Image

26 Dieses Bild zeigt anschaulich, wie breit die Gebirgsketten der Alpen und wie schmal die Täler zwischen ihnen sind. Das Tal in der Bildmitte ist das Montafon (Vorarlberg) mit der Gemeinde Partenen, 1051 m (ganz vorn); in der Mitte hinten das Rätikon (September 2013).

Wenn wir die Alpen angemessen verstehen wollen, dann müssen wir uns von den drei Alpenbildern lösen, die in Kapitel 1 vorgestellt wurden und die jeweils eine bestimmte Sicht auf die Alpen verabsolutieren. Die Frage nach den zentralen Eigenschaften der Alpen beantworten zuerst die Naturwissenschaften (in diesem Kapitel), und deren Ergebnisse werden dann durch die Betrachtung der Alpen als Kulturlandschaft im nächsten Kapitel ergänzt und erweitert.

In naturwissenschaftlicher Perspektive gibt es sechs zentrale Aspekte, die die Natur der Alpen prägen:

1. Die Alpen – ein junges Hochgebirge: Als Hochgebirge besitzen die Alpen ein steiles Relief und eine so große Höhe, dass sie weit über die Baumgrenze hinaus aufragen und im Gipfelbereich teilweise vergletschert sind bzw. in den Eiszeiten in weiten Teilen vergletschert waren. Deshalb sind viele Landschaftsformen der Alpen deutlich glazial geprägt. Die Alpen sind ein junges Hochgebirge, weil der Prozess der Hebung immer noch andauert und dadurch die Abtragung sehr aktiv ist. Deshalb besitzen viele Grate und Gipfel scharfe und steile Formen, und die Schwerkraft spielt bei den Bewegungen von Steinen, Eis, Schnee und Wasser eine wichtige Rolle. Als junges Hochgebirge sind die Alpen Teil des großen alpidischen Gebirgssystems, das von den Pyrenäen über den Balkan und Kleinasien bis zum Himalaya reicht.

2. Großlandschaften der Alpen: Das „Gesicht“ der Alpen wird durch die unterschiedlichen Gesteine geprägt. Stark vereinfacht gibt es vom nördlichen Alpenrand bis zum Kern der Alpen folgende Großlandschaften: Ein schmales Band mit weichen Gesteinen direkt am Alpenrand, die randlichen Kalkalpen, die Grauwackenzone und die harten Gesteine der Zentralalpen. Auf der Südseite der Alpen wiederholt sich diese Gliederung in umgekehrter Reihenfolge.

3. Wasser und Eis als Landschaftsgestalter: Während die „großen“ Landschaftsformen vom Ausgangsgestein geprägt werden, sind die Vielzahl der kleineren Formen davon bestimmt, ob Wasser oder Eis für den Abtrag des Gebirges verantwortlich ist. Während fließendes Wasser und Frostsprengung scharfe Formen hervorbringen, schleift das Eis der Gletscher alle Kanten ab und führt zu abgerundeten und flacheren Landschaftsformen. Diese Unterschiede sind heute in den Alpen gut sichtbar.

4. Die Alpen als Regenfänger und Wasserspeicher: Weil die Alpen im Bereich der feuchten Westwindzone liegen, sind sie niederschlagsreich („Regenfänger“). Der Niederschlag fließt aber meist nicht sofort ab, sondern wird durch die großen Alpenrandseen, durch die winterliche Schneedecke und durch die Gletscher kürzer oder länger zurückgehalten und dann auf eine relativ gleichmäßige Weise abgegeben („Wasserspeicher“). Deshalb versorgen die Alpenflüsse das europäische Umland auch in trockeneren Jahren relativ gleichmäßig mit Wasser.

5. Die Vegetation der Alpen im Naturzustand: Bevor sich der Mensch in den Alpen einen Lebensraum schuf, waren sie nahezu überall mit einem dichten, geschlossenen Wald bestanden, und dieser Wald reichte auch viel weiter nach oben als heute. Dadurch sahen die Alpen im Naturzustand deutlich anders aus als heute, und sie wirkten viel dunkler und finsterer, als wir uns das heute spontan vorstellen würden.

6. Sprunghafte Naturdynamik: Weil die Alpen ein junges Hochgebirge sind, für das starke Abtragungsprozesse in den oberen und Ablagerungsprozesse in den unteren Höhenstufen typisch sind, laufen viele dieser Prozesse mit großer Intensität ab und zeichnen sich durch einen plötzlichen oder sprunghaften Verlauf aus – Felssturz, Bergsturz, Lawine, Mure, Hochwasser. Es ist nicht richtig, diese Ereignisse als „Naturkatastrophen“ zu bezeichnen, weil sie für die Natur der Alpen keine Katastrophen, sondern den Normalfall bedeuten. Gerade jene Landschaftsformen der Alpen, die wir als typisch alpin bezeichnen, also steile Grate und exponierte Gipfel, verdanken ihre Entstehung dieser sprunghaften Naturdynamik.

Mit diesen Eigenschaften eines jungen Hochgebirges sind die Alpen eine einzigartige Landschaft, für die es in Europa nichts Vergleichbares gibt. Deshalb haben die Alpen in der europäischen Geschichte auch stets eine besondere Aufmerksamkeit erfahren.

Image

27 Die Alpen als Hochgebirge mit einer typischen Wettersituation – einer Föhnmauer am Hauptkamm der Hohen Tauern (rechts in den Wolken der Gipfel des Scharecks, 3123 m, unten das Gasteiner Naßfeld in 1600 m Höhe). Diese Föhnmauer entsteht, wenn feuchte Luft von Süden her Richtung Alpen strömt. Das Gebirge zwingt die Luft aufzusteigen, wodurch sie kühler wird und Wolken bildet, die sich abregnen. Am Alpenhauptkamm fällt die inzwischen trockene Luft wieder nach unten, wobei sie sich erwärmt und sich die Wolken auflösen. Bei einer solchen Wettersituation bildet sich über dem Hauptkamm oft eine Wolkenmauer (September 2010).

Die Alpen-ein junges Hochgebirge

Die Afrikanische Kontinentalplatte drückt von Süden her auf die Europäische Platte. Im Kollisionsbereich, wo sich beide Platten ineinander verzahnen und wo sich die Afrikanische über die Europäische Platte schiebt, entstehen die Alpen als ein Gebirge aus mehreren parallelen Ketten. Da sich der Druck von Süden an den alten Gebirgen Zentralmassiv, Vogesen-Schwarzwald und Böhmisches Massiv staut, erhält dieses 1200 km lange Kettengebirge seinen bogenförmigen Verlauf. Und da der Druck im Westen wesentlich stärker als im Osten ist, sind die Westalpen deutlich schmaler (150 km) und höher (4800 m) als die Ostalpen (250 km breit, 4000 m hoch), und der östlichste Teil der Ostalpen erhält nicht einmal mehr einen Hochgebirgscharakter.

Weil die Hebung der Alpen nicht gleichmäßig abläuft, sondern in einzelnen Hebungsphasen erfolgt, entsteht der „Stockwerksbau“ der Alpen: In den Hebungsphasen werden große Flächen mit flacherem Relief gemeinsam gehoben, dann lässt der Druck nach, und die Erosion beginnt, die gehobenen Flächen abzutragen, aber bevor sie diese Flachreliefs komplett zerstören kann, setzt die nächste Hebungsphase ein. Die steilsten Gebiete der Alpen finden sich daher am Alpenrand und am Rand der großen inneralpinen Längstäler, und oft trifft man – was viele Alpenbesucher verblüfft – gerade hoch oben im Gebirge auf ausgedehnte Hochebenen. Es sind heute entweder große Almflächen oder weite vergletscherte Gebiete.

Image

28 Die Alpen als Kettengebirge gesehen vom Gipfel des Chasseral, 1607 m, im Schweizer Jura. Der Bildausschnitt zeigt die Berner Alpen mit (von links nach rechts) Wetterhorn, 3701 m, Schreckhorn, 4078 m, Finsteraarhorn, 4274 m, Eiger, 3970 m (das schwarze Dreieck), Mönch, 4099 m, und Jungfrau, 4158 m. Im Vordergrund der Bieler See, in der Mitte links Teile der Stadt Bern (März 1990).

Image

29 Die Alpen wirken an vielen Stellen wie eine unüberwindbare Mauer. Hier der Alpenhauptkamm im Bereich der Grajischen Alpen, vorn die Alp Gias Travet, 1734 m, im Val Grande der Lanzo-Täler (September 2014).

Image

30 Zwar werben viele Alpentäler stolz mit einem Matternhorn-ähnlichen Gipfel, aber markante Gipfelindividuen wie das Bietschhorn, 3934 m (Lötschental, Wallis), sind angesichts der sehr großen Zahl der Alpengipfel doch eher selten (September 2009).

