Als Koh Hansu Sunja zur Fähre brachte, hatte sie Gelegenheit, ihn ungehindert aus der Nähe zu betrachten. Selbst den Mentholgeruch der Pomade, mit der er sein schwarzes Haar glatt gekämmt hatte, konnte sie riechen. Hansu hatte die breiten Schultern und den kräftigen, breiten Torso eines größeren Mannes, und obwohl seine Beine nicht sehr lang waren, war er doch nicht klein geraten. Hansu mochte so alt wie ihre Mutter sein, die sechsunddreißig war. Seine braune Stirn hatte Falten, und auf seinen scharfen Wangenknochen waren Leberflecken und Sommersprossen. Die schmale Nase mit einem hohen Nasenbein und einem Höcker gab ihm ein leicht japanisches Aussehen, und um seine Nasenlöcher waren kleine geplatzte Äderchen zu sehen. Seine Augen waren eher schwarz als braun und verschluckten das Licht wie ein langer Tunnel, und wenn er sie ansah, regte sich ein unbehagliches Gefühl in ihrem Magen. Hansus Anzug im westlichen Stil war elegant und gepflegt, und im Gegensatz zu den Logiergästen haftete an ihm weder der Geruch von Fisch noch der vom Meer.
Am folgenden Tag auf dem Markt sah sie ihn in einer Gruppe von Geschäftsleuten vor dem Büro der Agenten und wartete, bis er sie bemerkte. Sie verneigte sich in seine Richtung. Hansu nickte verhalten und machte mit seiner Arbeit weiter. Sunja erledigte ihre Einkäufe, und auf dem Weg zur Fähre holte er sie ein.
»Hast du ein bisschen Zeit?«, fragte er.
Sie sah ihn mit großen Augen an. Was meinte er?
»Zum Reden.«
Sunja hatte ihr ganzes Leben mit Männern gelebt. Sie hatte sich nie vor ihnen gefürchtet oder war in ihrer Gegenwart verlegen gewesen, aber bei ihm fehlten ihr die richtigen Worte. Es fiel ihr schon schwer, so nah bei ihm zu stehen. Sunja schluckte und beschloss, sie würde mit ihm so sprechen wie mit den Logiergästen; sie war sechzehn Jahre alt, kein verschüchtertes Kind.
»Vielen Dank für Ihre Hilfe neulich.«
»Keine Ursache.«
»Ich hätte mich eher bedanken sollen. Vielen Dank.«
»Ich möchte mit dir sprechen. Nicht hier.«
»Wo dann?« Eigentlich hätte sie ihn fragen sollen, warum er mit ihr sprechen wollte, fiel ihr jetzt ein.
»Ich komme zu dem Strand hinter eurem Haus. Bei den großen Felsen, bei Ebbe. In die kleine Bucht, wo ihr immer die Wäsche macht.« So teilte er ihr mit, dass er etwas über ihr Leben wusste. »Kannst du allein kommen?«
Sunja senkte den Blick auf ihre Einkaufskörbe. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, aber sie hätte gern mehr mit ihm gesprochen. Allerdings würde ihre Mutter das niemals erlauben.
»Kannst du morgen früh dorthin kommen? Um diese Zeit?«
»Das weiß ich nicht.«
»Ist es besser am Nachmittag?«
»Vielleicht, wenn die Männer aus dem Haus gegangen sind«, hörte sie sich sagen.
Er wartete bei den schwarzen Felsen auf sie und las eine Zeitung. Das Meer war blauer, als sie es sonst kannte, und die langen dünnen Wolken schienen blasser – alles wirkte lebendiger in seiner Nähe. Die Ecken der Zeitung flatterten in der Brise, und er hielt die Seiten gut fest, aber als er Sunja kommen sah, faltete er die Zeitung zusammen und steckte sie sich unter den Arm. Er ging nicht auf sie zu, sondern wartete, bis sie bei ihm war. Sie ging mit festen Schritten, ein umwickeltes Bündel schmutziger Wäsche auf dem Kopf.
»Sir«, sagte sie und gab sich Mühe, nicht verängstigt zu klingen. Sie konnte sich nicht verneigen und hob die Hände, um das Bündel abzusetzen, aber Hansu nahm es ihr vom Kopf, und sie streckte sich, als er es auf den Felsen legte.
