Tokio, 1989
Ich mochte ihn nie«, sagte Phoebe. »Zu glatt.«
»Also, offenbar bin ich ein Idiot, denn ich mochte ihn«, sagte Solomon. »Und außerdem, wie konntest du zu diesem Eindruck von Kazu kommen, ihr seid euch doch nur kurz begegnet? Du hast ihn nur zwei Minuten gesehen, als wir ihn im Mitsukoshi getroffen haben. Und bisher hast du es nie erwähnt.«
Solomon saß in dem gemieteten Ledersessel und konnte Phoebe kaum in die Augen sehen. Er war sich nicht sicher gewesen, worauf er sich gefasst machen musste, und war überrascht, wie ruhig sie bei der Neuigkeit blieb. Sie wirkte fast zufrieden. Phoebe saß auf der Bank beim Fenster und hatte die Knie an die Brust gezogen.
»Ich mochte ihn wirklich«, sagte er.
»Solomon, der Typ hat dich ausgenommen.«
Solomon sah zu ihrem unbewegten Profil, dann ließ er den Kopf wieder gegen die Rückenlehne sinken.
»Er ist ein Arschloch.«
»Jetzt geht es mir viel besser.«
»Ich bin auf deiner Seite.«
Phoebe wusste nicht, ob sie sich zu ihm setzen sollte. Sie wollte nicht, dass er dachte, sie habe Mitleid mit ihm. Ihre ältere Schwester hatte immer gesagt, Männer hassten Mitleid, sie wollten Mitgefühl und Bewunderung – keine leichte Kombination.
»Er war falsch. Er hat mit dir gesprochen, als wärst du sein kleiner Busenfreund. Als wäre er einer der wichtigen Männer auf dem Campus, und du wärst einer seiner Handlanger. Gibt es dieses System eigentlich noch? Ich hasse den ganzen Scheiß mit den Studentenverbindungen.« Phoebe verdrehte die Augen.
Solomon war wie vor den Kopf geschlagen. Sie hatte seine Beziehung mit Kazu aus dieser beiläufigen Begegnung in der Lebensmittelabteilung des Mitsukoshi-Warenhauses erspürt. Wie hatte sie das gemacht?
Phoebe umschlang ihre Knie und faltete die Finger.
»Du magst ihn nicht, weil er Japaner ist.«
»Sei mir nicht böse. Nicht, dass ich den Japanern misstraue, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich ihnen wirklich traue. Gleich sagst du, ich hätte zu viel über den Krieg im Pazifik gelesen. Ich weiß, ich klinge ein bisschen engstirnig.«
»Ein bisschen? Die Japaner haben auch gelitten. Was ist mit Nagasaki? Hiroshima? Und in Amerika wurden die japanischstämmigen Amerikaner in Internierungslager gesteckt, die deutschstämmigen Amerikaner aber nicht. Wie willst du das erklären?«
»Solomon, ich bin jetzt lange genug hier gewesen. Können wir bitte nach Hause gehen? In New York kannst du jede Menge fantastischer Stellen bekommen. Du bist in vielem richtig gut. In Interviews schneidest du besser ab als jeder andere.«
»Ohne Visum kann ich in den Staaten nicht arbeiten.«
»Da gibt es andere Möglichkeiten.« Sie lächelte.
Solomons Familie hatte immer wieder auf eine Heirat angespielt; der Einzige, der bisher noch nie davon gesprochen hatte, war er selbst.
Solomons Kopf lag reglos an der Rückenlehne des Sessels. Phoebe sah, dass er an die Decke starrte. Sie stand auf und ging zu dem Wandschrank im Flur. Sie machte die Türen auf und nahm ihre beiden Koffer heraus. Die Kofferrollen ratterten laut über den Holzfußboden, und Solomon sah auf.
»He, wo willst du hin?«
»Ich gehe nach Hause«, sagte sie.
»Sei nicht so.«
»Mir ist klar geworden, dass ich mein Leben aufgegeben habe, als ich mit dir hierhergekommen bin, und dass du es nicht wert bist.«
»Warum machst du das?«
Solomon erhob sich von dem Sessel und stand jetzt da, wo sie einen Moment zuvor gestanden hatte. Phoebe zog die Koffer hinter sich her ins Schlafzimmer und schloss leise die Tür.
