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78 Das Oberinntal (Tirol) mit der Grenze zur Schweiz (links oben) und der Terrasse von Ladis – Fiss – Serfaus in 1400 m Höhe (Bildmitte). Der Talboden des Inns war früher kaum besiedelt und nur extensiv nutzbar; die historischen Siedlungskerne mit der ortsnahen Flur liegen oberhalb des Inns auf einem flacheren Hangstück, darüber der Bannwald und darüber die Almbereiche. Gut erkennbar ist, wie klein der Dauersiedlungsraum mit seinen Fluren ist (September 2013).

Wie bereits mehrfach angesprochen sind die Alpen keine Natur- und auch keine naturnahe Landschaft, sondern sie wurden vom Menschen im Laufe seiner Geschichte tiefgreifend ökologisch verändert und umgestaltet.

Der Fachbegriff „Kulturlandschaft“ besagt, dass eine Naturlandschaft vom Menschen zum Zweck seiner Lebenssicherung umgestaltet und verändert wurde; in Europa ist die wichtigste Veränderung die Rodung von Teilen des Waldes, um Siedlungs-, Acker-, Wiesen- und Weideflächen zu gewinnen.

„Traditionell“ besagt, dass es sich um Kulturlandschaften handelt, die aus der Zeit der Agrargesellschaft, also aus der vorindustriellen Zeit stammen. Diese Gesellschaften leben auf der Grundlage der Nutzung der Sonnenenergie (Wachstum von Nutzpflanzen und Haustieren) und des Einsatzes von viel menschlicher Handarbeit, was noch heute an der Art und Weise der Landschaftsgestaltung erkennbar ist.

Da sich in den Alpen zahlreiche traditionelle Kulturlandschaften – wenn auch oft nur noch in Reliktformen oder auf Restflächen – bis heute erhalten haben, und da man die Modernisierung der Alpen nicht versteht, wenn man diese Ausgangssituation nicht kennt, werden in diesem Kapitel die traditionellen Kulturlandschaften der Alpen näher vorgestellt.

Das Wissen um diese Themen ist jedoch heute fast vollständig verschwunden, deshalb fällt dieses Kapitel etwas umfangreicher als die anderen aus. Dabei werden folgende Themen vorgestellt:

1. Zuerst wird gezeigt, dass die Alpen keineswegs überall ein Ungunstraum sind, sondern dass sie dem Menschen teilweise sogar gute und sehr gute Lebens- und Nutzungsbedingungen bieten.

2. Das größte Problem für den Menschen stellt die sprunghafte Naturdynamik dar, die für die Alpen als junges Hochgebirge charakteristisch ist. Will der Mensch dauerhaft in den Alpen leben, muss er lernen, diese Bedrohung zu minimieren. Das damit verbundene bäuerliche Erfahrungswissen hat sich im Laufe von Jahrhunderten entwickelt und kann in fünf „Strategien“ zusammengefasst werden. Auf diese Weise ist es gelungen, die Kulturlandschaften der Alpen langfristig stabil zu halten, obwohl sie künstliche, also vom Menschen geschaffene Landschaften darstellen.

3. Das zentrale Charakteristikum aller alpinen Kulturlandschaften ist ihre vertikale Höhenstaffelung, die zu „alpenspezifischen“ Nutzungsformen führt. Weiterhin sind diese Kulturlandschaften durch eine hohe Artenvielfalt und eine große landschaftliche Vielfalt geprägt. Dadurch wirken sie auf fremde Besucher als „schön“, und die Einheimischen erleben sie als unverwechselbare Heimat.

4. und 5. Da die Vielfalt der Kulturlandschaften in den Alpen so groß ist, dass sie hier nicht dargestellt werden kann, werden wenigstens die zentralen Unterschiede zwischen den Kulturlandschaften der Alt- und der Jungsiedelräume vorgestellt. Diese betreffen die Baumaterialien der Gebäude, die Siedlungs- und Flurformen, das Verhältnis Ackerbau – Viehwirtschaft – Wald sowie die Kultur, also die gesamte Bandbreite bäuerlicher Kulturlandschaften.

