Tokio, 1989
Solomon war froh, wieder zu Hause zu sein. Die Stelle bei Travis Brothers gefiel ihm besser, als er erwartet hatte. Er verdiente mehr als das Einstiegsgehalt für College-Absolventen, dazu kam er in den Genuss zahlreicher Vergünstigungen, denn er war als im Ausland lebender Bürger eingestellt worden und galt nicht als Einheimischer. Die Personalabteilung von Travis hatte ihn an eine Wohnungsvermittlung verwiesen, die ihm ein durchaus annehmbares Zweizimmerapartment angeboten hatten, das Phoebe nicht zu schrecklich fand. Travis, sein Arbeitgeber, wurde im Mietvertrag als Bürge genannt, weil Solomon in Japan rechtlich gesehen Ausländer war. Das war gängige Praxis und etwas, das Phoebe erzürnte.
Es hatte einige Überredung gekostet, bis Phoebe sich entschied, mit Solomon nach Tokio zu gehen. Die beiden hatten vor zu heiraten, und zusammen nach Japan zu gehen, war ein erster Schritt. Jetzt war Phoebe da, und Solomon hatte ihretwegen ein schlechtes Gewissen. Solomon war bei der japanischen Zweigstelle einer britischen Investmentbank angestellt und arbeitete mit Briten, Amerikanern, Australiern, Neuseeländern und ein paar Südafrikanern zusammen, dazu kamen die Einheimischen, die eine westliche Ausbildung hatten und weniger engstirnig waren als die Japaner im Allgemeinen. Als koreanischer Japaner, der in den Staaten studiert hatte, war Solomon sowohl Einheimischer als auch Ausländer mit dem nützlichen Wissen des Einheimischen und den finanziellen Vorteilen des Ausländers. Phoebe hingegen kam weder in den Genuss seines Status noch seiner Privilegien. Und so verbrachte sie ihre Tage in der Wohnung mit Lesen, oder sie wanderte in Tokio umher und fragte sich, warum sie überhaupt mitgekommen war. Solomon war nur selten zu Hause. Eine Arbeitserlaubnis konnte sie nicht bekommen, weil sie und Solomon nicht verheiratet waren; sie wollte Englischunterricht geben, wusste aber nicht, wie sie das anstellen sollte. Gelegentlich, wenn ein unbedarfter Japaner sie fragte, ob sie aus Südkorea sei, brauste sie regelrecht auf.
»In Amerika gibt es das nicht, dieses Kankokujin oder Chosenjin. Warum sollte ich aus Süd- oder aus Nordkorea kommen? Das ist doch Unsinn! Ich bin in Seattle geboren, und meine Eltern sind in die Staaten eingewandert, als es nur ein Korea gab«, sagte sie wütend. »Warum wird in Japan immer noch zwischen den beiden Ländern unterschieden, obwohl die Koreaner seit vier Generationen in diesem Land leben, verdammt? Du bist hier geboren. Du bist kein Ausländer! Das ist doch Wahnsinn. Dein Vater ist auch hier geboren. Warum müsst ihr einen koreanischen Pass haben?«
Sie wusste so gut wie er, dass sich die Koreaner in Japan nach der Teilung der Halbinsel für eine Seite entscheiden mussten, manchmal mehrmals, was sich auf ihren Aufenthaltsstatus auswirkte. Es war immer noch schwierig für Koreaner, die japanische Staatsangehörigkeit zu erlangen, und viele Koreaner betrachteten es als schändlich – dass ein Koreaner im Land des ehemaligen Besetzers Bürgerrechte erwerben würde. Ihre Freunde in New York, mit denen Phoebe über diese seltsame historische Anomalität und die allgegenwärtigen ethnischen Vorurteile sprach, waren verwundert, dass freundliche und wohlerzogene Japaner Phoebe nach den negativen Stereotypen für kriminell, faul, schmutzig oder aggressiv hielten. »Aber natürlich weiß jeder, dass Koreaner und Japaner nicht miteinander auskommen«, sagten ihre Freunde ahnungslos, und Phoebe hörte auf, mit ihren Freunden in den Staaten über dieses Thema zu sprechen.