Was konnte er sagen? Er würde sie nicht heiraten. Das war ihm schon in dem Moment klar geworden, als sie in Narita gelandet waren. Im College hatten ihn ihr Selbstvertrauen und ihre Haltung fasziniert. Ihr Gleichmut, der in den Staaten so wichtig erschienen war, wirkte hier eher wie Hochmut oder Arroganz. Sie hatte ihr Leben aufgegeben, das stimmte wohl, aber sie zu heiraten, erschien ihm nicht die Lösung.
Und dann die Einstellung, dass alle in Japan böse waren. Sicher, in Japan gab es Arschlöcher, aber Arschlöcher gab es überall, nee? Entweder hatten sich ihre Gefühle für ihn gewandelt, seit sie hier waren, oder seine für sie. Hatte er ihr nicht einen Heiratsantrag machen wollen? Aber als sie jetzt eine Heirat als Möglichkeit ins Spiel brachte, um eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen, wurde ihm bewusst, dass er nicht Amerikaner werden wollte. Was war besser, Amerikaner zu sein oder Japaner? Er kannte Koreaner, die japanische Bürger geworden waren, und das erschien ihm sinnvoll, aber jetzt wollte er auch das nicht mehr. Vielleicht später einmal. Sie hatte recht; es war befremdlich, dass er in Japan geboren war und einen südkoreanischen Pass hatte. Er konnte nicht ausschließen, dass er eines Tages die japanische Staatsbürgerschaft annehmen würde. Vielleicht würden andere Koreaner das nicht verstehen, aber das kümmerte ihn nicht mehr.
Kazu war ein Arschloch – na und? Er war ein schlechter Mensch, und er war Japaner. Vielleicht hatte er dieses Verhalten an der Universität in Amerika gelernt. Etsuko war wie eine Mutter für ihn. Hana war seine erste Liebe gewesen; und Totoyama war wie ein Onkel. Alle drei waren Japaner, und sie waren gute Menschen. Phoebe kannte diese Menschen nicht, wie er sie kannte; wie sollte er da erwarten, dass sie ihn verstand?
In gewisser Weise war er selbst Japaner, wenn auch nicht in den Augen der Japaner. Das verstand Phoebe nicht. Nicht das Blut allein bestimmte, wer man war. Der Spalt zwischen ihm und Phoebe würde sich nicht schließen, und wenn er sich ihr gegenüber als anständig erweisen wollte, musste er sie gehen lassen.
Solomon ging in die Küche und machte Kaffee. Er goss den Kaffee in zwei Tassen und ging zum Schlafzimmer.
»Phoebe, darf ich reinkommen?«
»Die Tür ist offen.«
Die Koffer auf dem Fußboden waren voll mit gefalteten oder gerollten Kleidungsstücken. Die Schränke waren schon fast leer. Solomons fünf dunkle Anzüge und ein halbes Dutzend Oberhemden hingen an der langen Stange, auf der noch ein guter Meter Platz war. Auf dem Schrankboden standen Phoebes Schuhe in einer ordentlichen Reihe. Es waren schwarze oder braune Lederschuhe; ein paar rosafarbene Espadrilles, von denen sie einmal schreckliche Blasen bekommen hatte, nahmen sich neben den anderen Schuhe wie ein jugendlicher Fehltritt aus. In ihrem zweiten Jahr an der Universität waren sie darin zu einer Party gegangen, und anschließend musste sie barfuß zu ihrem Studentenheim auf der 111. Straße und Broadway laufen, weil sie von den Espadrilles Blasen bekommen hatte.
»Warum hast du die Schuhe aufgehoben?«
»Sei still, Solomon.« Phoebe fing an zu weinen.
»Was habe ich gesagt?«
»Ich bin mir im Leben nie so dumm vorgekommen. Warum bin ich nur hier?« Sie atmete tief ein.
Solomon sah sie an; er wusste nicht, wie er sie trösten sollte. Er fürchtete sich vor ihr; vielleicht hatte er sich immer vor ihr gefürchtet – vor ihrer Freude, ihrem Zorn, ihrer Traurigkeit und Erregung –, sie hatte so viele extreme Gefühle. Das nahezu leere Zimmer mit dem gemieteten Bett und der Stehlampe unterstrich Phoebes Lebendigkeit. In New York war sie sprühend und lebensfroh gewesen. Hier stach sie hervor, wirkte unbeholfen.