»Danke, Sir.«
»Du solltest mich Oppa nennen. Du hast keinen Bruder, und ich habe keine Schwester. Du kannst meine Schwester sein.«
Sunja sagte nichts.
»Es ist hübsch hier.« Hansus Blick schweifte über die kleinen Wellen und wanderte bis zum Horizont. »Nicht so schön wie Jeju, aber es hat eine ähnliche Atmosphäre. Wir stammen beide von einer Insel. Eines Tages wirst du verstehen, dass Menschen, die von einer Insel kommen, anders sind.«
Ihr gefiel seine Stimme – eine männliche, lebenserfahrene Stimme mit einer Spur Melancholie.
»Wahrscheinlich wirst du dein ganzes Leben hier verbringen.«
»Ja«, sagte sie. »Das ist mein Zuhause.«
»Zuhause«, sagte er nachdenklich. »Mein Vater hatte eine Orangenplantage in Jeju. Mein Vater und ich sind nach Osaka gezogen, als ich zwölf war. Jeju ist nicht mein Zuhause. Meine Mutter starb, als ich sehr klein war.« Er sagte ihr nicht, dass sie jemandem aus der Familie seiner Mutter ähnlich sah – die Augen und die breite Stirn.
»Das ist eine Menge Wäsche. Früher habe ich die Wäsche für mich und meinen Vater gemacht. Es war mir verhasst. Wenn man viel Geld hat, kann man jemanden bezahlen, der für einen kocht und die Wäsche macht; das ist mit das Beste.«
Sunja hatte Wäsche gewaschen, fast, seit sie laufen konnte. Ihr machte das Waschen nichts aus. Bügeln war viel schwieriger.
»Woran denkst du, wenn du Wäsche wäschst?«
Hansu wusste alles, was es über das Mädchen zu wissen gab, aber das war etwas anderes, als ihre Gedanken zu kennen. Er hatte die Angewohnheit, viele Fragen zu stellen, wenn er wissen wollte, was im Kopf eines Menschen vorging. Die meisten Menschen sagten einem, was sie dachten, und später bestätigten sie es mit ihren Taten. Die meisten Menschen sagten die Wahrheit, nur wenige waren gut im Lügen. Am meisten enttäuschte es ihn, wenn Menschen sich kaum voneinander unterschieden. Er mochte kluge Frauen lieber als dumme, und fleißige lieber als faule, die nur wussten, wie man die Beine breit machte.
»In meiner Kindheit besaßen mein Vater und ich nur die Sachen, die wir anhatten, und wenn wir sie waschen wollten, haben wir versucht, sie über Nacht, so gut es ging, zu trocknen, und zogen sie am nächsten Morgen noch klamm an. Einmal, ich glaube, ich war zehn oder elf, habe ich unsere Sachen nah am Ofen aufgehängt, damit sie schneller trockneten, und dann das Essen gekocht. Ich machte Gerstenbrei, und ich musste den Brei in dem billigen Topf ständig rühren, damit er am Boden nicht anbrannte, und während ich rührte, fiel mir ein schrecklicher Geruch auf, und ich stellte fest, dass die Ofenhitze in die Jacke meines Vaters ein großes Loch gebrannt hatte. Dafür wurde ich schlimm bestraft.« Hansu lachte bei der Erinnerung an die Tracht Prügel, die er von seinem Vater bekommen hatte. »Ein Kopf wie ein leerer Kürbis! Ein nutzloser Idiot zum Sohn!« Sein Vater vertrank sein ganzes Geld, und es war ihm gleichgültig, dass er sich und seinen Sohn nicht ernähren konnte, aber gegen seinen Sohn, der sie mit Sammeln, Jagen und Diebstählen über die Runden brachte, war er sehr streng.
Es überstieg Sunjas Vorstellungskraft, dass ein Mann wie Koh Hansun einst seine Wäsche selbst gewaschen hatte. Seine Sachen waren so fein und wunderschön genäht. Sie hatte ihn in verschiedenen hellen Anzügen und weißen Schuhen gesehen. Niemand kleidete sich wie er.
Sie wollte etwas sagen.