Der Charakter der Alpen als Kettengebirge führt dazu, dass sie von der Ferne bzw. von unten oft wie eine „Mauer“ wirken, die unüberschreitbar erscheint (im Bild der Alpen als „montes horribiles“ wird dieser Aspekt verabsolutiert). Zum Kettengebirge gehört auch, dass die Gipfel einer Berggruppe, die aus dem gleichen Gestein aufgebaut sind, meist eine ähnliche Höhe und Form aufweisen, sodass sie – vor allem aus der Ferne – einen relativ gleichmäßigen Eindruck erwecken. Ausgesprochene „Bergindividuen“, also markante, isolierte Felsgipfel mit einer unverwechselbaren Form vom Typ „Matterhorn“ sind dagegen in den Alpen eher der Sonderfall: Sie entstehen nur dort, wo lokal härteres Gestein an der Oberfläche ansteht und das umgebende weichere Gestein bereits erodiert wurde, oder im Kulminationspunkt mehrerer scharfer Grate.

Image

31 Der Blick, der über die südlichen Cottischen Alpen von Norden auf die Seealpen geht, zeigt anschaulich den Stockwerksbau der Alpen: Das weichere Gestein der Cottischen Alpen bildet sanftere Formen mit weiten, von der Erosion noch nicht zerschnittenen Hochflächen im Bereich zwischen 2400 und 2600 m aus. Die Gneise und Granite der Seealpen dagegen führen zu einem steilen Relief mit einer Gipfelflur um 3000–3100 m. Rechts (mit Schneefeld) der Monte Matto, 3088 m, links davon die Argentera, 3286 m, der höchste Gipfel der Seealpen (September 1983)

Die Alpen bestehen jedoch keineswegs nur aus hohen Gebirgsketten mit weitläufigen Hochflächen. Zwischen und parallel zu ihnen gibt es große, lange und tiefe Längstäler, die durch die Gebirgsfaltung angelegt und in den Eiszeiten durch die damaligen Gletscher noch zusätzlich verbreitert wurden. Hier fließen die großen Alpenflüsse, die an wenigen Stellen die Gebirgsketten in Form von kurzen, steilen Quertälern zerschneiden und die dann die Alpen verlassen. An manchen Stellen erweitern sich diese Längstäler zu kleineren und größeren inneralpinen Becken, von denen das Klagenfurter Becken in Kärnten das größte der gesamten Alpen ist. Da die Alpen ein junges Hochgebirge sind, sind in den meisten Fällen die Gebirgsketten breiter als die Talräume dazwischen.

Diese Längstäler spielen für das Leben von Pflanzen, Tieren und Menschen eine zentrale Rolle, weil sie hier vergleichsweise günstige Verhältnisse vorfinden und sich dann von hier aus allmählich in die benachbarten Höhenlagen ausbreiten können.

In den tiefen Lagen der Längstäler und der inneralpinen Becken gibt es häufig ein Relief, das dem von außeralpinen Regionen ähnlich ist. Die klassischen Alpenbildern rechnen diese Lagen nicht mehr zu den Alpen, weil ihnen hier die „alpine“ Dimension, also der Hochgebirgscharakter fehle. Dies ist jedoch nicht gerechtfertigt: Viele Prozesse des Hochgebirgsstockwerks wie Steinschlag, Bergsturz, Lawinen, Muren oder Hochwasser sind dank Relief und Schwerkraft sehr eng und heftig mit den tiefen Lagen verzahnt, und diese werden auch oft durch hochgebirgsspezifische Klimasituationen geprägt. Deshalb müssen auch die tiefen Lagen eindeutig zu den Alpen als Hochgebirge gezählt werden.

Image

32 Es gibt in den Alpen immer wieder Stellen, an denen sich Täler auf Grund der Geologie und der Arbeit der eiszeitlichen Gletscher zu kleineren inneralpinen Becken weiten; hier das Becken von Bad Hofgastein, 800 m; im Hintergrund der Tauernhauptkamm (April 2018).

Image

33 Da die Alpen noch ein junges Hochgebirge sind, sind viele Täler vor allem im Oberlauf noch eng und schmal. Hier der Blick aus 2000 m Höhe auf das oberste Sesia-Tal, das im Kern der Monte-Rosa-Gruppe entspringt (September 2015).

Image

34 Der Blick von oben auf das Mangfallgebirge im Bereich des Schliersees (vorn links) und des Tegernsees (Mitte rechts) zeigt deutlich, wie breit die Bergmassive und wie schmal die Täler selbst am Alpenrand sind. Am Horizont die Zillertaler, Tuxer, Stubaier und Ötztaler Alpen (Juli 2010).

Image

35 Der Nordrand der Alpen bei Bern: Blick vom hochgelegenen Rande des Gürbetals aus etwa 900 m Höhe über das schmale Flysch-Band mit seinen weichen Gesteinen auf die erste Alpenkette, die Berner Voralpen, die aus Kalkstein bestehen. Der markante Gipfel links ist das Stockhorn, 2190 m, in der Bildmitte Nünenenflue, 2101 m, und Gantrisch, 2175 m, rechts der Ochsen, 2188 m (Mai 1995).

Großlandschaften der Alpen

Jedem Alpenbesucher fällt auf, dass benachbarte Alpentäler einerseits sehr unterschiedlich aussehen können, andererseits weit voneinander entfernte Gebiete sich zum Verwechseln ähnlich sein können.

Die Hauptursache für die unterschiedlichen Landschaftsformen der Alpen liegt im Gestein, während Unterschiede im Klima und in der Vegetation eine geringere Rolle spielen. Will man daher Großlandschaften voneinander abgrenzen, deren Landschaftsbild sich signifikant unterscheidet, so muss man sich an der Geologie und den Gesteinen orientieren. Auf Grund der extremen Vielfalt und Kleinräumigkeit der geologischen Struktur der Alpen können hier nur die vier wichtigsten Großlandschaften vorgestellt werden. Ihre Darstellung orientiert sich in etwa an einem Querschnitt von Norden nach Süden durch die Ostalpen entlang einer Linie von Salzburg nach Udine, also dort, wo die Geologie der Alpen relativ einfach und übersichtlich ausgeprägt ist.

Der Alpenrand ist im Norden und im Süden unterschiedlich ausgebildet, weil der Druck der Kontinentalplatten von Süd nach Nord gerichtet ist. Am Nordrand der Alpen wurden in einer geologisch jungen Phase noch Gesteine randlich in die Alpenbildung einbezogen, die ursprünglich in den Alpen abgetragen und an den Rand der Alpen transportiert worden waren und dann erneut verfestigt und leicht aufgefaltet wurden. Deshalb findet sich am Nordrand der Alpen ein schmales Band mit relativ weichen Gesteinen (Molasse, Flysch), das eine Höhe von 800 bis 1000 m erreichen kann und das einen Übergangsbereich zwischen dem Alpenvorland und dem eigentlichen Alpenraum darstellt. Dadurch ist es hier nicht einfach, eine klare Alpengrenze zu erkennen.

Anders ist dagegen die Situation am Alpensüdrand: Im Zuge der Alpenauffaltung entstand hier ein großer und tiefer Trog, der allmählich mit Abtragungen aus den Alpen und dem Apennin aufgefüllt wurde und auch heute noch weiter aufgefüllt wird. Daher bilden die steil abfallenden Gesteinsschichten einen deutlichen Gegensatz zur fast waagerechten oberitalienischen Tiefebene, und man kann hier beinahe seinen Fuß von der Ebene auf die Alpen setzen.

Überall, wo heute große Flüsse in kurzen Quertälern die Alpen verlassen und in den Eiszeiten große Gletscher bis weit ins Alpenvorland vordrangen, ist die randliche Alpenkette unterbrochen. Sowohl im Norden wie im Süden der Alpen gibt es an diesen Stellen große oder kleinere Alpenrandseen mit länglichen Formen, die nach außen hin durch große Endmoränenwälle begrenzt werden. Am Ende der letzten Eiszeit waren diese Seen sehr viel größer – der Bodensee reichte damals fast bis nach Chur, der Genfer See bis nach Martigny –, aber sie werden seitdem immer mehr zugeschüttet und in einigen Tausend Jahren ganz verschwunden sein.

Image

36 Das südliche Ende der Po-Ebene, die auf drei Seiten von den Alpen begrenzt wird, und deren Berge hier steil aus der waagerechten Ebene aufsteigen. Vorn die Cottischen Alpen, hinten und am rechten Rand die Ligurischen Alpen, und in der Po-Ebene links die Stadt Cuneo und rechts am Gebirgsrand die Kleinstadt Borgo San Dalmazzo (August 2010).

