7 Ein zentrales Charakteristikum der Alpen ist der kleinräumige Wechsel von zwar steilen, aber nutzungsgeeigneten Hängen und nutzungsfeindlichen Fels- und Gletschergebieten, so wie hier im Bereich des Mühlbach- und des Kapruner Tales (Glocknergruppe in den Hohen Tauern). Die höchsten Berge sind von links nach rechts der Hohe Tenn, 3368 m, das Wiesbachhorn, 3564 m, das Kitzsteinhorn, 3203 m (mit Seilbahn erschlossen), und die Klockerin, 3425 m (November 2006).
Wenn das Wort „Alpen“ fällt, entstehen bei allen Menschen in Europa sofort bestimmte Bilder im Kopf. Diese Bilder werden automatisch für mehr oder weniger realitätsnah angesehen, denn Bilder lügen ja nicht. Aber so einfach ist es nicht.
Betrachtet man mit etwas Abstand die Bilder, die von den Alpen in den letzten 400 Jahren gemacht wurden, dann stellt man schnell fest, dass sie sich sehr stark voneinander unterscheiden: In den einzelnen Epochen werden nicht nur sehr unterschiedliche Motive bevorzugt, sondern diese sind auch mit einer sehr unterschiedlichen Wahrnehmung dessen, was die Alpen eigentlich sind, verbunden. Deshalb bilden Alpenbilder keineswegs „die“ Realität der Alpen ab, sondern sie sind Ausdruck von ganz bestimmten, zeitgebundenen Wahrnehmungen der Alpen.
Etwas vereinfachend kann man in der europäischen Geschichte drei große Alpenbilder voneinander unterscheiden: Die schrecklich-bedrohlichen Alpen (Motiv: sehr steile Felswände/Gipfel mit sehr kleinen Menschen), die schrecklich-schönen Alpen (vorn ländliche Idylle, hinten Felsen/Eismassen) und die Alpen als Freizeitpark (im Zentrum ein Sportler in wagemutiger Aktion, im Hintergrund Berge). Diese drei Alpenbilder werden in den drei Abschnitten dieses Kapitels näher vorgestellt.
1. Das älteste Alpenbild wird bereits in der Zeit des Römischen Reiches entwickelt und nimmt die Alpen als „montes horribiles“, als schreckliche, bedrohliche und furchterregende Berge wahr, in denen Menschen eher wie Tiere, also ohne Kultur leben.
Dieses Bild wird immer wieder erneuert, und es prägt die europäische Wahrnehmung der Alpen bis weit ins 18. Jahrhundert hinein.
2. Dann ändert es sich fundamental: Im Rahmen von Aufklärung, Aufblühen von Naturwissenschaft, Technik und Industrieller Revolution verliert die Gesellschaft ihre Angst vor der Natur. Damit werden aus den schrecklichen die schrecklich-schönen Berge: Sie lösen Nervenkitzel, Spannung und sportliche Herausforderung, aber keine wirkliche Gefahr mehr aus. Und die Bewohner der Alpen werden als „glückliche Wilde“ gesehen, die ihr einfaches Leben auf idyllische Weise im Einklang mit der Natur leben. Damit können die Alpen zum ersten Mal in der menschlichen Geschichte als „schöne Landschaft“ ästhetisch genossen werden, und dies ist die mentale Voraussetzung für den Tourismus, der wenig später entsteht.
Beide Alpenbilder sehen den Menschen als total abhängig von Natur; der Unterschied besteht nur darin, dass diese Abhängigkeit zuerst negativ (Bedrohung), dann positiv (Idylle) gesehen wird.
3. Diese Sichtweise ändert sich erst mit dem Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft: An die Stelle der zu bestaunenden schönen Alpen tritt ihre direkte, unmittelbare Nutzung zur Erzeugung von außergewöhnlichen körperlichen Sensationen, wie sie beim Alpinskilauf, Mountainbiking oder anderen Aktivsportarten auftreten. Hierbei stehen die eigenen Körperempfindungen im Mittelpunkt, und die Landschaft wird zur Kulisse – die Alpen werden zum Sportgerät und Freizeitpark. Damit steht der Mensch jetzt erstmals über den Alpen und kann sie grenzenlos für seine Freizeitzwecke verändern und nutzen.