»Es tut mir leid«, sagte er.
»Nein. Es tut dir nicht leid.«
Solomon setzte sich im Schneidersitz auf den Fußboden und lehnte sich mit seinem langen Rücken an die Wand, die frisch gestrichen und leer war. Sie hatten keine Bilder aufgehängt, weil der Vermieter ihnen für jedes Nagelloch einen Preis berechnet hätte.
»Es tut mir leid«, wiederholte er.
Phoebe nahm die Espadrilles und warf sie in den übervollen Papierkorb.
»Wahrscheinlich werde ich für meinen Dad arbeiten«, sagte er.
»Pachinko?«
»Ja.« Solomon nickte wie zu sich selbst. Es klang merkwürdig, es laut zu sagen.
»Hat er dich gefragt?«
»Nein. Ich glaube nicht, dass er es will.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Vielleicht kann ich das Geschäft übernehmen.«
»Das soll ein Witz sein, oder?«
»Nein.«
Ohne ein weiteres Wort packte Phoebe weiter. Sie beachtete ihn absichtlich nicht, und er sah sie weiter an. Sie war hübsch, nicht schön. Er mochte ihren langen Körper, ihren Hals, das kurze Haar, die intelligenten Augen. Wenn sie über einen Witz lachte, war ihr Lachen rund. Nichts schien ihr Angst zu machen – alles schien ihr machbar. Konnte er erreichen, dass sie ihre Entscheidung änderte? Konnte er seine Entscheidung ändern? Vielleicht war ihr Packen nur eine dramatische Geste. Was wusste er schon über Frauen? Er hatte nur zwei Frauen gekannt.
Sie rollte einen weiteren Pullover zusammen und legte ihn zu den anderen.
»Pachinko. Na, das macht es leichter«, sagte sie schließlich. »Ich kann hier nicht leben, Solomon. Auch wenn du mich heiraten wolltest – ich kann hier nicht leben. Ich kann hier nicht atmen.«
»Am ersten Abend, nachdem wir angekommen waren und du die Anweisungen auf dem Döschen mit dem Aspirin nicht lesen konntest, hast du geweint. Da hätte ich es wissen müssen.«
Phoebe nahm wieder einen Pullover und starrte ihn an, als wüsste sie nicht, was sie damit machen sollte.
»Du musst mich verlassen«, sagte er.
»Ja. Das tue ich auch.«
Am nächsten Morgen reiste sie ab. Es entsprach ihrem Wesen, den Abgang glatt und ohne Aufsehen zu vollziehen. Solomon fuhr mit ihr im Zug zum Flughafen, und obwohl sie freundlich miteinander umgingen, war Phoebe über Nacht eine andere geworden. Sie schien weder traurig noch wütend; sie war herzlich und erschien, falls das möglich war, stärker als zuvor. Sie erlaubte ihm, sie zum Abschied zu umarmen, aber sie waren sich einig, dass sie lange Zeit nicht miteinander sprechen würden.
»Es ist besser so«, sagte Phoebe, und Solomon war gegen ihren Entschluss machtlos.
Solomon fuhr mit dem Zug nach Yokohama.
An den Wänden im Büro seines Vaters standen graue Metallregale, und auf den Aktenschränken lagen Stapel von Unterlagen. Unter den hohen Fenstern standen drei Safes, in denen Dokumente und die Belege für die Tageseinnahmen verstaut wurden. Mozasu saß hinter dem zerkratzten Eichenholzschreibtisch, den er seit über dreißig Jahren benutzte. An diesem Tisch hatte Noa für seine Aufnahmeprüfung an der Waseda-Universität gelernt, und als er nach Tokio umgezogen war, hatte er den Schreibtisch seinem Bruder Mozasu vermacht.
»Papa.«
»Solomon«, rief Mozasu überrascht. »Ist alles in Ordnung?«
»Phoebe fliegt zurück in die Staaten.«
Es seinem Vater zu sagen, machte es wirklich. Solomon setzte sich auf den leeren Stuhl.