Image

37 Der Nordrand der Alpen mit dem kurzen Aare-Quertal. Der eiszeitliche Aare-Gletscher hat dieses Quertal verbreitert und den Thuner See, 558 m, geschaffen. Hier kann man gut den Übergang von den Alpen ins Alpenvorland erkennen: Das tief eingeschnittene Tal hinter dem See etwas rechts von der Bildmitte ist das Justis- Tal, das auf der linken Seite vom Sigriswilgrat (Sigriswiler Rothorn, 2034 m) und auf der rechten Seite vom Güggisgrat (Gemmenalphorn, 2067 m, beide Kalkalpen) begrenzt wird. Am nördlichen Fuß des Sigriswilgrates schließt sich das schmale Flysch-Band an, und es beginnt die voralpin geprägte Hügellandschaft des Emmentals (Oktober 1989).

Image

38 Das Gestein der Kalkalpen bildet sehr oft senkrechte Felswände aus so wie hier in der Engstelle „Le Barricate“ im Tal der Stura di Demonte (Cottische Alpen); die Felswände besitzen hier eine Höhe von 700 Metern (August 2012).

Die Kalkalpen folgen auf das schmale Band mit weichen Gesteinen als zweite Großlandschaft der Alpen, und sie bilden fast überall hohe Gebirgsketten, die von außerhalb der Alpen gut zu sehen sind. Sie fehlen lediglich am Alpeninnenbogen zwischen Biella und Cuneo (Piemont) und am Südostrand zwischen Wien und Graz. Auf Grund ähnlicher Gesteinsqualitäten bieten die weit voneinander entfernten Nördlichen und Südlichen Kalkalpen ein sehr ähnliches Landschaftsbild.

Kalkstein ist ein wasserlösliches Gestein, das nur langsam verwittert und dabei sehr oft senkrechte Wände ausbildet. Weil das schnell versickernde Wasser meist unterirdisch abfließt und erst am Fuß der Felsen in starken Karstquellen ans Tageslicht tritt, kann sich nur dort ein Boden bilden, wo die eiszeitlichen Gletscher Moränenmaterial hinterlassen haben. Deshalb sind die Kalkalpen großflächig mit wenig Vegetation bedeckt (die „bleichen Berge“) und stellen für Pflanzen, Tiere und Menschen einen sehr schwierigen Lebensraum dar. Dort, wo die Kalkalpen große Hochflächen wie z.B. im Steinernen Meer oder im Toten Gebirge ausbilden, finden sich die lebensfeindlichsten Gebiete der gesamten Alpen.

Auf Grund dieser Eigenschaften und weil es hier häufig hohe senkrechte Wände gibt, stellen die randlichen Kalkalpen einen Trennraum dar, der das Alpeninnere zum Alpenvorland hin regelrecht abriegelt: Die senkrechten Felswände sind auf direktem Weg fast nirgendwo einfach zu überschreiten, und die kurzen Quertäler, die sie zerschneiden, sind häufig eng und schluchtartig. Und in den wenigen Fällen, wo die eiszeitlichen Gletscher diese Durchbrüche stark geweitet haben wie z.B. an Inn, Rhein oder Rhône, grenzen die steilen Felswände direkt an versumpfte Talauen.

Die Alpen empfangen also die Menschen, die von außerhalb kommen, mit einer besonders extremen Landschaft, die entweder Schrecken oder Begeisterung auslöst, aber selten einfach bloß „neutral“ wirkt.

Image

39 Kalksteine wiesen oft deutliche Schichtungen auf, und sie prägen häufig als lange Kalkbänder die Landschaft, so wie hier am Col du Pillon in 2000 m Höhe in den Berner Alpen (September 2006).

Image

40 Weil Kalkstein wasserlöslich ist, bilden sich immer wieder durch die Erosion besonders bizarre Felsformationen, so wie hier in 2100 m Höhe im Soana-Tal in der Gran Paradiso-Gruppe (August 2012).

Image

41 Dieser Blick aus dem Alpeninneren, aus dem Gasteiner Tal, zeigt deutlich die landschaftlichen Gegensätze zwischen den steilen Kalkalpen (links das Steinerne Meer, rechts das Tennengebirge, dazwischen das Salzach-Quertal) und den sanften Formen der „Grasberge“. Im Bereich der „Grasberge“ gibt es immer wieder kleine Gebiete mit härterem Gestein, die Felsrippen ausbilden (wie im Vordergrund des Bildes), aber diese sind nicht landschaftsbestimmend (September 1986).

Die Grauwackenzone ist die dritte Großlandschaft, die auf die Kalkalpen folgt. Sie wird in den Alpen sehr unterschiedlich benannt, und ihre Berge werden im Dialekt oft als „Grasberge“ bezeichnet. Die Gesteine sind weich und zerfallen relativ schnell, sodass sie gute und tiefgründige Böden ausbilden, die jedoch stark erosionsgefährdet sind.

Deshalb sind die Gipfelhöhen hier deutlich niedriger als in den Kalkalpen, die Hangneigungen sind eher moderat und das Ödland, also vegetationsfreie Felsen und Schutthalden nehmen einen geringen Flächenanteil ein. Zusätzlich haben sich hier die großen Alpenflüsse in Längsrichtung des Gebirges eingegraben und mit ihren Wassermassen bzw. in den Eiszeiten die Gletscher mit ihren Eismassen die Abtragung besonders stark gefördert, so dass breite und weite Täler entstanden sind.

Da sich an den Stellen, an denen die großen Flüsse ihre Richtung abrupt ändern und als Quertäler die Kalkalpen durchbrechen, die weichen Gesteine dieser Großlandschaft fortsetzen, besitzen die Zwischenräume zwischen den großen Längstälern niedrige Berge und relativ tiefe Pässe, so dass sie eine gute Durchgängigkeit ermöglichen. Dies erleichtert den Austausch von Pflanzen und Tieren zwischen den großen Längstälern im Alpeninneren stark.

Dieser Bereich der weichen Gesteine zwischen den randlichen Kalkalpen und den kristallinen Gesteinen der Zentralalpen stellt den Kernraum der menschlichen Siedlung und Nutzung in den Alpen dar. Hier ist die landwirtschaftliche Bevölkerungsdichte dank weitläufiger tieferer Lagen und guter Bodenbildung so hoch, dass sich in den Längstälern – und im gesamten Alpenraum fast nur hier – Städte entwickelt haben. Und nicht zufällig liegen hier auch die Kernräume der Alpenterritorien wie Tirol, Wallis oder Graubünden.

Weil diesen Gebieten oft der schroffe alpine Landschaftscharakter fehlt, werden sie – gerade aus touristischer Perspektive – immer wieder aus den „richtigen“ Alpen ausgeschlossen. Aus naturräumlichen und geschichtlichen Gründen ist dies jedoch eindeutig falsch – diese Gebiete sind ein zentraler Teil der Alpen.

Image

42 Die Salzach-Längstalfurche ist im Pinzgau (Salzburg) breit ausgebildet, und man kann gut erkennen, wie die Schwemmkegel der Seitenbäche die Salzach an das eine oder andere Ufer drücken. Im Vordergrund die Gemeinde Niedernsill, 769 m, im oberen Bilddrittel die Gemeinde Bruck an der Großglocknerstraße, wo es nach links zum Zeller See abgeht. Hinten links das Steinerne Meer, ganz hinten der Dachstein (November 2015).

Image

43 Die große Längstalfurche der Rhône setzt sich über den Furkapass, das Urseren-Tal und den Oberalppass ins Vorderrheintal fort und erleichtert so den Austausch zwischen diesen Räumen. Hier geht der Blick vom Oberalppass über das Urseren-Tal in Richtung Furkapass; rechts der Dammastock, 3630 m (Juni 2005).

Image

44 Der Großglockner, 3798 m, in den Hohen Tauern ist der Kulminationspunkt eines Bergmassivs, das aus Gneisen und Graniten besteht. Dieses Gestein bildet häufig lange „Sägezahngrate“ und sehr steile, aber fast nie senkrechte Felswände aus (September 1986).

Als letzte Großlandschaft befindet sich im Zentrum der Alpen – eingeschlossen vom Gebiet der weichen Gesteine auf beiden Seiten im Norden und im Süden (bzw. in den Südwestalpen im Westen und Osten) – ein Gebiet mit besonders harten Gesteinen, die der Abtragung einen sehr großen Widerstand entgegensetzen. Diese bilden von den Hohen Tauern im Osten bis hin zu den Seealpen im Südwesten ein durchgehendes breites Gesteinsband, das den Alpenhauptkamm aufbaut. Nur im Osten der Ostalpen (Niedere Tauern bis Wienerwald) und in den Ligurischen Alpen fehlen diese Gesteine, und der Alpenhauptkamm besteht hier aus Kalksteinen.