Diese drei Alpenbilder sind heute oft gleichzeitig anzutreffen und prägen auch unsere ganz persönlichen Alpenwahrnehmungen mehr oder weniger stark. Damit sind zentrale Bewertungen dessen, was „die Alpen“ sind oder was sie sein sollen, verbunden – sind sie unkontrollierbare Wildnis oder harmonische Idylle oder grenzenlos nutzbarer Freizeitpark? Ohne diese normativen Grundlagen anzusprechen, die in diesen Alpenbildern enthalten sind, kann man nicht über die Alpen sprechen. Deshalb steht diese Thematik ganz bewusst am Beginn dieses Buches.
Der Leser und Betrachter wird deshalb eingeladen, sich an dieser Stelle und bei den folgenden Kapiteln immer wieder zu fragen, mit welchem Alpenbild im Hinterkopf er diese Bilder und Texte wahrnimmt und bewertet. Damit ist keineswegs die Absicht verbunden, die vertrauten Bilder zu zerstören, sondern das Bewusstwerden der damit verbundenen Werte und Normen bereichert das Erleben der Alpen und erleichtert die zahlreichen, wichtigen Diskussionen um ihre Zukunft.
8 Auch hier stehen sich nutzungsfeindliche und nutzungsgeeignete Gebiete auf kleinräumige Weise gegenüber: Der breite, gletscherbedeckte Gipfel des Wildstrubels, 3243 m (Berner Alpen), und die weichen Hänge des Saanenlandes (September 2006). Diese Situation wird in den drei klassischen Alpenbildern jeweils sehr unterschiedlich wahrgenommen und bewertet.
9 Blick vom Monte Matto, 3088 m, in die zentralen Seealpen bei hochsommerlicher Quellbewölkung; ein plötzliches Sommergewitter ist hier jederzeit möglich (August 1983).
Die Alpen sind – mit Ausnahme der kleinen Pyrenäen – das einzige Hochgebirge in Europa, und vergleichbare Gebirge gibt es nur noch an den äußersten Peripherien Europas (Kaukasus, Nordskandinavien, Island). Gleichzeitig liegen die Alpen im Zentrum Europas mitten zwischen fruchtbaren und sehr früh besiedelten Regionen, deren Bewohner die fernen und irreal erscheinenden schnee- und eisbedeckten Berge fast täglich vor Augen haben. Deswegen spielt diese fremde Landschaft in der europäischen Kulturgeschichte schon früh eine herausgehobene Rolle.
Die Alpen wirken mit ihrem steilen Relief und der langen Dauer der Schneedecke auf die Bewohner des Umlandes spontan feindlich und bedrohlich. Römische Schriftsteller entwickeln daraus dann kurz nach Christi Geburt in Städten der Po-Ebene das Bild der Alpen als „montes horribiles“, der schrecklichen Berge, und machen daraus einen literarischen Topos, der ganz Europa bis ins 18. Jahrhundert prägt.
Dieses Bild ist zwar heute Vergangenheit, aber es ist noch so stark im kollektiven Bewusstsein verankert, dass es schnell aktualisiert werden kann. Jeder Bergsteiger kennt das Gefühl, das sich bei einem plötzlichen Wetterumschwung im Hochgebirge einstellt: Gerade eben genoss man noch die schöne Landschaft im Sonnenschein, dann aber zieht sich der Himmel schnell zu, es beginnt zu graupeln und zu schneien, Wege, Wiesen und Felsen werden glatt und rutschig – und auf einmal wirkt die Landschaft, die eben noch so schön war, nur noch bedrohlich, feindlich und hässlich. Und mit der Angst sind die „montes horribiles“ sofort wieder präsent.