»Was? Warum? Weil du deine Stelle verloren hast?«
»Nein. Ich kann sie nicht heiraten. Und ich habe ihr gesagt, dass ich lieber in Japan leben möchte. Dass ich im Pachinko-Gewerbe arbeiten will.«
»Was? Pachinko? Nein, nein.« Mozasu schüttelte den Kopf. »Du findest wieder eine Stelle im Bankwesen. Deswegen bist du doch an der Columbia University gewesen, nee?«
Mozasu legte die Hand an die Stirn, die Eröffnung hatte ihn ernstlich verwirrt.
»Sie ist ein nettes Mädchen. Ich dachte, ihr würdet heiraten.«
Mozasu kam um den Schreibtisch herum und gab seinem Sohn eine Packung Taschentücher.
»Pachinko? Honto?«
»Ja. Warum nicht?« Solomon putzte sich die Nase.
»Das meinst du nicht ernst. Du hast keine Ahnung, was die Leute reden.«
»Nichts davon stimmt. Du bist ein ehrlicher Geschäftsmann. Ich weiß, dass du deine Steuern bezahlst und immer die Genehmigungen einholst, und –«
»Ja, ja, schon. Aber die Leute reden trotzdem schlecht darüber. Ich bin daran gewöhnt. Ich bin ein Niemand. Du solltest diese Arbeit nicht machen. Ich war kein guter Schüler wie mein Bruder. Ich konnte gut Dinge reparieren und Geld verdienen. Ich habe mein Geschäft immer sauber geführt und mich von schlechten Einflüssen ferngehalten. Goro-san hat mir beigebracht, dass es sich nicht lohnt, mit den Ganoven Geschäfte zu machen. Aber Solomon, diese Branche ist nicht leicht, nee? Es geht nicht nur darum, die Maschinen einzurichten und neue zu bestellen und Leute einzustellen, die in den Lokalen arbeiten. So vieles kann schiefgehen. Wir kennen viele, die in dem Geschäft gescheitert sind, nee?«
»Warum willst du nicht, dass ich bei dir einsteige?«
»Ich habe dich auf eine amerikanische Universität geschickt, damit niemand –« Mozasu machte eine Pause. »Niemand soll auf meinen Sohn herabblicken.«
»Papa, das ist nicht wichtig. Nichts davon ist wichtig, nee?« So hatte Solomon seinen Vater noch nie erlebt.
»Ich habe gearbeitet und Geld verdient, weil ich dachte, so würde ich zum Mann. Ich dachte, die Leute würden mich achten, wenn ich reich bin.«
Solomon sah ihn an und nickte. Sein Vater gab selten Geld für sich aus, aber er bezahlte für Hochzeiten und Beerdigungen der Familien seiner Angestellten und gab ihnen das Schulgeld für die Kinder.
Plötzlich hellte sich Mozasus Miene auf.
»Du kannst dich noch umentscheiden, Solomon. Du kannst Phoebe anrufen, wenn sie in den Staaten angekommen ist, und ihr sagen, dass es dir leidtut. Deine Mutter war Phoebe ganz ähnlich – willensstark und klug.«
»Ich möchte hier leben«, sagte Solomon. »Sie möchte das nicht.«
»Soo nee.«
Solomon nahm den Ordner, der auf dem Schreibtisch lag.
»Erklär mir das hier, Papa.«
Mozasu hielt einen Moment inne, dann schlug er den Ordner auf.
Es war der Erste des Monats, und als Sunja aufwachte, war sie traurig. Sie hatte wieder von Hansu geträumt. In letzter Zeit war er in ihren Träumen erschienen; er sah aus wie damals, im weißen Leinenanzug und mit weißen Lederschuhen. Er sagte immer dasselbe: »Du bist mein Mädchen; du bist mein liebes Mädchen.« Beim Aufwachen war Sunja voller Scham. Sie hätte ihn inzwischen vergessen sollen.
Nach dem Frühstück ging sie zum Friedhof, um Isaks Grab zu reinigen. Wie jedes Mal bot Kyunghee ihr an, mitzukommen, aber Sunja sagte, das sei nicht nötig.
Die beiden Frauen machten kein Jesa. Als Christen sollten sie nicht an die Verehrung der Vorfahren glauben, trotzdem wollten die Frauen mit ihren Ehemännern und Vorfahren sprechen und ihren Rat erbitten. Sie vermissten die alten Rituale, und deshalb ging Sunja regelmäßig zum Friedhof. Es war seltsam, aber Sunja fühlte sich Isak auf eine Weise nah, wie sie es zu seinen Lebzeiten nicht getan hatte. Damals war sie voller Ehrfurcht vor ihm und seiner Güte gewesen. Tot schien er ihr eher nahbar.
