann vor langer Zeit gesagt, dass seine und ihre Eltern tot waren, trotzdem sehnte sie sich nach Nachrichten von zu Hause. Außerdem wollte sie wissen, wie es Kim Changho ging. Ungeachtet der vielen traurigen Geschichten über Familien, die in den Norden zurückgegangen waren, schien es ihr unvorstellbar, dass der gut aussehende junge Mann mit der dicken Brille tot war.

Als die Musik verklang, sagte eine Männerstimme aus dem Off, dass Higuchi-san heute in Medellín sei und dort mit einer beeindruckenden Familie sprechen würde, die die größte Hühnerfarm in Kolumbien besaß. Higuchi-san, die einen hellen Regenmantel und ihren berühmten grünen Boshi trug, war beeindruckt von dem Beschluss der Familie Wakamura, am Ende des neunzehnten Jahrhunderts nach Lateinamerika auszuwandern, und staunte, wie es ihnen gelang, ihre Kinder in der Fremde zu guten Japanern zu erziehen. »Minna nihongo hanase-masu!« Higuchi-sans Stimme war voller Staunen und Bewunderung.

Die Kamera richtete sich auf Señora Wakamura, die noch lebende Matriarchin, eine winzige, runzelige Frau, die viel älter aussah, als sie war, nämlich siebenundsechzig. Ihre großen, geschwungenen Augen unter den zarten Hautfalten blickten weise und nachdenklich. Wie ihre Geschwister war auch sie in Medellín geboren.

»Für meine Eltern war es natürlich anders. Sie sprachen kein Spanisch und wussten nichts über Hühnerzucht. Mein Vater starb an einem Herzinfarkt, als ich sechs war, und Mutter hat uns allein großgezogen. Mein ältester Bruder ist bei unserer Mutter geblieben, die anderen beiden Brüder sind nach Montreal gegangen, um zu studieren, und dann zurückgekommen. Meine Schwestern und ich haben auf der Farm gearbeitet.«

»Die Arbeit muss sehr hart gewesen sein«, rief Higuchi-san atemlos.

»Das Los der Frau ist es, zu leiden«, sagte Señora Wakamura.

»Soo, soo.«

Die Kamera machte einen Schwenk und zeigte das Innere des Hühnerhauses, ein wogendes Meer weißer Federn von Tausenden von Hühnern, und leuchtend rote Kämme, die über der unruhig flatternden Masse schwebten.

Señora Wakamura erzählte, wie sie von klein auf Hühnerfutter austeilen musste und lernte, sich vor den Hühnerschnäbeln zu retten.

 

Señora Wakamura zuckte die Achseln. Sie war ganz offensichtlich hart im Nehmen und präsentierte alle Aspekte des Hühnerfarmbetriebs.

Am Ende der halbstündigen Sendung bat Higuchi-san die Señora, den Zuschauern etwas auf Japanisch zu sagen.

Die Frau mit dem runzeligen Gesicht wandte sich scheu der Kamera zu, dann senkte sie den Blick, als müsste sie überlegen.

»Ich war nie in Japan« – sie runzelte die Stirn –, »aber ich hoffe, dass ich, wo immer ich bin, eine gute Japanerin bin. Ich hoffe, ich bereite meinem Volk niemals Schande.«

Higuchi-san sah aus, als würde sie gleich weinen, und beendete die Sendung. Beim Abspann sagte der Ansager, Higuchi-san sei auf dem Weg zum Flughafen und trete die Reise zum nächsten Ziel von ›Other Lands‹ an. »Bis wir Landsleute uns wiedersehen!«, sagte der Ansager fröhlich.

Sunja stand auf und schaltete den Fernseher aus. Sie wollte in die Küche gehen und Teewasser aufsetzen.

»Go-saeng«, sagte Yangjin laut. »Das Los der Frau ist es, zu leiden.«

»Ja, Go-saeng.« Kyunghee nickte zustimmend und wiederholte das Wort für Leiden.