Das von den Römern entworfene Alpenbild geht davon aus, dass die Alpen überall nutzungsfeindlich und gefährlich seien. Die dort lebenden Menschen gelten als „Barbaren“, die eher wie Tiere als wie Menschen lebten und denen das fehle, worauf die Römer so stolz sind, nämlich eine „Kultur“ im Sinne einer städtisch geprägten Hochkultur.
10 Stich von Johann Melchior Süßlinus aus dem Jahr 1716, der die schrecklichen Alpen zeigt. Im Vordergrund sind bereits erste Hinweise auf die beginnende wissenschaftliche Analyse der Alpen zu sehen.
11 Stich von David Herrliberger „Schnee-Lauwen … wie sich dieselbigen ab gächstotzigen Gebirgen fast senkrecht herunterstürzen“ aus dem Jahr 1756.
Das Bild der Alpen als „montes horribiles“ ist bereits zur Zeit seiner Entstehung ein Zerrbild: Die Alpen sind schon damals seit 5000 Jahren dauerhaft besiedelt, und die Alpenbewohner haben mit großen kulturellen Leistungen und viel Arbeit die Alpen von einer Naturlandschaft zu einem Lebens- und Wirtschaftsraum umgewandelt, von dem die römischen Städte regelmäßig eine Reihe von Lebensmitteln beziehen. Und die neuen Römerstraßen machen eine Durchquerung sogar relativ einfach und gefahrlos.
Das Bild der schrecklichen Alpen ist also keineswegs realitätsnah, sondern es überzeichnet einen Aspekt der Alpennatur und gibt ihm eine absolute Bedeutung. Bild 11 zeigt dies sehr anschaulich: Die Darstellung einer Lawine als große Kugel, die von einer senkrechten Felswand direkt von oben auf ein kleines Dorf herabfällt und in der noch Bäume, Gebäude sowie eine Gämse stecken, ist ein beliebtes und oft wiederholtes Motiv, um die Schrecklichkeit der Alpen zu illustrieren. Aber jeder, der die Alpen nur etwas kennt, weiß, dass Lawinen keine Kugeln sind und erst recht nicht über senkrechte Felswände herabfallen. Das heißt nichts anderes, als dass solche Illustrationen in Städten außerhalb der Alpen entstehen und dass die Zeichner die Verhältnisse in den Alpen nicht kennen: Das Bild der Alpen im Kopf ist stärker als die Realität.
So ist es kein Zufall, dass diese Darstellung der Lawine als Kugel heute noch verwendet wird, nämlich in Comic-Zeichnungen oder Karikaturen. Der erste Eindruck vieler Kinder in Europa von den Alpen wird stark durch solche Bilder geprägt.
12 Das Gestein der zentralen Seealpen – hier der Colletto di Valscura, 2520 m, zwischen Gesso- und Stura-Tal – besteht aus sehr langsam verwitternden Gneisen und Graniten mit geringer Bodenbildung, sodass der Ödlandanteil hier sehr hoch ist. Eine solche Landschaft wirkt – besonders bei schlechtem Wetter – abweisend und wenig „schön“. Daran ändert auch der Lago Malinvern, 2122 m, im Vordergrund wenig, weil an seinen Ufern alle einladenden Elemente fehlen. Auf diese Weise erhält auch ein Idealtopos der Idylle wie der Bergsee einen strengen Charakter (August 1999).
Indem die vorindustriellen Gesellschaften in Europa ihre Angst vor der Natur aus ihrem eigenen Alltag verdrängen und sie auf die fernen Alpen projizieren, versuchen sie sie in den Griff zu bekommen. Insofern sind die „schrecklichen Alpen“ weniger eine Beschreibung der Alpen als vielmehr der Ausdruck der Angst der europäischen Gesellschaften vor der tagtäglichen Bedrohung durch die Natur. Da man diese Angst aber nicht bewältigen kann, wenn man sie bei sich selbst verleugnet und auf etwas Anderes, Fremdes überträgt, stellen die „montes horribiles“ zugleich das Symbol des Scheiterns dieser Angstbewältigung dar.