»Beim Waschen denke ich daran, dass ich es gut machen möchte. Es ist eine der Aufgaben, die ich gern mache, weil die Wäsche hinterher besser ist, als sie vorher war. Es ist nicht wie eine zerbrochene Schüssel, die man wegwerfen muss.«
Er lächelte sie an. »Ich wünsche mir schon seit Langem, dass wir etwas Zeit miteinander verbringen.«
Wieder wollte sie ihn fragen, warum, aber eigentlich war es nicht wichtig.
»Du hast ein gutes Gesicht«, sagte er. »Du siehst ehrlich aus.«
Das sagten die Marktfrauen auch. Sunja konnte nicht gut feilschen, sie versuchte es erst gar nicht. Andererseits hatte sie am Morgen ihrer Mutter nicht gesagt, dass sie sich mit Koh Hansun treffen würde. Auch von den japanischen Studenten, von denen sie belästigt worden war, hatte sie ihr nicht erzählt. Zu Dokhee, die normalerweise mit ihr waschen ging, hatte sie am Abend zuvor gesagt, sie wolle die Wäsche allein machen, und Dokhee war überglücklich gewesen, dass ihr die Arbeit erlassen wurde.
»Hast du einen Liebsten?«, fragte er.
Sie errötete. »Nein.«
Hansu lächelte. »Du bist fast siebzehn. Ich bin vierunddreißig. Ich bin genau doppelt so alt wie du. Ich werde dein älterer Bruder und dein Freund sein. Hansu-Oppa. Würde dir das gefallen?«
Sunja sah in seine schwarzen Augen und dachte, dass sie sich niemals etwas sehnlicher gewünscht hatte, außer damals, als sie sich gewünscht hatte, dass ihr Vater gesund werden möge. Kein Tag verging, an dem sie nicht an ihren Vater dachte oder seine Stimme in ihrem Kopf hörte.
»Wann machst du normalerweise die Wäsche?«
»An jedem dritten Tag.«
»Um diese Zeit?«
Sunja nickte. Sie atmete tief ein, ihre Lungen und ihr Herz füllten sich mit Vorfreude und Staunen. Sie hatte den Strand immer geliebt – die unendliche Ausdehnung des hellgrünen und blauen Wassers und zwischen dem Wasser und dem steinigen Boden die kleinen weißen Kieselsteine, die sich von den schwarzen Felsbrocken abhoben. In der Stille fühlte sie sich sicher und zufrieden. Kaum jemand kam zu diesem Strand, aber jetzt würde sie ihn nie wieder wie früher sehen.
Hansu hob einen glatten, flachen Stein auf, der bei ihrem Fuß lag – schwarz mit grauen Adern. Aus seiner Tasche nahm er ein Stück weißer Kreide, mit der er die Großmarktkisten mit Fischen beschriftete, und er schrieb ein X auf die flache Seite des Steins. Er hockte sich hin und fühlte unter den riesigen Brocken, vor denen sie standen, nach einer Vertiefung; er fand eine in einem Felsen, der so hoch war wie ein Bank.
»Wenn ich herkomme und du nicht hier bist, aber ich muss wieder zur Arbeit gehen, dann lege ich den Stein in diese Kuhle, damit du weißt, dass ich hier war. Wenn du herkommst, und ich bin nicht da, wischst du das X weg und legst den Stein an dieselbe Stelle, und dann weiß ich, dass du hier warst.«
Er klopfte ihr auf den Arm und lächelte.
»Sunja-ya, ich muss jetzt gehen. Wir sehen uns wieder, ja?«
Sie sah ihm nach, und sobald er gegangen war, hockte sie sich hin und fing an, die Wäsche zu waschen. Sie nahm ein schmutziges Hemd und weichte es in dem kühlen Wasser ein. Alles war verändert.