Als der Zug aus Yokohama in Osaka ankam, kaufte Sunja an dem Stand der alten Koreanerin wie immer eine elfenbeinweiße Chrysantheme. Den Stand gab es dort seit Jahren. Isak hatte es so erklärt: Wenn es Zeit war, vor den Herrn zu treten, gehe das eigentliche Wesen ins Himmelreich ein, und was mit den sterblichen Überresten geschah, sei bedeutungslos. Es sei unsinnig, einem begrabenen Toten Speisen oder Weihrauch oder Blumen zu bringen. Man müsse sich auch nicht verneigen, da wir vor dem Herrn alle gleich seien. Und trotzdem hatte Sunja den Wunsch, etwas Schönes zum Grab zu bringen. Im Leben hatte er so wenig von ihr gewollt, und wenn sie jetzt an ihren Mann dachte, erinnerte sie sich an ihn als jemanden, der die Schönheit von Gottes Schöpfung pries.
Sie war froh, dass Isak nicht verbrannt worden war. Sie hatte einen Ort haben wollen, an dem die Jungen ihren Vater besuchen konnten. Mozasu ging oft zum Grab, und bevor Noa verschwand, war auch er mitgekommen. Hatten die Jungen mit Isak gesprochen?, fragte Sunja sich. Sie hatte nie daran gedacht, sie danach zu fragen, und jetzt war es zu spät.
Wenn sie in letzter Zeit zum Friedhof ging, beschäftigte sie die Frage, was Isak zu Noas Tod gesagt hätte. Isak hätte Noas Leiden verstanden. Er hätte gewusst, was er zu ihm hätte sagen müssen. Noas Frau hatte ihn einäschern lassen, es gab also kein Grab. Wenn Sunja allein war, sprach sie mit Noa. Manchmal löste eine Kleinigkeit, ein Stück köstliche Kürbispastete beispielsweise, Bedauern aus, dass sie ihm jetzt, da sie das Geld dazu hatte, nicht etwas kaufen konnte, das er als Kind so gern gegessen hatte. Es tut mir leid, Noa, es tut mir leid. Seit seinem Tod waren elf Jahre vergangen; der Schmerz verging nicht, aber die Schärfe hatte nachgelassen, wie Seeglas, das sich mit der Zeit stumpf schliff.
Sunja war nicht zu Noas Trauerfeier gegangen. Er hatte nicht gewollt, dass seine Frau und seine Kinder sie kannten, und ohnehin hatte sie so viel Schaden angerichtet. Hätte sie ihn damals nicht unbedingt sehen wollen, vielleicht würde er heute noch leben. Auch Hansu war nicht zu seiner Trauerfeier gegangen. Noa wäre jetzt sechsundfünfzig Jahre alt.
In ihrem Traum war Sunja froh gewesen, dass Hansu sie wieder besucht hatte. Sie hatten sich am Strand bei ihrem alten Zuhause in Yeongdo getroffen und unterhalten, und die Erinnerung an den Traum war jetzt so, als würde sie das Leben eines anderen beobachten. Wie war es möglich, dass Isak und Noa tot waren, aber Hansu noch lebte? Konnte das gerecht sein? Hansu lebte in Tokio in einem Krankenhausbett, wo er von den Krankenschwestern und seinen Töchtern rund um die Uhr gepflegt wurde. Sie besuchte ihn nicht und hatte auch nicht den Wunsch, ihn zu sehen. In ihren Träumen war er so lebendig wie damals, als sie ein junges Mädchen war. Sie vermisste ihn nicht, auch nicht Isak. Was sie in ihren Träumen sah, war ihre Jugend, ihren Anfang, ihre Wünsche – damals war sie erwachsen geworden. Ohne Hansu und Isak und Noa hätte es nicht die Pilgerfahrt in dieses Land gegeben. Über das Tagtägliche hinaus hatte es Momente leuchtender Schönheit gegeben, und auch Ruhmreiches, selbst im Leben dieser Ajumma. Auch wenn niemand es wusste, es war doch die Wahrheit.