Der Wandel von den schrecklichen zu den schönen Alpen lässt dann anschaulich sichtbar werden, wie die neu entstehende Industriegesellschaft mit dieser Angst umgeht: Die Natur stellt für sie keine wirkliche Gefahr, sondern nur noch eine spielerische oder sportliche Herausforderung dar. Damit glaubt die Industriegesellschaft, dass sie Natur technisch vollständig im Griff habe. Dennoch bleibt noch die Erinnerung an die frühere Gefahr im „Hintergrund“ erhalten, und diese verschwindet erst beim Übergang zur Dienstleistungsgesellschaft endgültig.
13 und 14 Zwei Bilder von Mathias Gabriel Lory, dem Sohn (1784–1846), die auf idealtypische Weise die schönen Alpen zeigen: Links Eiger, Mönch und Jungfrau von der Mettlenalp aus, rechts der Staubbachfall mit Lauterbrunnen.
Die Wahrnehmung der Alpen als „schöner Landschaft“ ist für uns heute so selbstverständlich, dass wir sie mit „den Alpen“ identifizieren – die Alpen selbst sind doch schön! – und dass wir gar nicht mehr wahrnehmen, dass es sich dabei um eine Sichtweise handelt, die erst zwischen 1760 und 1780 entwickelt wird. Zuvor galten viele Jahrhunderte lang nur fruchtbare und ertragreiche Ackerfluren oder parkartige Weidelandschaften als schön, und nur solche Motive wurden von Künstlern abgebildet. Jetzt aber geraten diese Motive schnell in Vergessenheit, und Bilder aus den Alpen treten auf einmal an ihre Stelle. Was ist passiert?
Sehen wir uns zwei zeitgenössische Darstellungen an: Im Vordergrund befindet sich jeweils ein flacherer, sanfterer Landschaftsteil, der landwirtschaftlich genutzt und menschlich geprägt ist, im Hintergrund dagegen eine steile, abweisende Felswand und eisbedeckte, unzugängliche Gipfel.
Diese Bildkomposition lebt von dem starken Motivkontrast zwischen einem idyllischen menschlichen Lebensraum im Vordergrund, der behaglich und einladend wirkt, und einem menschenfeindlichen, bedrohlichen Hintergrund, der Angst und Schrecken hervorruft – diese Spannung elektrisiert die damaligen Betrachter und spricht sie unmittelbar an. Würden die bedrohlichen Berge im Hintergrund fehlen, wäre der idyllische Vordergrund allein langweilig, nichtssagend und ausdruckslos.
Seit der Industriellen Revolution haben die Menschen ihre frühere Angst vor der Natur verloren. Die bedrohlichen Berge rufen jetzt keine echte Angst mehr hervor (Abstoßung), sondern nur noch einen aufregenden Nervenkitzel (Anziehung), und dieser würde fehlen, wenn ein Bild nur einladende Nutzflächen und schöne Häuser zeigen würde.
Das Aufregende an der neuen Bildkomposition ist also die radikale Gegenüberstellung von menschlicher Idylle und bedrohlicher Natur. Solche Bilder sprechen die damaligen Betrachter – nicht die Alpenbewohner, sondern die Bürger aus den stark wachsenden Industriestädten – emotional stark an, weil sie eine Sehnsucht ausdrücken: Diese Bilder zeigen, dass der Mensch in einer so feindlichen Umgebung wie den Alpen glücklich leben kann, wenn er sich der Natur einpasst und sich ihr unterordnet.