Solomon war verwundert, dass Phoebe sich über die Geschichte der Koreaner in Japan so ereifern konnte. Nach drei Monaten in Tokio, in denen sie ein paar historische Bücher gelesen hatte, kam sie zu dem Schluss, dass die Japaner sich nie ändern würden. »Die Regierung weigert sich nach wie vor, ihre Kriegsverbrechen anzuerkennen!« Solomon fiel auf, dass er sich bei solchen Gesprächen auf die Seite der Japaner schlug.
Sie wollten eine Reise nach Seoul unternehmen, wenn die Handelssaison endete und die Arbeit nachließ. Er hoffte, dass Seoul für sie beide neutrales Territorium wäre – ein Ort, an dem beide gewissermaßen koreanische Einwanderer waren. Da war es hilfreich, dass Phoebe gut Koreanisch sprach; sein Koreanisch war miserabel. Ein paarmal war er mit seinem Vater in Südkorea gewesen, und die Menschen dort hatten sie als Japaner behandelt. Es war keine Rückkehr in die Heimat gewesen, aber dennoch eine schöne Reise. Insgesamt fiel es ihnen leichter, sich als japanische Touristen zu geben, die das gute Barbecue genossen, als selbstgerechten Koreanern erklären zu wollen, warum ihre erste Sprache Japanisch war.
Solomon war in Phoebe verliebt. Sie waren seit ihrem zweiten Studienjahr zusammen. Er konnte sich ein Leben ohne sie nicht vorstellen, aber als er sah, wie unwohl sie sich in Japan fühlte, wurde ihm bewusst, dass sie sehr unterschiedlich waren. Aus ethnischer Sicht waren sie beide Koreaner, die außerhalb ihres Landes aufgewachsen waren, und hier, in Japan, traten die Unterschiede viel gravierender zutage. Sie hatten seit zwei Wochen nicht miteinander geschlafen. Wie würde es sein, wenn sie erst verheiratet waren? Solomon dachte über diese Fragen nach, als er auf dem Weg zu einem Pokerabend war.
Es war sein vierter Pokerabend mit den Kollegen. Solomon und ein weiterer Juniorpartner, Louis von M & A aus Paris, ein Hapa, waren zu der Runde eingeladen worden; die anderen Spieler waren Manager und Geschäftsführer. Die Zusammensetzung wechselte, aber insgesamt waren sie sechs oder sieben Männer. Keine Frauen. Solomon war ein ausgezeichneter Pokerspieler. Beim ersten Spiel hatte er sich zurückgehalten und weder gewonnen noch verloren; beim zweiten Spiel hatte er sich sicherer gefühlt und wurde Zweiter, und nach dem dritten Spiel ging er mit dem größten Teil des 350000-Yen-Topfs nach Hause. Die anderen waren verärgert, aber er fand, es hatte sich gelohnt, seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen – wenn er gewinnen wollte, konnte er das.
Für diesen Abend hatte er geplant, ein bisschen zu verlieren. Die Männer waren nett und gute Verlierer; Solomon wollte gern weiterhin mit ihnen spielen. Zweifellos hatten sie ihn in die Runde eingeladen, weil sie dachten, er sei unerfahren; sie ahnten nicht, dass er an der Columbia University nicht nur in Wirtschaftswissenschaften seinen Abschluss gemacht hatte, sondern sich daneben auch in Poker und Pool bewiesen hatte.
Sie spielten Anakonda, auch »Abwerfen« genannt, weil man seine schlechten Karten an den Spieler links von sich abgeben konnte, erst drei Karten, dann zwei, dann noch eine, während man immer weiter reizte. Ein Vollidiot hätte das Spiel gewinnen können, weil es allein aufs Glück ankam, aber Solomon mochte das Reizen. Er sah gern zu, wie die anderen reizten oder rausgingen.
Die Spieler trafen sich in einem holzgetäfelten Raum im Untergeschoss eines ganz gewöhnlichen Izakaya in Roppongi. Der Besitzer war ein Freund von Kazu-san, Solomons Chef und der oberste Geschäftsführer bei Travis; er ließ sie einmal im Monat den Raum benutzen, solange sie genug tranken und reichlich zu essen bestellten. Jeden Monat übernahm einer die Rolle des Gastgebers und bezahlte die Rechnung. Anfangs dachten die Geschäftsführer, es sei nicht fair, die Junior-Mitarbeiter die Zeche bezahlen zu lassen, weil sie so viel weniger verdienten, aber als Solomon die dritte Runde gewonnen hatte, sagten die meisten: »Der Kleine kann das Essen bezahlen.« An dem Abend war Solomon daran.