Diese harten Gesteine der Zentralalpen sind meist Gneise und Granite, die nur langsam verwittern und die deshalb die höchsten Gipfel der Alpen bilden. Auch wenn diese Alpenregion sehr abweisend aussieht, so ist sie weniger steril als die Kalkalpen: Das Wasser fließt oberirdisch ab, sodass weite, wasser- und vegetationslose Hochflächen fehlen, das Relief ist zwar steil, aber nie senkrecht, und die Bodenbildung läuft zwar langsam ab, aber gibt es viele Böden mit einer schütteren Vegetation. Die starke Vergletscherung während der Eiszeiten hat viele zuvor schmale Scharten zu breiten Pässen gemacht und viele enge Täler verbreitert, und viele Moränenreste in den Tälern, an den Hängen und im Bereich der Almen ermöglichen oft eine gute Bodenentwicklung. Daher ist diese Alpenregion trotz der schwierigen Rahmenbedingungen – große Seehöhe, hohe Niederschläge, steiles Relief – ein wichtiger Lebensraum für Pflanzen und Tiere, der auch von Menschen recht gut nutzbar ist.

Der Gegensatz zwischen einem abweisenden und feindlichen Landschaftsbild und seiner Funktion als Lebensraum ist in der Großlandschaft der Zentralalpen am stärksten ausgeprägt.

Während die Bilder der „montes horribiles“ oft von den Kalkalpen am Alpenrand bestimmt wurden, bezieht sich die touristische Wahrnehmung der Alpen als schrecklich-schöne Landschaft meist auf die Zentralalpen und auf die hier liegenden höchsten Gipfel der Alpen. Und weil diese Alpenregion auf städtische Besucher so nutzungsfeindlich wirkt, meinen die meisten, sie seien hier in einer Urlandschaft, in einer unberührten und unveränderten Natur. Das nächste Kapitel wird zeigen, dass dies ein Irrtum ist.

Image

45 Das Monte-Rosa-Massiv bildet wegen seines harten Gesteins den zweithöchsten Alpengipfel, und auf den Verebnungsflächen haben sich auf Grund der Höhe Gletscher gebildet. Hier der Ventina-Gletscher und ganz rechts der Torrione di Verra, 3738 m (August 2017).

Image

46 Der Bergeller Granit bildet auf Grund seines extrem harten Gesteins besonders steile Formen aus; beides macht ihn bei Kletterern sehr beliebt. Rechts der Pizzo Badile, 3308 m, links der Pizzo Cengalo, 3370 m (Juli 2017).

Image

47 Die Abtragung eines Bergrückens durch fließendes Wasser in den Berner Alpen bei Frutigen führt zur Herausbildung von Gräben mit scharfen Reliefstrukturen (August 1982).

Wasser und Eis als Landschaftsgestalter

Die Qualität der Gesteine ist der bestimmende Faktor für Relief und Landschaftsbild in den Alpen. Die damit verbundenen Reliefformen werden jedoch durch die Abtragungsprozesse permanent modifiziert. Die beiden wichtigsten Kräfte, Wasser und Eis, bringen dabei unterschiedliche Formen hervor: Wasser arbeitet in einem jungen Hochgebirge aus dem Fels scharfe Formen heraus, das Eis dagegen schleift Kanten und Ecken ab und führt zu gerundeten und flacheren Formen.

Während das Wasser lange Zeit der entscheidende Faktor der Reliefveränderungen war und diese Rolle seit 10.000 Jahren erneut spielt, war das Eis in Form von Gletschern in den verschiedenen Eiszeiten die dominierende Kraft. Trotzdem ist die eiszeitliche Prägung der Landschaft in den Alpen heute noch gut zu sehen: Da das Wasser seit dem Ende der letzten Eiszeit die Oberflächenformen der harten Gesteine erst wenig verändern konnte, ist der eiszeitliche Formenschatz hier noch gut sichtbar. Anders dagegen sieht es bei den weichen Gesteinen aus, die dem Wasser wenig Widerstand entgegensetzen; hier sind die eiszeitlichen Formen heute stark verwischt und manchmal sogar ganz verschwunden.

Image

48 Frostsprengung hat dafür gesorgt, dass sich am Fuß der Felswände der Rocca la Meia, 2831 m, in den Cottischen Alpen große Schutthalden gebildet haben, die im Untergrund ganzjährig durch gefrorenes Wasser (Permafrost) zusammengehalten werden. Wenn der Permafrost im Zuge der Klimaerwärmung auftaut, dann werden diese Schutthalden mobil und können bis in tiefe Tallagen transportiert werden (September 2016).

Image

49 Der Wasserfall der Gasteiner Ache mitten im Zentrum von Bad Gastein macht sehr anschaulich deutlich, welche Gewalt fließendes Wasser besitzen kann, wenn große Wassermengen über einen felsigen Abhang stürzen (Mai 2015).

Image

50 Der Torrente Germanasca überwindet einen Kalksteinriegel in den Cottischen Alpen in Form eines Wasserfalls, der Cascata del Pis (2150 bis 1750 m). Wegen der Härte des Gesteins steht die Ausbildung einer Schlucht am Beginn des Wasserfalls erst am Anfang (Juni 2015).

Das Wasser prägt das alpine Relief in Form der Frostsprengung sowie in Form der Erosionskraft des fließenden Wassers.

Frostsprengung beruht auf der physikalischen Eigenschaft, dass Eis ein um 10 Prozent größeres Volumen als Wasser besitzt. Alle Felsen enthalten mehr oder weniger zahlreiche Felsspalten, Risse und Ritzen, in die angesichts der hohen Niederschläge in der Gipfelregion ständig Wasser eindringt, das später gefriert und dabei kleine Felsstücke absprengt. Dieser Prozess wirkt dann besonders stark, wenn das Wasser regelmäßig nachts friert und am Tag wieder auftaut. Dadurch werden die Felsen allmählich abgetragen und an ihrem Fuß entstehen große Schutthalden, die größere Flächen bedecken können.

Die Erosionskraft des Wassers beruht nicht nur darauf, dass das fließende Wasser Gesteins- und Bodenpartikel losreißt, sondern auch darauf, dass im Wasser viele Gesteine mitgeführt werden, die auf dem Untergrund und an den Ufern reiben und schleifen und ihn dadurch erodieren: Je größer die Menge der mitgeführten Steine, desto größer die Erosionskraft eines Gewässers. Sie ist am stärksten, wenn Bäche und Flüsse Hochwasser führen und besonders viel Material mit sich reißen.

Image

51 Eine Steinschlag- und Lawinenrinne in den zentralen Seealpen (Sant' Anna-Seitental mit Rocca Bravaria, 2550 m), die lockeres Gesteinsmaterial und Schnee aus dem Hang- und Gipfelbereich direkt ins Tal, 1700 m, transportiert. Am Fuß der Rinne ist gut zu erkennen, dass der Wildbach einen Teil des hier abgelagerten Materials bereits weiterverfrachtet hat (Umlagerung), demzufolge eine deutliche Geländestufe entstanden ist (August 1986).

Image

52 An der Stelle, an der ein kleiner, steiler Seitenbach ins flache Haupttal mündet, verringert sich sein Gefälle abrupt, sodass das im Wasser mitgeführte Material abgelagert wird. Dadurch entsteht ein Schwemmkegel mit einer konischen Form, der ab einer gewissen Größe den Hauptfluss an den Gegenhang drückt. Hier ein Schwemmkegel in etwa 1350 m Höhe im Rhönetal bei Ulrichen (Goms/Oberwallis) (August 1986).

Typisch für Hochgebirge ist es, dass die oberen und unteren Bereiche eng miteinander verzahnt sind, wobei die Schwerkraft die zentrale Rolle spielt. Dies führt zu den Landschaftsformen Steinschlag-/Lawinenrinne und Schwemmkegel, die zu den charakteristischen Formen eines Hochgebirges gehören und die man auch in den Alpen überall sehen kann.

Aufgrund der Geländeform sammelt sich das aus Felswänden herausgesprengte Gesteinsmaterial oft in einer Rinne, von wo es entweder sofort talwärts rollt oder später von Hochwässern oder Lawinen ins Tal transportiert wird.

Ein Seitenbach mit einem starken Gefälle bildet beim Auftreffen auf das Haupttal einen größeren Schwemmkegel aus: Solange das Wasser dank der Steilheit schnell fließt, kann es viel Material mit sich führen. Wenn der Bach aber auf das Haupttal trifft und das Relief flach wird, werden die mitgeführten Materialien abgelagert, so dass ein größerer oder kleinerer Schwemmkegel entsteht, dessen Boden in der Regel besonders fruchtbar ist. Deshalb sind Schwemmkegel besonders bevorzugte Siedlungsplätze für die Menschen, und es gibt nicht sehr viele, die völlig unbesiedelt sind.

Image

53 Sehr hochgelegene Alpenregionen sind heute noch stark vergletschert. Hier der Blick von der Fuorcla Surlej, 2755 m, auf das Bernina-Massiv: Links Punta Tschierva, 3546 m, dann Piz Morteratsch, 3751 m, Piz Bernina, 4049 m (mit dem berühmten Biancograt), Piz Scerscen, 3971 m, und rechts Piz Roseg, 3937 m. Vorn im Bild vom Gletscher glattgeschliffene Felsen (September 2008).