Das Erstaunliche an diesem Alpenbild ist, dass die Gegenwart, aus der heraus es entsteht, darin gar nicht vorkommt: Die beginnende Industriegesellschaft verbraucht und zerstört im Alltag Natur und Landschaft im großen Stil, und erfreut sich am Sonntag bzw. im Urlaub an einer Mensch-Natur-Harmonie, die ihrer Alltagspraxis vollständig widerspricht und die sich auch räumlich getrennt davon abspielt: Industriegebiete sind nie schön. Dieser Widerspruch macht dann Sinn, wenn am Sonntag und im Urlaub der naturzerstörerische Alltag durch die Bewunderung der schönen Landschaft (einschließlich der Menschen, die sich der Natur unterordnen) vergessen gemacht, ausgeglichen oder „kompensiert“ werden soll: Dann wird das Unbehagen an der Naturzerstörung, das den gesamten Alltag durchzieht, durch die große Bewunderung der Natur am Sonntag unterdrückt und vergessen gemacht, und man kann sich am Montag früh wieder mit frischen Kräften seinen Alltagsaufgaben zuwenden. Es liegt auf der Hand, dass diese Sichtweise der Alpen ein Zerrbild ist, was mit ihrer Realität wenig zu tun hat.
Heute wird immer wieder argumentiert, dass diese Bewunderung der Alpen doch eigentlich – verglichen mit der aktuellen Zerstörung der Alpen als Freizeitpark – positiv sei und wieder gestärkt werden müsse. Dies ist jedoch schwierig, weil die klassische Bewunderung der Alpen ganz eng mit der Perspektive verbunden ist, dass sich der Mensch den Alpen unterordnen müsse. Die Geschichte der Alpen zeigt jedoch, dass diese Sichtweise zu einfach ist: In vollem Respekt vor der Natur haben die Menschen die Alpen früher für ihre Zwecke tiefgreifend ökologisch verändert, ohne sie zu zerstören. Dies ist keine Unterordnung unter Natur, aber andererseits auch keine Herrschaft über Natur (so die beiden Denkfiguren, die uns heute so alternativlos erscheinen), sondern ein dritter Weg im Umgang mit Natur, der aber meist nicht wahrgenommen wird.
15 Es ist heute noch möglich, die Alpen auf die klassische Weise als schöne Landschaft zu fotografieren, wie dieses Bild des Ortes Gsteig im Berner Oberland zeigt. Im Hintergrund links das Oldenhorn, 3123 m, rechts dahinter der Gipfel Sex Rouge, 2971 m, der mit einer Seilbahn erschlossen ist (September 2006).
Wie wenig selbstverständlich die Sichtweise der Alpen als schöner Landschaft ist, zeigt sich an den Reaktionen der Einheimischen: Für sie ist das Tun der ersten Touristen und Alpinisten, die sich für Felswände, Gipfel und Gletscher interessieren, völlig absurd und verrückt, denn in diesen Gebieten gibt es nichts Nützliches zu finden oder zu holen. Für die Einheimischen sind weiterhin nur diejenigen Stellen in den Alpen „schön“, die zur Lebensmittelproduktion besonders gut geeignet sind, wie man an zahlreichen Orts- und Flurnamen wie Schönbühel, Schönberg, Schönau oder Schönwies feststellen kann. Der neue Inhalt von „schön“, der erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aufkommt und der vom Gegensatz Idylle-Bedrohung lebt, macht für die Bewohner der Alpen keinen Sinn, weil ihnen die damit verbundenen Erfahrungen (Industrielle Revolution und Verlust der Angst vor Natur) fehlen. Ihr Respekt vor der Natur führt nicht zur Unterwerfung, sondern zur vorsichtigen Umgestaltung der Alpen und zum Leben mit den damit verbundenen Gefahren. Bild 16 zeigt ein Dorf, das stets von Felsstürzen und Lawinen bedroht ist, das aber gelernt hat, mit dieser Bedrohung umzugehen, indem die Häuser im Laufe der Zeit an solchen Stellen errichtet wurden, die einigermaßen sicher sind. Während es für Städter nur die Alternative gibt, die Bedrohung technisch zu beseitigen oder sich ihr fatalistisch unterzuordnen, zeigen die Bergbewohner eine dritte Möglichkeit im Umgang mit Gefahren auf (siehe dazu Kapitel 3).