Drei Tage später sah sie ihn wieder. Es war nicht schwierig gewesen, die Schwestern zu überreden, sie allein die Wäsche machen zu lassen. Auch diesmal wartete er bei den Felsen und las die Zeitung. Er trug einen hellen Hut mit einem schwarzen Hutband. Er sah elegant aus. Er verhielt sich so, als wäre es normal, sie bei den Felsen zu treffen; Sunja hingegen hatte große Angst, dass sie entdeckt würden. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie ihrer Mutter nicht von ihm erzählt hatte, auch Bokhee und Dokhee nicht. Sie setzten sich auf die schwarzen Felsen und sprachen bestimmt eine halbe Stunde miteinander, und er stellte ihr seltsame Fragen, wie: »Woran denkst du, wenn es still ist und du nichts zu tun hast?«
Sie hatte immer zu tun. Das Logierhaus machte viel Arbeit, und soweit sie sich erinnerte, hatte Sunja auch ihre Mutter nie untätig gesehen. Nachdem sie ihm gesagt hatte, dass sie immer beschäftigt war, wurde ihr klar, dass das nicht ganz richtig war. Es gab Zeiten, wenn sie arbeitete, aber es kam ihr nicht wie Arbeit vor, weil es etwas war, das sie ohne Nachdenken tun konnte. Sie konnte Kartoffeln schälen oder die Fußböden wischen, ohne zu denken, und in letzter Zeit hatte sie in einer solchen Situation an ihn gedacht, aber das konnte sie doch nicht sagen. Bevor er ging, fragte er, was ihrer Meinung ein guter Freund war, und sie sagte, er sei ein guter Freund, denn er habe ihr geholfen, als sie in Not war. Er lächelte und fuhr ihr übers Haar. Alle paar Tage trafen sie sich in der Bucht, und Sunja erledigte die Wäsche und die Hausarbeit weiterhin gründlich, aber rascher, sodass niemandem zu Hause auffiel, womit sie ihre Zeit am Strand oder auf dem Markt wirklich verbrachte.
Wenn Sunja die Küche verließ, um zum Markt oder zum Strand zu gehen, prüfte sie ihr Spiegelbild in einem glänzenden Topfdeckel und rückte den festen Zopf zurecht, den sie am Morgen geflochten hatte. Sunja wusste nicht, wie man sich für einen Mann schön oder attraktiv machte, schon gar nicht für einen Mann, der so bedeutsam war wie Koh Hansu, und deshalb wollte sie wenigstens sauber und ordentlich sein.
Je öfter sie ihn sah, desto lebendiger wurde er in ihren Gedanken. Seine Geschichten füllten ihren Kopf mit Menschen und Orten, von denen sie bisher nichts gewusst hatte. Er lebte in Osaka, einer großen Hafenstadt in Japan, wo man, so erzählte er, alles bekommen konnte, was man wollte, wenn man das Geld dazu hatte, und wo fast jedes Haus elektrisches Licht hatte und Heizgeräte, die man nur in die Wand zu stöpseln brauchte, um es im Winter warm zu haben. Er sagte, Tokio sei viel lebendiger als Seoul, es gebe dort mehr Menschen und Geschäfte und Restaurants und Theater. Er war in der Mandschurei und in Pjöngjang gewesen. Er beschrieb ihr alle diese Orte und sagte, eines Tages würde sie mit ihm dorthin reisen, aber sie wusste nicht, wie das gehen sollte. Sie widersprach nicht, weil ihr die Vorstellung gefiel, mit ihm zu reisen und mehr Zeit mit ihm zu verbringen als die wenigen Minuten in der Bucht. Von seinen Reisen brachte er ihr hübsche bunte Süßigkeiten und Kekse mit. Er wickelte ein Bonbon aus und steckte es ihr in den Mund, wie eine Mutter, die ihr Kind fütterte. Sie hatte nie solche Köstlichkeiten geschmeckt – harte rosafarbene Bonbons aus Amerika, Butterengel aus England. Sunja achtete darauf, dass sie die Papiere außerhalb des Hauses wegwarf, denn ihre Mutter sollte sie nicht entdecken.
Sie war verzaubert von seinen Geschichten und Erfahrungen, die viel aufregender waren als die Abenteuer der Fischer oder Arbeiter, die von entlegenen Orten kamen, denn in ihrer Freundschaft mit Hansu war etwas gänzlich Neues und Mächtiges. Bevor sie ihm begegnet war, hatte sie niemanden gekannt, dem sie von ihrem Leben erzählen konnte – von den komischen Angewohnheiten der Logiergäste, von den Gesprächen mit den Schwestern, die für ihre Mutter arbeiteten, von ihren Erinnerungen an ihren Vater und Fragen, die sie bewegten. Jetzt hatte sie auch jemanden, den sie nach dem Leben außerhalb von Yeongdo und Busan fragen konnte. Es interessierte Hansu, wie ihre Tage verliefen, er wollte sogar wissen, wovon sie träumte. Manchmal, wenn sie nicht wusste, wie sie mit einer Situation oder einem Menschen zurechtkommen sollte, gab er ihr Rat und machte ausgezeichnete Vorschläge, wie sie ein Problem lösen konnte. Sie sprachen nie von Sunjas Mutter.