Image

54 Die stark von Gletschern geprägte Region der zentralen Grajischen Alpen mit den Gipfeln la Grivola, 3969 m (links), und Gran Paradiso, 4061 m (halbrechts), sowie der Monte-Rosa-Gruppe (Mitte links ganz hinten). Die Gletscher fließen von den Gipfeln oder Graten abwärts und enden in etwa 2800 m Höhe, aber es lassen sich im Gelände (gleichmäßig abgeschliffene Hangstücke) noch gut die Spuren der eiszeitlichen Gletscher erkennen, die bis in das Tal in der Bildmitte (Piano di Nivolet, 2400 m) geflossen sind und es zu einem U-Tal umgeformt haben. Seit der Aufnahme dieses Bildes (September 1978) sind die Gletscher weiter stark zurückgeschmolzen.

Für Menschen, die die Alpen nicht kennen, zählen die Gletscher zu den eindrücklichsten Erscheinungen der Alpen. Gletschereis entsteht, wenn frisch gefallener Schnee nicht schmilzt, sondern sich zuerst zu Altschnee, später zu körnigem Firn verdichtet. Wenn auf diesen Firn weiterer Schnee fällt, wandelt er sich im Laufe von 10 bis 15 Jahren durch Druck in Gletschereis um, das auf geneigtem Untergrund allmählich zu fließen beginnt und so weit talwärts fließt, bis es taut.

Eine der typischsten, durch Gletscher geschaffenen Felsformen ist das Kar: In einer Felswand bleibt auf einem kleinen Vorsprung Schnee liegt, der allmählich zu Eis wird. Im Grenzbereich von Eis und Fels ist der Fels stets gut durchfeuchtet, so dass die Frostsprengung besonders gut wirken kann. Dadurch „frisst“ sich der Gletscher quasi in den Fels hinein, wodurch allmählich eine sesselförmige Hohlform entsteht, die Kar genannt wird. Weil das fließende Eis diese Hohlform weiter vergrößert, bildet sich am Boden des Kars oft eine Eintiefung, die durch eine abgerundete Karschwelle abgeschlossen wird und in der nach Abschmelzen des Gletschers oft ein Karsee übrig bleibt. Die Alpen sind voll von solchen Karen, die in den Eiszeiten entstanden und die heute eisfrei sind.

Image

55 Ein typisches Kar auf der Nordseite des Wildhorns, 3248 m, in den Berner Alpen. Auf dem ebenen Karboden liegt die Alm Chüetungel, 1786 m (September 2006).

Image

56 Die eiszeitlichen Gletscher zerlegen Alpentäler oft in eine Abfolge von Steilstufen und flachen Talabschnitten. Die letzteren sind heute oft gut nutzbare Almgebiete, oder hier liegen – so wie hier (Lacs de Vens in den französischen Seealpen) – mehrere Seen übereinander (Juli 2004).

Viele Kare dienen seit langem der Almwirtschaft, und die Karseen sind leicht von der Elektrizitätswirtschaft zu nutzen, da man durch einen kleinen Staudamm schnell ihr Fassungsvermögen vervielfachen kann. Und nicht zuletzt sind Karseen sehr beliebte Ziele von Bergwanderungen, an deren Ufern gern Schutzhütten errichtet wurden.

Image

57 Da die eiszeitlichen Gletscher in der Nähe des Alpenrandes mehr als 1000 m Mächtigkeit erreichen konnten, haben sich an diesen Stellen besonders tiefe und breite Trogtäler ausgebildet, so wie hier am Alpensüdrand zwischen Lugano und Como. Unten der Luganer See, 271 m, mit der Gotthard-Autobahn (September 1993).

Fließendes Wasser gräbt sich im Laufe der Zeit immer stärker in den Untergrund ein; da die seitlichen Hänge nachrutschen, entsteht auf diese Weise ein Kerbtal oder V-Tal. Wenn ein Gletscher durch ein solches Tal fließt, dann wandelt er es in ein Tal mit einem breiten Talboden und mit senkrechten (Fels-)Wänden um, also in ein Trogtal oder U-Tal.

In den Eiszeiten wurden nahezu alle Täler der Alpen in Trogtäler umgewandelt, und diese eiszeitlichen Formen kann man heute noch an zahlreichen Stellen sehr klar erkennen; sie sind die Ursache dafür, dass die Talböden der großen Alpentäler nicht eng und steil, sondern breit und eben sind. Nur an Stellen, wo weiches Gestein vorherrscht, sind diese Trogtalformen heute verwischt.

Solange ein Gletscher durch ein Trogtal fließt, erodiert er nicht nur seinen Untergrund, sondern auch die beiden seitlichen Wände, die er jedoch gleichzeitig durch sein Eisvolumen auch stabilisiert. Verschwindet der Gletscher jedoch auf Grund einer Klimaerwärmung, dann fehlt den beiden Wänden ihr Widerlager, und es gibt zahlreiche Felsstürze aus diesen sehr steilen und instabilen Felswänden, und es bilden sich große Schutthalden zu ihren Füßen.

Diese Prozesse waren am Ende der letzten Eiszeit, als die Gletscher stark zurückschmolzen, sehr häufig; aber sie spielen bis heute eine wichtige Rolle als Auslöser für Fels- und Bergstürze.

Image

58 Das Lengtal westlich des Nufenen-Passes in den Lepontinischen Alpen (Talboden bei 2000 m, Trogschulter bei 2400 m) ist ein klassisches U-Tal, das vom fließenden Wasser erst wenig überprägt wurde. Direkt unterhalb dieses U-Tales ist erkennbar, wie das fließende Wasser bereits ein enges und steiles V-Tal geschaffen hat, das in geologisch kurzer Zeit dieses Trogtal zerstören wird (August 2017).

Image

59 Gletscher enden normalerweise mit einem großen Gletschertor, aus dem das unter dem Eis abfließende Schmelzwasser herauskommt. Hier das Gletschertor des Langgletschers im Lötschental/Wallis, das heute in 2100 m Höhe liegt. Weil das Eis sehr viel mitgeführten Schutt enthält, besitzt es eine graue Färbung. Seit 1850 ist der Langgletscher um einen Kilometer kürzer geworden (September 2009).

Image

60 Die steilen und noch unbewachsenen Seitenmoränen des Verra-Gletschers (Ayas-Tal) in 2300 m Höhe auf der Südseite des Monte-Rosa-Massivs. Sie stammen aus dem Jahr 1860, als der Gletscher in 2200 m Höhe endete. Heute endet er in 2700 m Höhe und zieht sich immer weiter zurück (August 2017).

Die Gletscher der Alpen sind der eindrücklichste und zugleich auch anschaulichste Beleg für die Klimaerwärmung der letzten 150 Jahre, den es in Europa gibt.

Die Alpengletscher haben schon immer auf Klimaveränderungen reagiert, indem sie vorstießen, wenn es kälter wurde, und zurückschmolzen, wenn es wärmer wurde. Ihre permanenten Längenveränderungen machen deutlich, dass es in den letzten zehntausend Jahren nie eine stabile Klimasituation gab, sondern dass das Klima stets zwischen etwas wärmeren und etwas kälteren Phasen hin und her pendelte.

Wenn Gletscher vorstoßen, transportieren sie in ihrem Eis große Mengen an Schutt und Gestein. Da das Eis an der Gletscherstirn und an beiden Seiten permanent schmilzt und durch neues Eis ersetzt wird, konzentriert sich hier der im Eis enthaltene Schutt, und es bilden sich lange und hohe Schuttbänder aus, die Moränen genannt werden. Schmilzt der Gletscher wieder zurück, bleiben diese Moränen stehen und belegen, wie weit er einmal vorgestoßen ist.

Ihren maximalen Stand erreichten die Gletscher um das Jahr 1860 herum, also am Ende der sog. „Kleinen Eiszeit“, die vom 15. bis zum 19. Jahrhundert dauerte. Dieser Gletscherstand ist auch von Laien gut zu erkennen, weil die Moränen von 1860 auf Grund ihrer Steilheit und des fehlenden Bewuchses heute im Gelände nicht zu übersehen sind.

Zahlreiche Gemälde und Stiche bilden seit 1760 die vorstoßenden Gletscher ab, und das neue Medium Fotografie liefert in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zahllose Dokumentationen der damaligen Gletscherstände, so dass wir heute über die Situation der Alpengletscher sehr genau Bescheid wissen.

Sehr besorgniserregend ist das besonders schnelle Abschmelzen der Gletscher seit dem Jahr 2000, für das es in der Geschichte offenbar nichts Vergleichbares gibt. Dadurch werden die Hochlagen der Alpen erheblich verändert, und diese Geschwindigkeit ist ein eindeutiger Hinweis auf eine menschlich verursachte Klimaerwärmung.