Ihr Leben lang hatte Sunja diesen Ausspruch von anderen Frauen gehört: dass sie leiden mussten – als Mädchen, als Ehefrauen, als Mütter – und noch im Sterben litten. Go-saeng – bei dem Wort wurde ihr übel. Gab es etwas anderes außer Leid? Sie hatte gelitten, um Noa ein besseres Leben zu bereiten, aber es hatte nicht gereicht. Hätte sie ihrem Sohn beibringen sollen, die Demütigung zu erdulden, die sie wie Wasser getrunken hatte? Letztlich hatte er sich geweigert, die Gegebenheiten seiner Herkunft zu ertragen. Versagte eine Mutter, wenn sie ihren Söhnen nicht sagte, dass Leid auf sie zukam?

»Du bist verzweifelt wegen Noa«, sagte Yangjin. »Das weiß ich. Du denkst nur an ihn. Erst war es Koh Hansu, jetzt ist es Noa. Du leidest, weil du diesen schrecklichen Mann wolltest. Eine Frau kann es sich nicht leisten, einen solchen Fehler zu machen.«

»Was hätte ich sonst tun sollen?«, sagte Sunja, ohne nachzudenken, und bedauerte es im nächsten Moment.

Yangjin zuckte die Achseln, und es sah fast aus wie eine komische Nachahmung der Señora in der Sendung. »Du hast Schande über dein Kind gebracht, weil es diesen Mann zum Vater hat. Du hast dir dein eigenes Leid geschaffen. Noa, der arme Junge, stammt von schlechtem Samen. Du hattest Glück, dass Isak dich geheiratet hat. Welch ein Segen dieser Mann war. Mozasu ist von besserem Blut. Deshalb ist er bei seiner Arbeit so gesegnet.«

Sunja legte beide Hände vor den Mund. Es wurde oft gesagt, dass alte Frauen zu viel und viel nutzloses Zeug redeten, aber es schien, als hätte ihre Mutter diese Gedanken lange für sie aufgehoben. Wie ein niederträchtiges Erbe, das ihre Mutter ihr hinterließ.

Yangjin schürzte die Lippen und atmete dann tief ein.

»Das war ein böser Mensch.«

»Umma, er hat dich hergebracht. Wenn er das nicht getan hätte –«

»Das stimmt, er hat mich hergebracht, aber er ist trotzdem schrecklich. Das kannst du nicht ändern. Der arme Junge hatte keine Chance«, sagte Yangjin.

»Wenn Noa keine Chance hatte, warum musste ich dann leiden? Warum habe ich überhaupt etwas versucht? Wenn ich so töricht war, wenn ich einen so unverzeihlichen Fehler gemacht habe, ist das dann deine Schuld?«, fragte Sunja. »Ich gebe dir doch auch nicht die Schuld.«

Kyunghee sah Yangjin flehentlich an, aber die alte Frau war für ihre stumme Bitte unerreichbar.

»Schwester«, sagte Kyunghee sanft. »Kann ich dir etwas holen? Einen Tee?«

»Nein.« Yangjin wandte sich zu Sunja und zeigte auf Kyunghee. »Sie ist besser zu mir gewesen als meine ganze Familie. Sie sorgt mehr für mich als du. Du sorgst dich nur um Noa und Mozasu. Du bist erst wieder hergekommen, als du erfahren hast, dass ich sterbenskrank bin. Ich bin dir nicht wichtig. Dir ist niemand wichtig außer deinen eigenen Kindern.« Jetzt heulte Yangjin.

Kyunghee berührte Yangjin sachte am Arm.

»Schwester, du meinst das nicht so. Sunja musste sich um Solomon kümmern. Das weißt du auch. Du hast es selbst oft gesagt. Und Mozasu brauchte Sunjas Hilfe, nachdem Yumi gestorben war«, sagte sie leise. »Sunja hat so viel durchgemacht. Besonders, nachdem Noa –« Kyunghee konnte Noas Namen kaum sagen. »Und du, du hattest hier doch alles, was du brauchtest, richtig?« Sie versuchte, so beschwichtigend wie möglich zu klingen.