Auf dem Markt war es seltsam, ihn bei der Arbeit zu sehen, denn bei ihren Zusammenkünften war er ein anderer – er war ihr Freund, ihr älterer Bruder, der ihr das Bündel Wäsche vom Kopf nahm, wenn sie in die Bucht kam. »Wie anmutig du das trägst«, sagte er und bewunderte, wie kräftig und gerade ihr Hals war. Einmal berührte er ihren Nacken sanft mit seinen beiden breiten Händen, und bei der Berührung erschauderte sie unwillkürlich.
Am liebsten wäre sie immer in seiner Nähe geblieben. Mit wem sprach er noch, wem stellte er Fragen? Was machte er am Abend, wenn sie zu Hause war und den Logiergästen das Essen servierte oder den niedrigen Esstisch reinigte oder neben ihrer Mutter schlief? Ihr schien es unmöglich, ihn das zu fragen, und so behielt sie die Fragen für sich.
Drei Monate lang trafen sie sich auf diese Weise und gewöhnten sich allmählich aneinander. Als der Herbst kam, war es am Meer kalt und windig, aber Sunja bemerkte die kühle Luft kaum.
Anfang September regnete es fünf Tage hintereinander, und als der Regen aufhörte, bat Yangjin ihre Tochter, im Taejongdae-Wald nach Pilzen zu suchen. Sunja ging gern in die Pilze, und als sie Hansu das nächste Mal am Strand traf, war sie ganz aufgeregt, weil sie ihm sagen konnte, dass ihr eine besondere Aufgabe übertragen worden war. Er reiste viel und sah oft Neues, aber dies war das erste Mal, dass ihre Routine unterbrochen wurde.
In ihrer Aufregung platzte sie gleich mit ihrem Vorhaben heraus, dass sie am nächsten Tag nach dem Frühstück zum Pilzesuchen in den Wald gehen würde, und Hansu sagte einen Moment lang nichts und sah sie nachdenklich an.
»Dein Hansu-Oppa ist bei der Suche nach Pilzen und Wurzeln recht geschickt. Ich kenne mich mit Pilzen aus und kann die essbaren von den giftigen unterscheiden. Als Junge habe ich viele Stunden nach Wurzeln und Pilzen gesucht. Im Frühling habe ich Adlerfarn gesammelt und getrocknet. Oft habe ich in einer Schlinge Kaninchen für unser Abendessen gefangen, und einmal, in der Dämmerung, ein Paar Fasane – es war das erste Mal seit Langem, dass wir Fleisch auf dem Tisch hatten. Mein Vater hat sich so gefreut.« Sein Gesicht war weich geworden.
»Wir können zusammen gehen. Wie viel Zeit hast du zum Pilzesuchen?«, fragte er.
»Möchtest du mitkommen?«
Zweimal in der Woche eine halbe Stunde mit ihm am Strand zu sprechen, war das eine, aber sie konnte sich nicht vorstellen, den ganzen Tag mit ihm zu verbringen. Was wäre, wenn sie zusammen gesehen würden? Sunja spürte, wie ihre Wangen heiß wurden.
»Wir treffen uns hier. Jetzt muss ich zum Markt zurück.« Diesmal lächelte Hansu anders als sonst, als wäre er ein Junge und voller Vorfreude. »Wir werden massenhaft Pilze finden, das weiß ich schon.«
Sie gingen am Rand der Insel entlang, wo niemand sie zusammen sehen würde. Die Küste zeigte sich so prächtig wie nie zuvor. Als sie sich dem Wald auf der anderen Seite der Insel näherten, schienen die riesigen Kiefern und Ahornbäume und Tannen sie zu begrüßen und sahen in ihrem Gold und Rot aus, als trügen sie Festkleider. Hansu erzählte Sunja vom Leben in Osaka. Man sollte die Japaner nicht verteufeln, sagte er. Zwar würden sie zurzeit die Koreaner unterdrücken, und natürlich wollte niemand auf der Verliererseite stehen. Aber er glaubte, wenn die Koreaner aufhörten, untereinander zu streiten, könnten sie Japan erobern und den Japanern noch viel schlimmere Dinge antun.