Image

61 Der Griessee, 2386 m, mit dem Griesgletscher (Oberwallis) in den Lepontinischen Alpen. Bis Ende der 1950er Jahre war der Standort dieses Fotos eisbedeckt, und es gab keinen See. Erst Anfang der 1960er Jahre entstand der Griessee durch Zurückschmelzen des Gletschers, und 1966 wurde er durch eine Staumauer zum Zweck der Stromgewinnung deutlich vergrößert. Noch 1986 reichte der Gletscher bis in den See, seitdem zieht er sich immer weiter zurück (August 2017).

Image

62 Seen gehören zu den kurzfristigen Wasserspeichern, besonders wenn sie so klein sind wie dieser See am Col de Vore in 1900 m Höhe (westliche Berner Alpen). Wie viele andere flache Seen verlandet auch dieser See langsam (September 2006).

Die Alpen als Regenfänger und Wasserspeicher

Wasser in jeder Form, also als Gletscher, Schnee, Bach, Fluss oder See, ist ein zentrales Element der Alpenlandschaft, ja, wir können uns die Alpen ohne Wasser gar nicht vorstellen. Diese Erfahrung hat das europäische Bild vom Hochgebirge so tief geprägt, dass wasserarme, trockene Hochgebirge – wie es sie in Vorderasien oder in Australien gibt – für uns gar keine „richtigen“ Gebirge sind.

Die Alpen sind ein niederschlagsreiches Gebirge, weil sie im Bereich der Westwinde liegen, die über dem Atlantik oder dem Mittelmeer große Mengen an Feuchtigkeit aufnehmen. Stoßen feuchte Winde auf ein Hochgebirge, so werden sie zum Aufsteigen gezwungen, wobei sie sich abregnen. Deshalb sind Gebirge in der Westwindzone „Regenfänger“, also Gebiete mit stark erhöhtem Niederschlag.

Da die Alpen im Übergangsbereich zwischen der kühl-gemäßigten und der mediterranen Klimazone liegen, erhält die Nordabdachung der Alpen ganzjährig Niederschläge, während die Südwest- und Südalpen im Frühjahr und Herbst ihre Niederschlagsmaxima aufweisen und sommertrocken sind. Die tiefen Lagen der inneralpinen Längstäler sind dagegen ganzjährig trocken, aber ihre Wasserläufe werden durch Gletscher gespeist, so dass es auch hier Wasser gibt.

Die große Bedeutung des Wassers in den Alpen hängt jedoch nicht nur von den hohen Niederschlägen ab, sondern auch von der Eigenschaft eines Hochgebirges, Wasser zu speichern und erst verzögert abfließen zu lassen.

Als kurzfristiger Wasserspeicher wirken zahlreiche Seen und die großen Schotterkörper in den Haupttälern, wobei besonders die großen Alpenrandseen Hochwasserspitzen einige Tage lang dämpfen können.

Als mittelfristiger Wasserspeicher fungiert der Schnee, weil durch ihn alle Niederschläge von November bis zum Frühling/Frühsommer in den Alpen zurückgehalten werden.

Der langfristige und wichtigste Wasserspeicher sind die Gletscher, in denen so viel Wasser gespeichert ist, wie im Alpenraum in etwa einem Jahr fällt. Weil Gletscher das Schmelzwasser relativ gleichmäßig abgeben, werden dadurch die Niederschlagsschwankungen mehrerer Jahre ausgeglichen. Deshalb versorgen die Alpen das europäische Umland auch in trockenen Jahren relativ gleichmäßig mit Wasser.

Image

63 Der Lac du Basto, 2331 m, in den französischen Seealpen im Valmasque-Tal ist als hoch gelegener Karsee oft bis in den Juli hinein zugefroren. Hier beginnt er Anfang Juli gerade aufzutauen, aber es wird noch einige Zeit dauern, bis er völlig eisfrei sein wird (Juli 1978).

Image

64 Obwohl der Bach, der in diesen Karsee fließt, nur ein kleines Einzugsgebiet besitzt, hat er im See bereits ein größeres Delta geschaffen, und er wird ihn in absehbarer Zeit ganz zuschütten (Lago Bleu, 2523 m, mit Roc Niera, 3177 m, in den Cottischen Alpen im Varaita-Tal).

Trotz des relativ gleichmäßigen Wasserabflusses aus den Alpen gibt es immer wieder Extremereignisse: Wenn Ende Juni oder in der ersten Julihälfte bei einem Wärmeeinbruch die Null-Grad-Grenze schnell auf 3500 m ansteigt und gleichzeitig starker Niederschlag als relativ warmer Regen auf die noch geschlossene Schneedecke im oberen Höhenstockwerk fällt, dann fallen Schneeschmelze und Regenabfluss zusammen und führen zu heftigen Hochwassern. Das passiert zwar nicht jedes Jahr, aber doch mit gewisser Regelmäßigkeit.

Die Seen der Alpen entstanden am Ende der letzten Eiszeit, als die Gletscher abschmolzen und an sehr vielen Stellen übertiefte Becken und Moränen zurückließen. Im oberen Stockwerk der Alpen bildeten sich dabei eher kleinere Seen, in den tiefen Lagen größere Seen, und die allergrößten Seen entstanden am Alpenrand, wo die Gletscher am mächtigsten gewesen waren (der Genfersee als der größte Alpensee).

Die Prozesse der Erosion bewirken jedoch, dass selbst sehr tiefe Seen allmählich zugeschüttet werden, sei es durch Steinschlag und Felssturz, sei es durch fließendes Wasser und durch das von ihm mittransportierte Material. Flache Seen, die nicht zugeschüttet werden, weil sie keinen Zufluss haben, verlanden dagegen allmählich.

Zahlreiche Seen sind heute bereits verschwunden, und sie sind nur noch an der ebenen Geländeoberfläche zu erkennen – wenn es in den Alpen irgendwo eine ausgeprägt waagerechte Oberfläche gibt, dann handelt es sich praktisch immer um einen ehemaligen See.

Die größten Seen der Alpen, die Alpenrandseen, haben seit dem Ende der letzten Eiszeit meist schon die Hälfte ihrer Fläche eingebüßt: Der Bodensee reichte ursprünglich bis Chur, der Genfersee bis Martigny, und Thuner- und Brienzer See wurden erst im frühen Mittelalter durch den Schwemmkegel der Lütschine voneinander getrennt, während der gemeinsame See ursprünglich bis Meiringen hinauf reichte. Wenn man weiß, dass seit dem Ende der letzten Eiszeit erst 10.000 Jahren vergangen sind, dann kann man davon ausgehen, dass die Alpenrandseen in etwa 15.000 Jahren vollständig verschwunden sein werden.

Im Gegensatz zu vielen anderen Formen des Hochgebirges sind die Alpenseen, erdgeschichtlich betrachtet, ein flüchtiges und kurzlebiges Landschaftselement.

Image

65 Der Karsee Lago soprano della Sella, 2329 m, in den italienischen Seealpen im Gesso-Tal wird erst Anfang Juli allmählich eisfrei. Im Hintergrund die Rocca di Valmiana, 3006 m (Juli 1979).

Image

66 Die Hochlagen der Alpen waren im Naturzustand fast vollständig bewaldet. Dieses Bild zeigt Aufforstungen von ehemaligen Almweiden und Bergmähdern in der Valle Stura di Demonte (südliche Cottische Alpen), die genau an den Gemeindegrenzen der Gemeinde Demonte (ganz rechts; diese Aufforstungen stammen aus der Mussolini-Zeit) und Aisone (Bildmitte; aus den 1950er Jahren) enden. Im Talbereich Verbuschungen auf ehemaligen Ackerflächen. Der dominierende Grat erreicht ganz rechts 1800 m und ganz links 2039 m. Im Naturzustand wäre die gesamte sichtbare Landschaft von Wald bedeckt (September 1985).

Die Vegetation der Alpen im Naturzustand

Wenn wir an die Alpen denken, dann erscheint automatisch eine offene Landschaft vor unseren Augen: Im Talbereich liegen Dörfer und Höfe inmitten von großen Wiesen und Weiden, darüber gibt es an den Hängen Wälder und Weiden, und oben erstrecken sich die von Tieren genutzten Almweiden. Spontan gehen wir davon aus, dass dies – mit Ausnahme der Dörfer und Gebäude – auch der Naturzustand der Alpen sei.

Dies ist jedoch falsch, denn im Naturzustand waren die Alpen fast vollständig bewaldet, und die offene Landschaft, die uns so natürlich erscheint, ist erst das Ergebnis menschlicher Rodungen.