»Ja, ja. Du hast immer alles getan, dass es mir gut ging. Ich wünschte, Kim Changho hätte in Japan bleiben können. Dann hätte er dich heiraten können, nachdem dein Mann gestorben war. Ich mache mir Sorgen, wer für dich da sein wird, wenn ich sterbe. Sunja-ya, du musst dich um Kyunghee kümmern. Sie kann nicht allein bleiben. Aigoo, wenn bloß Kim Changho nicht in den Norden gegangen wäre, da ist er bestimmt umgekommen. Aigoo. Der arme Mann ist sicherlich umsonst gestorben.«

Kyunghee zuckte sichtlich zusammen.

»Umma, deine Medikamente bewirken, dass du verrücktes Zeug redest«, sagte Sunja.

»Kim Changho ist nach Korea gegangen, weil er unsere Kyunghee nicht heiraten konnte und weil er nicht länger warten und leiden wollte«, sagte Yangjin, nachdem sie aufgehört hatte zu weinen. Es war wie bei einem Kleinkind, dessen Tränen von einem Moment zum nächsten versiegten. »Er war viel netter als Yoseb. Nach seinem Unfall war Yoseb ein Trinker, aber Kim Changho war ein echter Mann. Er hätte unsere wunderbare Kyunghee glücklich gemacht, aber jetzt ist er tot. Armer Kim Changho. Arme Kyunghee.«

Als sie Kyunghees verstörte Miene bemerkte, sagte Sunja entschlossen: »Umma, du musst jetzt schlafen. Wir lassen dich jetzt ruhen. Du bist bestimmt müde. Komm, wir beide gehen nach hinten und stricken den Pullover fertig.« Sunja half Kyunghee auf. An der Tür schaltete Sunja das Licht aus.

»Ich bin nicht müde. Willst du mich wieder allein lassen? Es ist einfach, sich davonzumachen, wenn die Sachen schwierig werden. Na gut, dann sterbe ich eben, und dann kannst du wieder zu deinem geliebten Mozasu zurück! Ich bin dir nie zur Last gefallen. Bis zu dem Zeitpunkt, wo ich mich nicht mehr rühren konnte, habe ich jede Minute für meinen Unterhalt gearbeitet. Ich habe nie einen Yen über das hinaus genommen, was ich zum Essen und für meine Unterkunft brauchte. Ich habe immer meinen Beitrag geleistet. Ich habe dich aufgezogen, als dein lieber Vater starb –« Als Yangjin ihren Mann erwähnte, fing sie wieder an zu weinen, und Kyunghee eilte zu ihr, weil sie es nicht ertrug, Yangjin unglücklich zu sehen.

Sunja sah zu, wie Kyunghee ihre Mutter beschwichtigte, bis sie sich beruhigt hatte. Ihre Mutter war nicht wiederzukennen; zu sagen, die Krankheit habe sie verändert, wäre leicht gewesen, aber so einfach war es nicht, oder? Die Krankheit und der nahe Tod hatten das Denken ihrer Mutter geschärft und die Gedanken, vor denen sie Sunja bisher hatte schützen wollen, klarer gemacht. Sunja hatte in ihrem Leben einen Fehler gemacht, aber sie glaubte nicht, dass ihr Sohn von einem schlechten Samen stammte. Die Japaner sagten, die Koreaner hätten zu viel Zorn und Hitze im Blut. Samen, Blut. Wie konnte man gegen solche dummen Ideen angehen? Noa war ein empfindsamer Junge gewesen, der geglaubt hatte, wenn er sich an die Regeln hielt und immer der Beste war, dann würde die feindselige Welt ihn eines Tages besser behandeln. Vielleicht war sie schuld an seinem Tod, weil sie ihm erlaubt hatte, an ein solch grausames Ideal zu glauben.

Sunja kniete vor dem Lager ihrer Mutter.

»Es tut mir leid, Umma. Es tut mir leid, dass ich nicht da war. Es tut mir alles leid.«

Die alte Frau sah ihr einziges Kind an und hasste sich plötzlich. Yangjin wollte sagen, dass es ihr auch leidtue, aber alle Kraft wich aus ihrem Körper, und sie schloss die Augen.