»Wo man auch ist, die Menschen sind verdorben. Sie taugen nichts. Möchtest du einen wirklich schlechten Menschen sehen? Lass einen gewöhnlichen Mann zu ungeheurem Reichtum kommen, dann wollen wir mal sehen, wie gut er ist, wenn er tun und lassen kann, was er will.«
Sunja nickte und versuchte, sich jedes Wort zu merken, sie wollte sich sein Bild einprägen und das festhalten, was er sagte. Sie bewahrte seine Geschichten auf wie früher die Glasscherben vom Strand und die rosafarbigen Steine, die sie als Kind gesammelt hatte – seine Worte versetzten sie in Staunen, es war, als nehme er sie bei der Hand und zeigte ihr Neues und Unvergessliches.
Natürlich gab es viele Themen und Ideen, von denen sie nichts verstand, und manchmal war es sehr schwer, alles aufzunehmen, ohne die Erfahrung gemacht zu haben. Aber sie stopfte es in ihren Kopf, so wie sie vielleicht einen Schweinedarm füllen würde, um Blutwurst zu machen. Sie gab sich große Mühe, alles zu verstehen, denn sie wollte nicht, dass er sie für ungebildet hielt. Sunja konnte weder Koreanisch noch Japanisch lesen. Ihr Vater hatte ihr Addition und Subtraktion beigebracht, damit sie Geld zählen konnte, aber das war schon alles. Weder sie noch ihre Mutter konnten ihre Namen schreiben.
Hansu hatte ein großes Tuch mitgebracht, für die Pilze, die er sammeln würde. Angesichts seiner unverhohlenen Freude über den Ausflug wurde Sunja ruhiger, trotzdem hatte sie Angst, dass man sie zusammen sehen könnte. Niemand wusste von ihrer Freundschaft. Männer und Frauen konnten nicht Freunde sein, und sie waren auch kein Liebespaar. Er hatte nie vom Heiraten gesprochen, und wenn er sie heiraten wollte, müsste er mit ihrer Mutter sprechen, aber das hatte er nicht getan. Seit er sie drei Monate zuvor gefragt hatte, ob sie einen Liebsten habe, war er nie wieder auf dieses Thema gekommen. Sie versuchte, nicht daran zu denken, wie sein Leben mit anderen Frauen war. Er hätte keine Mühe, ein Mädchen zu finden, und sein Interesse an ihr leuchtete ihr nicht richtig ein.
Der lange Weg zum Wald erschien ihr kurz, und dort, zwischen den Bäumen, waren sie noch abgeschiedener als in der Bucht; statt der Weite der niedrigen Felsen und des offenen blaugrünen Meeres waren hier hohe Bäume über ihnen, und es war, als würden sie das dunkle Laubhaus eines Riesen betreten. Sie hörte Vogelstimmen und hob den Blick, um zu sehen, welche Vögel es waren. Sie sah Hansus Gesicht, Tränen standen in seinen Augen.
»Oppa, was ist mit dir?«
Er schüttelte den Kopf. Auf dem ganzen Weg hatte er vom Reisen und von der Arbeit gesprochen, aber beim Anblick des bunten Laubs und der knorrigen Baumstämme verstummte er. Er legte ihr seine Hand auf den Rücken und berührte dabei ihren Zopf, dann nahm er seine Hand sorgsam fort.
Seit seiner Kindheit war Hansu nicht mehr in einem Wald gewesen – seit der Zeit, bevor er ein hartgesottener Jugendlicher wurde, der mit den schlauesten Straßenjungen in Osaka Geschäfte machte und Diebstähle beging. Davor waren die bewaldeten Berge von Jeju sein Schutzraum gewesen, und auf dem Vulkan Halla-san hatte er jeden Baum gekannt. Er musste an die kleinen Rehe denken, ihre schlanken Beine und zierlichen, tänzelnden Schritte. Der schwere Geruch von Orangenblüten kam ihm wieder in den Sinn, obwohl es dergleichen in Yeongdo nicht gab.