Im unteren Bereich war der Wald nahezu flächenhaft verbreitet. Ausnahmen bildeten lediglich Felsen, Seen, Moore sowie die Kernbereiche der Flussauen. Im oberen Bereich reichte der Wald im Naturzustand etwa 300 Höhenmeter höher als zu Beginn des 20. Jahrhunderts, und dieser Unterschied betrifft sehr große Flächen – viele weitläufige Almen wurden im Laufe der Zeit erst mühsam gerodet.

Die Höhe der natürlichen Waldobergrenze hängt von der Länge der Vegetationsperiode ab. Die niedrigsten Obergrenzen des Waldes finden wir mit 1500 bis 1900 m am kühlen Alpennordrand, am warmen Alpensüdrand liegen sie zwischen 1800 und 2100 m, und in den inneralpinen Trockenzonen erreichen sie mit 2100 bis 2400 m ihre Maximalwerte in den Alpen. Vergleicht man diese Werte mit den aktuellen Obergrenzen des Waldes, dann erkennt man schnell große Differenzen. Die aktuelle Klimaerwärmung führt übrigens dazu, dass alle Vegetationsobergrenzen und auch die des Waldes noch weiter ansteigen.

Image

67 So könnten die Alpen im Naturzustand ausgesehen haben: Alle Hänge, Grate und Gipfel sind bis weit hinauf bewaldet, nur im obersten Bereich gibt es einige alpine Rasen. Der Blick geht aus 3000 m Höhe nach Süden auf die Cottischen Alpen (ganz rechts Pelvo d'Elva, 3064 m) und die Seealpen (ganz hinten links). Man blickt also auf die nordexponierten Hänge, die traditionell wenig gerodet waren und deren waldfreie Flecken seit langem wieder zugewachsen sind (August 1981).

Da sich in den Eiszeiten – die letzte ging erst vor 12.000 Jahren zu Ende – kein Baum in den Alpen halten konnte, dauerte es einige Zeit, bis die Bäume aus ihren südeuropäischen Refugien wieder in die Alpen einwandern konnten. Deshalb sind die natürlichen Wälder der Alpen heute noch relativ artenarm: Es gibt nur etwa 40 Baumarten, darunter nur 8 Nadelbaumarten, und keine einzige endemische Baumart, also keine, die ausschließlich in den Alpen vorkommt. Es wird noch viele zehntausend Jahre dauern, bis sich in den Wäldern der Alpen eine Artenvielfalt einstellen wird, wie sie für Wälder von eiszeitlich nicht vergletscherten Regionen typisch ist.

Da während der verschiedenen Eiszeiten jedoch die Pflanzen der Rasengesellschaften auf geschützten Stellen der Südwest-, Süd- und Südostalpen überleben konnten, hat sich bei ihnen auf Grund der langen Entwicklungszeit und der mehrmaligen Verinselung der Standorte durch die eiszeitlichen Gletscher eine sehr hohe Artenvielfalt ausbilden können. Von den knapp 5.000 Pflanzenarten der Alpen stammen sehr viele aus den Rasengesellschaften, und unter ihnen gibt es 350 endemische Arten.

Image

68 Im Bereich der östlichen Ostalpen gibt es über 100 räumlich zusammenhängende Gemeinden, in denen der Wald heute jeweils mehr als 80 % der Gemeindefläche umfasst (hier das Türnitzer Tal in den niederösterreichischen Kalkalpen; Talboden 650 m, Gipfel um 1300 m). Ursache sind umfangreiche Wiederaufforstungen von Landwirtschaftsflächen („Bauernlegen“), um große Jagdgebiete zu schaffen. Solche Alpenregionen sind touristisch unattraktiv (Juli 2013).

Am allerstärksten wurden die Alpen vom Menschen in den Talbereichen der großen und mittleren Alpentäler verändert. Die letzten noch erhaltenen Wildflusslandschaften liegen am Lech (Tirol), am Tagliamento (Friaul) und an der Stura di Demonte (Piemont), und sie zeigen anschaulich, wie diese Talböden im Naturzustand überall ausgesehen haben.

In den Eiszeiten hatten sich die Gletscher in diese Täler stark eingetieft, und nach der Eiszeit wurde hier sehr viel Moränenmaterial und Gesteinsschutt deponiert. Dadurch entstanden große Schotterkörper mit einer Mächtigkeit von mehreren Hundert Höhenmetern, die als Wasserspeicher und -filter bis heute eine wichtige Rolle spielen und die eine breite und ebene Oberfläche ausbilden.

Auf diese Weise entstanden sehr lange Flussabschnitte in den Alpen mit einem geringen Gefälle: Die Etsch verliert auf den 170 km zwischen Meran und Verona nur 260 Höhenmeter, der Inn auf den 100 km zwischen Telfs und Kufstein nur 120 Höhenmeter.

Auf Grund der Menge des im Wasser mitgeführten Materials und des schwachen Gefälles bilden die Wasserläufe hier oft Verzweigungen aus, wobei nur bei Hochwasser alle Arme Wasser führen und bei Niedrigwasser sich der Fluss auf ein oder zwei Arme konzentriert. Bei Hochwasser gerät das in Form von Sand- und Kiesbänken abgelagerte Material in Bewegung, es wird mitgerissen und an anderer Stelle wieder abgelagert, wodurch alte Wasserarme zugeschüttet werden und neue entstehen. Deshalb stellen diese Wildflusslandschaften sehr dynamische Räume dar, die sich stets verändern und in denen nur wenige hoch spezialisierte Pflanzen und Tiere leben können.

Jenseits der Bereiche, die regelmäßig von der Erosion betroffen werden, wächst auf dem ebenen Talboden der sogenannte Auwald, der aus Erlen, Eschen und Weiden besteht und der die regelmäßigen Frühjahrshochwässer toleriert, während denen er jeweils einige Zeit im Wasser steht.

Die Talböden der mittleren und großen Alpentäler haben also im Naturzustand völlig anders ausgesehen, als wir uns es heute vorstellen.

Image

69 Die Rhone ist im Bereich des Pfynwaldes (750 bis 540 m) zwischen Sierre und Leuk auf 6 km Länge nicht begradigt, und hier haben sich naturnahe Verhältnisse erhalten: Der Auwald bedeckt große Teile des Talbodens, und der Fluss bildet zahlreiche Verzweigungen aus, die sich permanent verändern (September 2009).

Image

70 Auf ebenen Flächen bilden Wasserläufe zahlreiche Verzweigungen aus (Ayas-Tal in 2200 m Höhe), und diese kleinen Flächen sind im Naturzustand waldfrei (August 2017).

Image

71 Blick vom Rigi-Gipfel, 1797 m, nach Nordosten auf den Rossberg, 1580 m, im Hintergrund der Säntis, 2503 m. Die helle Felswand in der Bildmitte, die sich nach rechts unten zieht, ist die Abrissnische des Bergsturzes von Goldau, der am 3. September 1806 abbrach. 50 Millionen m3 Fels bedeckten das Dorf Goldau mit einer 30 m hohen Schuttdecke, zerstörten 331 Gebäude und töteten 457 Menschen. Auf dem Bild sind die schräg gestellten Felsschichten gut zu erkennen, die aus Molassegesteinen (Ablagerungsschutt aus den Alpen, der in der letzten Phase der Alpenbildung noch verfestigt und aufgefaltet wurde) bestehen und die mit Mergelbändern durchsetzt sind. Da Mergel wasserundurchlässig ist, bildet er Gleitschichten aus, auf denen die darüber liegenden Gesteinspakete leicht abrutschen können. Der Bergsturz begann in 1560 m Höhe (Mitte links), und endete im Tal in 460 m Höhe (Oktober 1989).

Sprunghafte Naturdynamik

Die Alpen sind ein junges Hochgebirge, dessen Gebirgsbildung aufgrund der anhaltenden Hebung noch lange nicht beendet ist. In den oberen Höhenstufen dominieren Abtragungs- und in den unteren Höhenstufen Ab- und Umlagerungsprozesse, weshalb die Landschaften der Alpen einem ständigen Wandel unterworfen sind.

Die zahlreichen Prozesse, die damit verbunden sind, laufen zum Teil auf eine kontinuierliche und gleichmäßige Weise ab; oft aber sind sie mit einer „sprunghaften Dynamik“, also plötzlichen Ereignissen verbunden. Solche Ereignisse wie Bergstürze, Lawinen oder Muren gibt es in den anderen Landschaften Europas kaum, in den Alpen bilden sie dagegen auf Grund des steilen Reliefs, der hohen Niederschläge, der labilen Geologie und der kurzen Vegetationszeit den Normalfall.

Beim Prozess der Alpenbildung wurden verschiedenste Gesteine zuerst über- und ineinander geschoben, dann gefaltet und schließlich in die Höhe gehoben. Dadurch liegen heute oft harte über weichen Gesteinen und wasserstauende Schichten zwischen wasserdurchlässigem Gesteinsmaterial. Sind solche Gesteinsschichten schräg gestellt, kommt es immer wieder zu großen Bergstürzen oder zu langsamen, großflächigen Rutschvorgängen, die sich irgendwann plötzlich beschleunigen.