Am Anfang wird die Bildkomposition der schönen Alpen in Form von zahllosen Gemälden, Stichen und Veduten umgesetzt. Mit Aufkommen des neuen Mediums Fotografie orientieren sich dann auch die Fotografen daran, und ab Ende des 19. Jahrhunderts entstehen sehr viele Fotos nach diesem Muster. Ganz besonders häufig wird es bei Postkarten, Foto-Kalendern und Bildbänden verwendet und millionenfach reproduziert. Wegen dieser unendlichen Wiederholungen wirkt das „klassische“ Alpenbild heute leicht als ein ärgerliches Klischeebild oder gar als unerträglicher Kitsch, wenn man es auf besonders gewollte oder extreme Weise umsetzt (Alpenglühen im Hintergrund, Sennerin in Tracht im Vordergrund). Deshalb versuchen seit einiger Zeit verschiedene Fotografen, die Alpen ganz bewusst anders zu fotografieren (ohne Sonne, kein typischer Vorder-/Hintergrund-Bildaufbau).
16 Der Ort Sambuco, 1135 m, im Stura-Tal mit dem Kalkfelsen des Monte Bersaio, 2386 m, in den südlichen Cottischen Alpen. Ganz unten rechts ist ein romanischer Kirchturm zu sehen, dessen Kirchenschiff (das links bis ins freie Feld hineinragte) fehlt, weil es durch einen Felssturz zerstört wurde. Die Kirche wurde im 17. Jahrhundert weiter oben auf einem Felssporn über dem Bach (genau über dem alten Kirchturm) in sichererer Position neu errichtet. Die traditionelle Lage der Häuser spiegelt die Erfahrungen im Umgang mit den vom Monte Bersaio abgehenden Felsstürzen und Lawinen wider. Die Gebäude in der Bildmitte stammen erst aus dem 20. Jahrhundert (September 2003).
17 Auch dieses Bild (Tesina-Seitental in den zentralen Seealpen in 1950 m Höhe) folgt dem klassischen Bildauftau (Juni 2013).
Die wenig selbstverständlich dieser Blick auf die Alpen ist, zeigt sich daran, dass diese Bildkomposition zuerst in der Landschaftsmalerei ab dem 16. Jahrhundert entwickelt und erst später, ab dem 18. Jahrhundert allmählich auf die realen Alpen übertragen wurde. Deshalb spricht man noch heute davon, dass eine besonders schöne Landschaft „wie gemalt“ aussieht: Das Vorbild für Schönheit ist nicht die Natur, sondern die Malerei, ein ästhetisches Kompositionsprinzip!
Damit die Alpen als schöne Landschaft – mit dem genannten Gegensatz zwischen Vorder- und Hintergrund – wahrgenommen werden können, muss man gezielt Punkte in der Landschaft suchen, die genau diese Perspektive ermöglichen. Diese sind in den Alpen selten, denn in den meisten Fällen verhindert das steile Relief, dass man vom Tal aus besonders weit sehen kann, und von vielen Gipfeln sieht man nur Schutt, Geröll und andere Gipfel, aber keine Tallagen mit Dörfern oder Einzelhöfen.
Damit ein Bild mit einem freundlichen Vorder- und einem abweisenden Hintergrund entsteht, braucht es entweder einen leicht erhöhten Standpunkt im Talraum, der zugleich den Blick auf die hohen Berge hinter der Kulturlandschaft frei gibt, oder einen nicht sehr hohen Aussichtsgipfel, der den vollen Blick ins Tal und auf die dahinter liegenden Berge ermöglicht. Da solche Stellen in den Alpen selten sind, müssen sie gezielt gesucht werden, und die Aufgabe der Pioniere der Alpenerschließung besteht darin, solche Stellen zu finden, sie in Reiseführern zu beschreiben und damit anderen Alpenbesuchern zugänglich zu machen. Das Buch von Heinrich Zschokke „Die klassischen Stellen der Schweiz“ aus dem Jahr 1836 ist eines von vielen, die dieses Ziel verfolgen. Ab 1870 werden viele dieser Aussichtspunkte mit bequemen Promenadenwegen oder mit Bergbahnen erschlossen.