»Lass uns weitergehen«, sagte er und ging voraus; Sunja folgte ihm. Nach weniger als einem Dutzend Schritte blieb er stehen und zog sanft einen Pilz aus dem Boden. »Unser erster.« Er hatte aufgehört zu weinen.
Er hatte sie nicht belogen. Hansu war ein ausgezeichneter Pilzesucher und fand außerdem viele essbare Pflanzen und konnte sogar erklären, wie man sie zubereitete.
»Wenn man Hunger hat, lernt man, was man essen kann und was nicht.« Er lachte. »Ich habe nicht gern Hunger. Wo ist deine Stelle? In welche Richtung?«
»Es ist nicht weit von hier – nach schweren Regenfällen hat meine Mutter sie da gesammelt, als sie ein Kind war. Sie ist von dieser Seite der Insel.«
»Dein Korb ist nicht groß genug. Du hättest zwei bringen sollen, und du hättest noch reichlich für den Winter zum Trocknen gehabt! Vielleicht musst du morgen noch einmal herkommen.«
Sunja lächelte. »Aber Oppa, du hast die Stelle gar nicht gesehen.«
Als sie zu der Stelle kamen, wo ihre Mutter früher Pilze gepflückt hatte, war der Boden über und über mit den braunen Pilzen bedeckt, die ihr Vater so gern gegessen hatte.
Hansu lachte und war außer sich vor Freude. »Habe ich es dir nicht gesagt? Wir hätten Kochgerät mitbringen sollen. Nächstes Mal können wir hier zu Mittag essen. Das ist ein Geschenk!« Er fing unverzüglich an, die Pilze zu pflücken und in den Korb zu werfen, der zwischen ihnen stand. Als der Korb voll war, legte er welche in sein Tuch, und als sie sich darin häuften, band Sunja sich die Schürze ab und sammelte noch mehr Pilze.
»Ich weiß nicht, wie ich die alle tragen soll«, sagte sie. »Ich bin so gierig.«
»Du bist nicht gierig genug.«
Hansu kam näher zu ihr. Sie konnte seine Seife riechen und das Wintergrün von seinem Haarwachs. Er war sauber rasiert und attraktiv. Ihr gefiel seine helle Kleidung. Warum spielte das eine Rolle? Die Männer zu Hause konnten nichts dafür, dass sie schmutzig waren. Ihre Sachen wurden bei der Arbeit schmutzig, und wie sehr man auch schrubbte, der Fischgeruch blieb in den Hosen und Hemden hängen. Ihr Vater hatte ihr beigebracht, Menschen nicht nach solch oberflächlichen Gesichtspunkten zu beurteilen. Was ein Mann trug, hatte nichts mit seinem Herzen und Wesen zu tun. Sie atmete tief ein, und sein Geruch vermischte sich mit der reinen Luft des Waldes.
Hansu ließ seine Hand unter ihre kurze traditionelle Bluse gleiten, und Sunja hinderte ihn nicht. Er löste das lange Band, das die Bluse zusammenhielt, und wickelte sie auf. Sunja fing leise an zu weinen, und er zog sie zu sich und murmelte sanft und beschwichtigend, und sie erlaubte ihm, sie zu trösten, während er das tat, was er wollte. Sanft legte er sie auf den Waldboden.
»Oppa ist hier. Es ist alles gut. Alles ist gut.«
Er hatte seine Hände unter ihren Po geschoben und versuchte, sie vor den Zweigen und Blättern zu schützen, trotzdem bekamen ihre Beine rote Striemen. Als er sich von ihr erhob, wischte er das Blut mit seinem Taschentuch fort.
»Du hast einen hübschen Körper. Voller Saft, wie eine reife Frucht.«
Sunja konnte nicht sprechen. Sie hatte ihn wie ein Baby gesäugt. Während er sich in ihr bewegte und das tat, was sie bei Schweinen und Pferden gesehen hatte, war sie benommen von dem scharfen, hellen Schmerz und dankbar, als er nachließ.
Als sie sich von dem Teppich gelber und roter Blätter erhoben, half er ihr, ihre Wäsche zu ordnen, und zog sie wieder an.
»Du bist mein liebes Mädchen.«
Das sagte er auch, als sie es das nächste Mal taten.