Sechs Spieler saßen um den Tisch, und der Topf enthielt 300000 Yen. In den ersten drei Runden spielte Solomon auf Sicherheit: Er gewann nicht und verlor nicht.
»He, Solly«, sagte Kazu, »was soll das heißen? Hat das Glück dich verlassen, Freund?«
Kazu, sein Chef, war gebürtiger Japaner, der in Kalifornien und Texas studiert hatte, und trotz seiner maßgeschneiderten Anzüge und seines eleganten Tokioter Akzents war seine englische Ausdrucksweise reiner amerikanischer Studentenjargon. In seinem Stammbaum wimmelte es von Herzögen und Grafen, die nach dem Krieg ihre Titel verloren hatten, und seine Mutter stammte aus verwandten Zweigen von Shogun-Familien. Bei Travis brachte Kazu eine Menge Zunder ein. Fünf der sechs wichtigsten Bankenabkommen im vergangenen Jahr waren zustande gekommen, weil Kazu sie eingeleitet hatte. Und jetzt hatte Kazu Solomon zu der Pokerrunde geholt. Die Älteren grummelten, weil sie keine Lust hatten, an den Kleinen zu verlieren, aber Kazu sagte, ein bisschen Wettbewerb tue allen gut.
Solomon mochte seinen Chef, alle mochten ihn. Er hatte Glück, dass er als einer der Jüngeren in Kazus Team zu den berühmten monatlichen Pokerrunden eingeladen wurde. Kazu hatte Mitarbeiter, die seit zehn Jahren in seinem Team waren und nie eingeladen worden waren. Immer, wenn Phoebe vom Rassismus der Japaner sprach, führte Solomon Etsuko und Kazu an, die in seinen Augen das Gegenteil bewiesen. Kazu als Japaner hatte sich Solomon gegenüber weit freundlicher gezeigt als viele Koreaner, die ihn oftmals als Konkurrenten empfanden und glaubten, er mache ihnen Dinge streitig.
Es war Zeit, abzuwerfen, neue Karten aufzunehmen und zu reizen. Solomon warf eine nutzlose Kreuz-Neun und eine Herz-Zwei ab, dann nahm er einen Buben und eine Drei auf, die er für ein Volles Haus brauchte. Das Glück hatte ihn nie verlassen. Wenn Solomon Karten spielte, fühlte er sich stark und unantastbar, als könnte er nicht verlieren; er wusste nicht, ob er sich so fühlte, weil ihm das Geld nicht wichtig war. Er saß gern am Spieltisch, er mochte das belanglose Männergerede. Mit seiner Hand hatte er eine gute Chance, den Topf zu gewinnen, in dem sicherlich über einhunderttausend Yen waren. Solomon setzte dreißigtausend. Louis und Yamada-san, der japanische Australier, legten die Karten hin, und so waren noch Solomon, Ono, Giancarlo und Kazu im Spiel. Onos Gesicht gab nichts preis, und Giancarlo kratzte sich am Ohr.
Ono setzte zwanzigtausend, worauf Kazu und Giancarlo die Karten hinlegten. Giancarlo sagte lachend: »Ihr zwei seid ganz gerissene Hunde.« Er trank von seinem Whiskey. »Gibt es noch von diesen Spießen mit Hühnerfleisch?«
»Yakitori«, sagte Kazu. »Du lebst in Japan, mein Freund, merk dir das Wort für Spieß mit Hühnerfleisch.«
Giancarlo streckte den Mittelfinger aus und lächelte.
Kazu gab dem Kellner ein Zeichen und bestellte für die Runde.
Es war Zeit, zu zeigen. Ono hatte nur zwei Pärchen. Er hatte geblufft.
Solomon fächerte seine Karten auf.
»Du alter Mistbock«, sagte Ono.
»Tut mir leid, Sir«, sagte Solomon und strich das Geld mit einer entspannten, geübten Bewegung zu sich hin.
»Entschuldige dich nicht fürs Gewinnen«, sagte Kazu.