Es gab Trost: Die Menschen, die man liebte, sie waren immer da – das hatte sie gelernt. Manchmal stand sie am Fahrkartenschalter oder vor dem Fenster einer Buchhandlung, und sie konnte Noas kleine Hand spüren, und dann schloss sie die Augen und konnte in der Erinnerung seinen grasfrischen Geruch riechen, und sie dachte daran, dass er sich immer bemüht hatte, alles richtig zu machen. In solchen Momenten war es gut, allein zu sein, so konnte sie ihn festhalten.
Vom Bahnhof nahm sie ein Taxi zum Friedhof, dann ging sie die vielen Reihen entlang zu Isaks Grab, das gut gepflegt war. Sie brauchte nichts zu säubern, aber sie wischte trotzdem immer den Marmorstein ab, bevor sie mit ihm sprach. Sunja ließ sich auf die Knie sinken und reinigte den flachen, quadratischen Stein mit dem Tuch, das sie zu dem Zweck mitgebracht hatte. Isaks Name war auf Koreanisch und auf Japanisch eingraviert. 1907–1944. Der weiße Marmor war jetzt sauber und von der Sonne gewärmt.
Er war ein so eleganter, schöner Mann gewesen. Sunja wusste noch, wie die Dienstmädchen im Haus ihrer Mutter ihn bewundert hatten; Bokhee und Dokhee hatten nie einen so gut aussehenden Mann gesehen. Mozasu kam eher nach ihr und hatte ihr wenig auffallendes Gesicht, aber er hatte die aufrechte Haltung und den Gang seines Vaters.
»Yobo«, sagte sie. »Mozasu geht es gut. Letzte Woche hat er mich angerufen; Solomon hat seine Stelle an der Bank verloren, und jetzt will er bei seinem Vater arbeiten. Stell dir das vor! Ich wüsste gern, was du darüber denkst.«
Die Stille ermutigte sie.
»Ich wüsste gern, wie es dir geht –« Als sie Uchida-san, den Friedhofsgärtner, sah, sprach sie nicht weiter. Sunja saß auf dem Boden in ihrem Hosenanzug aus schwarzer Wolle. Sie warf einen Blick auf ihre Handtasche. Es war eine teure Designertasche, die Etsuko ihr zu ihrem siebzigsten Geburtstag geschenkt hatte.
Der Friedhofsgärtner blieb vor ihr stehen und verneigte sich, und sie antwortete mit einer Verneigung.
Sunja lächelte dem jungen Mann zu, der vielleicht vierzig oder fünfundvierzig war. Uchida-san schien jünger als Mozasu. Wie sah sie in seinen Augen aus? Ihr Gesicht war zerfurcht von den Jahren in der Sonne, und ihr kurz geschnittenes Haar war jetzt schlohweiß. Was tat es schon – dreiundsiebzig kam ihr nicht sehr alt vor. Hatte der Friedhofsgärtner gehört, wie sie auf Koreanisch vor sich hin gemurmelt hatte? Seit sie nicht mehr in ihrem Süßwarenladen arbeitete, war ihr dürftiges Japanisch noch mehr geschwunden. Es war nicht schlecht, aber in letzter Zeit fühlte sie sich in der Gegenwart von japanisch sprechenden Menschen befangen. Uchida-san nahm seinen Rechen und ging weiter.
Sunja legte beide Hände auf den weißen Marmor, als könnte sie Isak so berühren.
»Ich wünschte, du könntest sagen, wie es mit uns weitergeht. Das wünsche ich mir. Und ich würde gern wissen, ob Noa bei dir ist.«
Ein paar Reihen weiter harkte der Friedhofsgärtner welkes Laub von den Markierungssteinen. Hin und wieder warf er einen Blick zu ihr herüber, und Sunja war es peinlich, dass er sie beobachtete, wie sie mit dem Grab redete. Sie wollte noch verweilen. Wollte den Anschein erwecken, dass sie beschäftigt war. Sie machte die Handtasche auf und steckte die schmutzigen Tücher hinein. Unten in der Tasche erspürte sie ihren Hausschlüssel mit dem Schlüsselanhänger, an dem in einem versiegelten Acrylrahmen ein daumengroßes Foto von Noa und Mozasu hing.
Sunja begann zu weinen und konnte nicht aufhören.
»Boku-san.«
»Hai?« Sunja sah zu dem Friedhofsgärtner auf.