Solche Aussichtspunkte liegen oft in einem Trogtal mit steilen Talflanken zu beiden Seiten, über die man nicht hinwegsehen kann, weshalb die Landschaft relativ langweilig wirkt. Nur an einer ganz bestimmten Stelle, oft dort, wo ein Seitental einmündet, weitet sich plötzlich der Blick, und es entsteht ein gestaffeltes Panorama wie bei einem Gemälde: vorn eine einladende Kulturlandschaft mit Bauernhof, Heustadel und Wiesen und hinten eine steile, abweisende Fels- und Gletscherlandschaft.
Viele Alpenbesucher dürften sich gefragt haben, warum sie die Alpen an vielen Stellen als langweilig erleben, obwohl sie doch „eigentlich“ so schön sein sollten. Die Erklärung ist einfach: Die Alpen sind keineswegs von Natur aus schön, sondern diese Wahrnehmung gründet auf einer ganz bestimmten ästhetischen Bildkomposition, die nur an wenigen ausgewählten Punkten in der Landschaft zu finden ist. Im Normalfall zeigen sich die Alpen jedoch nicht als eine schöne Landschaft.
18 Dieses Bild, das ganz in der Nähe eines klassischen Standpunktes aus dem 18. Jahrhundert gemacht wurde (Lauterbrunnental/Berner Oberland), reproduziert die typische Sicht auf die Alpen mit einem freundlichen Vorder- und einem bedrohlichen Hintergrund (Oktober 2017).
19 Das nördliche Gasteiner Tal in den Hohen Tauern mit dem von Skiabfahrten geprägten Fulseck, 2035 m, und Dorfgastein, 830 m (September 2012) – so wie hier sehen die Alpen meistens aus, und ihnen fehlt die „atemberaubende Schönheit“, die nur an wenigen Punkten möglich ist.
20 Weil die Natur der Alpen und der Ausblick auf die Berge heute nicht mehr attraktiv genug sind, werden seit etwa 15 Jahren technische Attraktionen im Gebirge entwickelt, deren Vorbilder aus großstädtischen Freizeitparks stammen. Hier ein „Coaster“, eine Art Achterbahn, in Lienz (Osttirol)(März 2017).
Mit dem Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft, der in den 1970er Jahren stattfindet, verändern sich Wirtschaft, Gesellschaft, persönliche Verhaltensweisen und Umwelt in Europa tiefgreifend. Und damit verändert sich auch das Alpenbild noch einmal fundamental: Die Alpen werden jetzt nicht mehr als schöne Landschaft bewundert, sondern sie werden als Sportgerät, Spaßarena, Eventraum und Freizeitpark unmittelbar und ganz direkt genutzt, um außergewöhnliche Freizeiterlebnisse zu produzieren.
Das „typische“ Alpenbild zeigt daher in dieser Zeit eine Massenparty im Hochgebirge oder einen Sportler in voller, wagemutiger Aktion, wobei im Hintergrund noch einige Gipfel und Bergketten zu sehen sind, die aber nur noch eine untergeordnete Rolle spielen.
In dieser Zeit werden die Tourismuszentren der Alpen zu riesigen Tourismus-Ghettos ausgebaut. Diese werden vom Gipfel- bis in den Talbereich in künstliche Freizeitwelten verwandelt, die ein totales Konsumerlebnis ermöglichen, die aber mit den Alpen eigentlich nichts mehr zu tun haben.
Außerhalb dieser Freizeitwelten werden die Alpen dagegen – im Unterschied zu einer Natur, die fast überall in Europa vom Menschen dominiert wird – als Wildnis wahrgenommen, obwohl sie das gar nicht sind, wie Kapitel 3 zeigen wird.
21 Die Alpen werden jetzt technisch so hergerichtet, dass man auch in Jahreszeiten Ski fahren kann, in denen es von der Natur her eigentlich nicht möglich ist. Hier Skilifte auf dem Tsanfleuron-Gletscher in 3.000 m Höhe (westlichstes Berner Oberland), im Hintergrund die Kette der Walliser Alpen (September 2006).