»Er kann sich ruhig ein bisschen dafür entschuldigen, dass er mir mein Geld wegnimmt«, sagte Giancarlo, und die anderen lachten.
»Mann, ich kann’s kaum abwarten, dass du in einem meiner Projekte mitmachst. Dann sorge ich dafür, dass du dir vor Arbeit den Arsch aufreißt und nur die hässlichen Mädels im Team hast«, sagte Ono. Er hatte einen Doktor in Wirtschaftswissenschaften vom Massachusetts Institute of Technology und war zum vierten Mal verheiratet. Jede neue Frau war noch atemberaubender als die vorherige. Als hochrangiger Elektronics Banker während des japanischen Wirtschaftsaufschwungs hatte er obszöne Mengen von Geld verdient und arbeitete unaufhörlich weiter. Ono sagte, der Zweck harter Arbeit sei ganz einfach: Sex mit hübschen Frauen, und der hatte seinen Preis.
»Ich finde schon was für dich, mein Kleiner.« Ono rieb sich die Hände.
»Er ist größer als du«, sagte Giancarlo.
»Status sticht Größe«, sagte Ono.
»Gomen nasai, Ono-san, gomen nasai.« Solomon verneigte sich theatralisch.
»Mach dir nichts draus, Solly«, sagte Kazu. »Ono hat ein Herz aus Gold.«
»Stimmt nicht. Ich bin extrem nachtragend und schlage im passenden Moment zu«, sagte Ono.
Solomon zog die Augenbrauen hoch und zitterte. »Ich bin doch noch ein Junge, Sir«, sagte er. »Seien Sie gnädig.« Er baute das Geld vor sich in ordentlichen Stapeln auf. »Ein reicher Junge, der Barmherzigkeit verdient hat.«
»Ich habe gehört, du bist stinkreich«, sagte Giancarlo. »Dein Vater ist in Pachinko, richtig?«
Solomon nickte. Er wusste nicht, woher Giancarlo das wusste.
»Ich hatte mal eine scharfe japanische Hapa, die häufig Pachinko spielte. Sie war ein teures Hobby. Kein Wunder, dass du ein guter Spieler bist. Liegt dir wohl im Blut, deinem schlauen koreanischen Blut«, sagte Giancarlo. »Mann, das Mädel erzählte immer wieder, wie gerissen diese Koreaner sind, denen all die Lokale gehören und die sich über uns Japaner lustig machen – aber Mann, sie konnte verrückte Sachen mit ihren Titten machen, wenn –«
»Unmöglich«, sagte Kazu. »Du hast nie eine scharfe Frau gehabt.«
»Ja, stimmt, Sensei. Ich bin mit deiner Frau ausgegangen, und die ist nicht sehr scharf, die ist eine echte –«
Kazu lachte. »He, wollen wir Poker spielen, was meint ihr?« Er goss sich Soda in den Whiskey, dessen Farbe merklich heller wurde. »Solly hat fair gewonnen.«
»Ich sage nichts Schlechtes. Es ist ein Kompliment. Die Koreaner, die hier leben, sind klug und reich. So wie unser junger Solomon. Schließlich habe ich ihn nicht einen Yakuza genannt! Du setzt jetzt keinen Killer auf mich an, Solly, oder?«, fragte Giancarlo.
Solomon lächelte zögernd. Er hörte derlei nicht zum ersten Mal, aber es war lange her, seit jemand die Branche seines Vaters erwähnt hatte. In Amerika wussten die Menschen nicht einmal, was Pachinko war. Sein Vater war zuversichtlich gewesen, dass es in den Büroetagen einer westlichen Bank weniger verbohrte Vorurteile geben würde, und hatte ihn ermutigt, die Stelle anzunehmen. Giancarlo sagte nichts anderes als das, was andere Japaner der Mittelschicht auch dachten oder sich erzählten; seltsam war nur, solche Reden von einem Italiener zu hören, der seit zwanzig Jahren in Japan lebte.
Louis hob ab, und Kazu teilte aus.
Solomon hatte drei Könige, aber als er dran war, warf er sie in drei Runden nacheinander ab, legte dann hin und verlor ungefähr zehntausend Yen. Am Ende des Abends bezahlte er die Zeche. Kazu sagte, er wolle mit ihm reden, und sie gingen zusammen auf die Straße, um ein Taxi anzuhalten.