»Kann ich Ihnen etwas zu trinken bringen? Im Schuppen habe ich eine Thermoskanne mit Tee. Es ist kein erlesener Tee, aber er ist warm.«
»Nein, nein. Danke. Jeden Tag Sie sehen Leute weinen«, sagte sie in holprigem Japanisch.
»Nein, ehrlich gesagt, kommen nur wenige Menschen hierher, aber von ihrer Familie kommen regelmäßig Besucher. Sie haben zwei Söhne und einen Enkel, Solomon. Mozasu-sama kommt jeden Monat einmal oder zweimal. Noa-sama habe ich seit elf Jahren nicht gesehen, aber davor ist er jeden letzten Donnerstag im Monat gekommen. Nach ihm konnte man die Uhr stellen. Wie geht es Noa-sama? Er war ein so freundlicher Mann.«
»Noa kommt hierher? Kommt vor 1978?«
»Hai.«
»Zwischen 1963 und 1978?« Sie erwähnte die Jahre, in denen er in Nagano gelebt hatte. Sie sagte die Jahreszahlen ein zweites Mal und hoffte, dass sie sie auf Japanisch richtig sagte. Sunja zeigte auf das Foto an dem Schlüsselanhänger. »Er kommt her?«
Der Friedhofsgärtner nickte bestätigend zu dem Foto hin, dann hob er den Blick zum Himmel, als wollte er dort einen geistigen Kalender erspähen.
»Hai, hai. Er ist in der Zeit gekommen und davor. Noa-sama hat gesagt, ich soll zur Schule gehen, er hat sogar angeboten, für mich zu bezahlen, wenn ich das wollte.«
»Wirklich?«
»Aber ich habe gesagt, ich habe einen hohlen Kürbis als Kopf, und dass es sich nicht lohnen würde, mich zur Schule zu schicken. Außerdem gefällt es mir hier. Es ist still hier. Und die Menschen, die hierherkommen, sind freundlich. Er hat mich gebeten, niemandem von seinen Besuchen zu erzählen, aber ich habe ihn seit über zehn Jahren nicht gesehen, und ich habe überlegt, ob er nach England gegangen ist. Er hat mir gesagt, ich soll gute Bücher lesen, und er hat mir Übersetzungen von dem großen britischen Schriftsteller Charles Dickens gebracht.«
»Noa, mein Sohn Noa, ist tot.«
Der Friedhofsgärtner ließ den Mund offen stehen.
»Mein Sohn, mein Sohn«, sagte Sunja leise.
»Das tut mir sehr leid, Boku-san. Wirklich sehr«, sagte der Friedhofsgärtner mit trauriger Miene. »Ich wollte ihm gern erzählen, dass ich mir andere Bücher gekauft habe, nachdem ich seine alle ausgelesen hatte. Ich habe alle Bücher von Mr Dickens in Übersetzung gelesen, aber mein Lieblingsbuch ist das erste, das er mir gegeben hat, ›David Copperfield‹. Ich bewundere David.«
»Noa hat so gern gelesen. Die besten Bücher hat er gelesen. Er war ein großer Leser.«
»Haben Sie Mr Dickens gelesen?«
»Ich kann es nicht«, sagte sie. »Nicht lesen.«
»Maji? Wenn Sie Noas Mutter sind, sind Sie auch sehr klug. Vielleicht können Sie die Abendschule für Erwachsene besuchen. Noa hat gesagt, das soll ich tun.«
Sunja lächelte dem Friedhofsgärtner zu, der sich vorstellen konnte, dass eine alte Frau zur Abendschule ging. Sie erinnerte sich daran, wie Noa Mozasu immerzu beredet hatte, wieder zur Schule zu gehen.
Der Friedhofsgärtner sah auf seinen Rechen. Er verneigte sich tief, dann wandte er sich ab und machte mit seiner Arbeit weiter.
Als er außer Sichtweite war, grub Sunja am Grabstein mit ihren Händen ein Loch, das gut dreißig Zentimeter tief war, und legte das Foto vom Schlüsselring hinein. Sie füllte das Loch mit Erde und Gras, dann reinigte sie sich notdürftig die Hände mit ihrem Taschentuch, aber es blieben schwarze Ränder unter den Fingernägeln. Sunja klopfte die Erde fest und fuhr mit den Fingern über das Gras.
Sie nahm ihre Taschen. Zu Hause wartete Kyunghee auf sie.