Die regelmäßige Frostsprengung lockert das Gestein und führt in gewissen Zeitabständen zum Herausbrechen größerer Gesteinsmassen, besonders im Kalkstein, wodurch Felsstürze entstehen.

Das fließende Wasser verursacht in Form einer „Mure“ ebenfalls immer wieder sprunghafte Ereignisse: Bei einem starken Niederschlagsereignis führt ein Bach schnell Hochwasser, dieses staut sich an einer Engstelle durch herabgestürzte Felsblöcke und verkeilte Baumstämme und bildet kurzzeitig einen See, der dann mit einer großen Flutwelle ausbricht: Ein großer Schlammstrom aus Steinen, Schutt, Erdreich und Wasser stürzt schnell talwärts und lagert sich als Schwemmkegel in der Talaue des Haupttales ab.

Image

72 Ein kleiner Felssturz ist aus einer Kalkwand im Neraissa-Tal (Seitental der Stura di Demonte/Cottische Alpen) abgegangen und hat sich auf einer eiszeitlich geprägten Karmulde in 2100 m abgelagert. Bei einem solchen „trockenen“ Sturz wird das Gesteinsmaterial so sortiert, dass die größten Felsbrocken am weitesten rollen, während die kleineren Steine am oberen Kegelende liegen bleiben. Bei einem „nassen“ Sturz, einem Gemisch aus Wasser, Gesteinen und Erdreich, also einer Mure, ist es dagegen genau umgekehrt, hier bleiben die großen Steine am Anfang des Ablagerungsgebietes liegen (September 1984).

Ausgangsmaterial für weitere dynamische Prozesse, die zu besonders spektakulären Landschaftsformen führen, sind die Moränen der letzten Eiszeit, deren Erosion zu Erdpyramiden, Steinpilzen und anderen bizarren Formen führen kann.

Solche Ereignisse werden oft als „Naturkatastrophen“ bezeichnet, was jedoch nicht richtig ist: Sie sind ein charakteristisches Element der Natur eines jungen Hochgebirges und keineswegs eine Katastrophe für die Natur. Im Gegenteil: Gerade diesen sprunghaften Prozessen verdanken die Landschaften der Alpen oft ihr spektakuläres – sachlich ausgedrückt: hochgebirgsspezifisches – Landschaftsbild!

Image

73 Ablagerungen einer „Mure“ (schnell fließender Schlammstrom aus Steinen, Schutt, Erdreich und Wasser), die hier im Maira-Tal (Cottische Alpen) nicht den Talboden erreichte, sondern in 2000 m Höhe in einem flacheren Teil des Hanges endete (September 2016).

Am Ende der letzten Eiszeit war die sprunghafte Naturdynamik in den Alpen am stärksten ausgeprägt: Die noch vegetationsfreien Hänge hielten den Abfluss der Niederschläge nicht zurück, und überall gab es leicht umlager- und erodierbares Moränenmaterial. Die Klimaerwärmung förderte den Prozess der Frostsprengung und mobilisierte zahlreiche, zuvor vom Eis zusammengehaltene Schuttflächen. Viele steile Felsflanken, die bislang durch Gletschereis gestützt wurden, brachen nach dem Abschmelzen der Gletscher in großen Bergstürzen zu Tal.

Nach ein- bis zweitausend Jahren waren diese durch das Ende der Eiszeit ausgelösten hochdynamischen Prozesse zwar erst einmal abgeschlossen, aber bis heute gibt es in den Alpen noch zahlreiche labile Situationen. Ein Beispiel dafür sind die Bergstürze im Veltlin 1987, bei Randa/Zermatt 1991 und bei Bondo/Bergell 2017.

Etwa gleichzeitig mit dem Nachlassen der außergewöhnlich starken nacheiszeitlichen Landschaftsdynamik begannen die Alpen, sich wieder mit einer Vegetationsdecke zu überziehen. Diese trägt – besonders in Form der Wälder – zu einer Dämpfung der sprunghaften Naturprozesse bei: Erstens wird dadurch das Mikroklima ausgeglichener und temperierter, also weniger extrem trocken oder extrem nass bzw. extrem heiß oder extrem kalt. Zweitens sorgt das Wurzelwerk der Bäume dafür, dass ein erheblicher Teil des Niederschlags nicht sofort abfließt, sondern dass er für einige Zeit gespeichert und dann langsam abgegeben wird. Und drittens sorgt die Vegetationsdecke dafür, dass die Bodenerosion gering gehalten wird und Steinschlag und Lawinen so stark abgebremst werden, dass sie oft den Talboden nicht mehr erreichen.

Image

74 Eine Endmoräne aus der letzten Eiszeit im Neraissa-Seitental (Cottische Alpen) zwischen 1700 und 2100 m, die im Jahr 1890 während eines besonders intensiven Starkregens plötzlich aufgerissen und erodiert wurde. Während des Erosionsereignisses wurden große Mengen des lockeren Moränenmaterials talwärts verfrachtet, und im Moränenkörper entstanden zahlreiche Rippen und Grate. Dort, wo das Moränenmaterial gegen den fallenden Starkregen durch einen Stein abgeschirmt wurde, blieb ein Moränenpfeiler, eine „Erdpyramide“ stehen. Wie historische Bilder aus dem Jahr 1910 belegen, haben sich diese Erdpyramiden seitdem kaum verändert, obwohl sie so fragil aussehen. Es braucht ein neues, außergewöhnliches Niederschlagsereignis, damit sie so plötzlich verschwinden, wie sie entstanden sind (September 1984).

Die Waldvegetation, in abgeschwächter Form aber auch die Zwergsträucher und die Rasen der alpinen Stufe sorgen also für eine Abschwächung der Dynamik besonders sprunghafter Prozesse im Alpenraum. Dies gilt aber vor allem für die unteren Höhenlagen, während die vegetationsfreien höchsten Lagen weiterhin stark durch sprunghafte Naturdynamiken geprägt sind.

Weil in den Alpen Berg- und Tallagen eng miteinander verzahnt sind, erreicht die sprunghafte Dynamik der höchsten Lagen regelmäßig auch die tiefen Täler. Dies ist eines der charakteristischen Merkmale des Naturraums Alpen. Daran ändert auch der Wald nichts, der zwar viele sprunghafte Prozesse des Hochgebirges dämpfen, aber nicht verhindern kann. Wer sich in den Alpen aufmerksam umsieht, kann die Resultate dieser Prozesse überall in der Landschaft erkennen.

Image

75 Ein Felssturz in 1350 bis 1000 m Höhe im Gasteiner Tal (Hohe Tauern). Weil herabstürzende Felsen Teile des Ortes Bad Hofgastein bedrohten, mussten sie mehrmals kurzzeitig evakuiert werden (April 2018).

Image

76 Ein Felssturz am Gran Tournalin, 3379 m (Ayas-Tal, Monte Rosa-Massiv), der in etwa 2000 m Höhe endet (August 2017).

Den Naturraum Alpen können wir also zusammenfassend so charakterisieren:

Die Alpen sind ein junges, kettenförmiges Hochgebirge, das im Zentrum Europas im Übergangsbereich vom kühl-gemäßigten zum mediterranen Klima liegt. Sie weisen einen komplizierten geologischen Bau auf, der mit zahlreichen labilen Gesteinsformationen verbunden ist. Als „Regenfänger“ verzeichnen sie sehr hohe Niederschläge. Weil die Gebirgshebung noch andauert, sind die Prozesse des Gesteinsabtrags in hohen Lagen sowie der Ab- und Umlagerung in tiefen Lagen sehr aktiv. In Verbindung mit dem steilen Relief und den hohen Niederschlägen führt dies dazu, dass viele Naturprozesse in sprunghafter Form, als plötzlich auftretende Ereignisse ablaufen. Die Vegetation im Alpenraum, vor allem der Bergwald, kann diese Dynamik zwar dämpfen, aber nicht verhindern.

Die Landschaften der Alpen sind direkter Ausdruck dieser Eigenschaften des Naturraums Alpen: Ihr Hauptcharakteristikum ist fast überall ein steiles Relief mit klaren Unterschieden zwischen den hohen Lagen (Dominanz Abtrag, Zurücktreten der Vegetation) und den tiefen Lagen (Dominanz Ab- und Umlagerung, Zurücktreten des Ödlandes), die jedoch stets miteinander verzahnt sind. Dieser landschaftliche Kontrast ist das zentrale Merkmal aller Landschaften der Alpen.

Image

77 Hohe und tiefe Lagen sind in den Alpen stets eng miteinander verzahnt. Hier der Illgraben (2025–1450 m) in den Walliser Alpen, der im Rhonetal zwischen Leuk und Sierre einen großen Schwemmkegel aufgebaut hat (August 2009).