22 Da der natürliche Schneefall in den Alpen auf Grund der Klimaerwärmung immer weniger und unzuverlässiger wird, werden die meisten Skipisten inzwischen künstlich beschneit. Hier der Beginn einer Skipistenbeschneiung in Inneralpbach im Alpbachtal (Kitzbüheler Alpen) kurz vor Weihnachten (Dezember 2015).
23 Mountainbike-Fahren ist seit zwei Jahrzehnten zu einer sehr beliebten Freizeitaktivität geworden. Hier ein MTB-Fahrer im französischen Queyras in ca. 2000 m Höhe (August 2014).
Mit dem Wandel des Alpenbildes ändern sich auch die Verhaltensweisen der Alpenbesucher grundlegend.
Die traditionellen Aktivitäten der Spaziergänger, Bergwanderer und Kletterer zielten auf das Erleben der Schönheit der Alpenlandschaft ab und können daher als „kontemplative“ Handlungen bezeichnet werden: Pausen, in denen man lange das Panorama bewundert, sind dafür charakteristisch.
Ganz anders die heutigen Individuen: Sie besuchen die Alpen, damit bestimmte Körpererlebnisse ausgelöst werden; die schöne Landschaft wird dabei zur Kulisse. Ihre Aktivitäten können als „körperzentriert“ bezeichnet werden, die sich ausschließlich auf sich selbst beziehen und die im Rahmen von modischen Aktivsportarten – Snowboarden, Mountainbiking, Nordic Walking, Rafting, Canyoning usw. – ausgeübt werden. Diese verlangen ein erhebliches Maß an Ausrüstung, Fitness und Training, um Spaß zu machen, und damit dringen die Werte der Arbeitswelt – Leistung, Spezialisierung, Effizienz – in die Freizeitwelt ein.
Zwei Aspekte fallen dabei besonders auf. Erstens werden alle Aktivitäten zum Selbstzweck: Man bewegt sich nicht mehr im Gelände, um die schöne Landschaft, sondern um den eigenen Körper zu erleben; deshalb können Skifahrer, Mountainbiker oder Gleitschirmflieger mehrmals am Tag die gleiche Strecke bewältigen, was für klassische Wanderer undenkbar wäre. Und Kletterern kommt es jetzt nicht mehr darauf an, einen Gipfel zu „erobern“, sondern die Schwerkraft zu überwinden, und sie können daher genauso gut an Kirchtürmen oder Hochhäusern klettern.
Deshalb ist es kein Zufall, dass diese Freizeitaktivitäten aus sich heraus die Tendenz entwickeln, in Indoor-Anlagen oder Freizeitzentren ausgeübt zu werden: Eine künstlich angelegte Kletterwand in einer Kletterhalle kann viel perfekter und funktionaler sein als jeder natürliche Felsen, und hier gibt es auch nie schlechtes Wetter. Damit werden die Alpen langfristig für diese Aktivitäten überflüssig.
Als zweiter Aspekt fällt auf, dass die Alpen jetzt nicht mehr als gefährlich und als Angst auslösend erlebt werden. Das Gefühl der technischen Beherrschbarkeit der Natur, das in der Industriegesellschaft noch einen fragilen Charakter hatte, ist nun völlig selbstverständlich geworden. Eng damit verbunden ist das Gefühl, dass die Alpen allein dazu da sind, um Freizeitbedürfnisse zu befriedigen, wozu sie tiefgreifend technisch umgebaut werden müssen – so etwas wie Respekt vor den Bergen erscheint jetzt als überholt und unzeitgemäß.
24 Das Elizabeth Arthotel in Ischgl (Tirol) steht als 5-Sterne-Haus für die heutigen gehobenen Urlaubsansprüche in den Alpen, die überall zu einem ähnlichen, austauschbaren Angebot führen und die – genau wie die Architektur – nichts mit den konkreten Alpen zu tun haben (April 2016).