6. Im Abschnitt „Transitorte, Bergbau, Märkte und Städte“ geht es darum, dass die Alpen traditionellerweise keineswegs ein rein bäuerlicher Lebensraum sind, sondern dass sie bereits sehr früh auf verschiedene Weise in europäische Arbeitsteilungen eingebunden sind und deshalb keine Sonderentwicklung in Europa durchlaufen können.

7. Auch bei der religiösen Gestaltung der Landschaft, die heute noch in den Alpen sehr präsent ist, zeigt sich, wie eng die Alpen mit der europäischen Kultur- und Geistesgeschichte verflochten sind und wie wenig sie einen eigenen Mikrokosmos, eine „Welt für sich“ darstellen.

Die Abschnitte 6 und 7 zeigen zum Abschluss dieses Kapitels, dass die Alpen schon lange vor Einsetzen der Moderne keineswegs eine abgeschlossene, archaische Selbstversorgerwelt waren, wie sich das die Touristen im 18. und 19. Jahrhundert vorstellten, sondern sie waren auf vielfältige Weise wirtschaftlich, kulturell und politisch mit Europa verflochten.

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79 Die traditionelle Kulturlandschaft erstreckt sich in den Alpen über mehrere Höhenstufen, weil die talnahen Flächen relativ klein sind. Im Neraissa-Seitental (Cottische Alpen) wurden alle flacheren Hangteile gerodet, während auf den steileren Flächen der Wald stehen gelassen wurde. Der Talboden liegt auf 1500 m Höhe, und er wurde zusammen mit den untersten Berghängen – wie an den Ackerterrassen ersichtlich – bis 1965 als Acker genutzt (heute Wiesen). Die Flächen darüber waren bis 1965 Wiesen, die bis in 2100 m Höhe reichten (heute Weiden), und darüber erstreckten sich bis zum Grat in 2286 m Höhe die Almweiden (heute im oberen Teil ungenutzt). Die gleichzeitige Nutzung aller Höhenstockwerke führte früher zu permanenten Wanderungen aller Menschen – auch der Kinder – bergauf und bergab. Traditionelle Bauerngesellschaften waren völlig fassungslos, als die ersten Touristen kamen und einfach nur zum Vergnügen auf die Berge stiegen, weil die Bauern diese Anstrengung für völlig sinnlos hielten (September 1984).

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80 In den Alpen gibt es viele große und weite Hochflächen, die sich sehr gut als Viehweide eignen. Hier eine Hochfläche in 2000–2200 m Höhe im Maira-Tal (Cottische Alpen), die im Naturzustand mit Wald bedeckt war und die zum Zweck der Weidenutzung spätestens im Mittelalter gerodet wurde (August 2016).

Die Alpen – kein Ungunstraum für den Menschen

Die Wurzeln der europäischen Landwirtschaft liegen im Vorderen Orient: Hier wurden um 10.000 v. Chr. in den Gebirgen der heutigen Staaten Syrien, Türkei, Irak und Iran die ersten Getreidesorten kultiviert und Ziege und Schaf, später auch Rind und Schwein domestiziert. Ab 8000 v. Chr. dringt diese Innovation nach Europa vor, das im Mittelmeerraum ähnliche Naturbedingungen wie im Entstehungsgebiet aufweist, während Mitteleuropa wegen seines feuchteren und kühleren Klimas dafür ein etwas schwierigeres Umfeld bietet. Dabei wird das landwirtschaftliche Muster des Vorderen Orients in Europa nicht verändert: Ackerbau und Viehwirtschaft werden überall gemeinsam betrieben, um eine vollständige Ernährung zu ermöglichen.

Damit sind zugleich die ökologischen Ansprüche der Landwirtschaft abgedeckt: Der Ackerbau benötigt ein warmes Klima mit hoher Sonnenscheindauer, die Viehwirtschaft dagegen stellt geringere Ansprüche und kann auch noch bei größerer Feuchtigkeit und kühleren Temperaturen betrieben werden. Deshalb ist der Ackerbau in der Regel in Europa der limitierende Faktor: Wo kein Getreide mehr wächst, können auch die besten Weideflächen nicht mehr genutzt werden, weil man sich von den Produkten der Viehwirtschaft allein nicht ernähren kann.

Auch in den Alpen stellt der Ackerbau die kritische Größe dar: Nur in den inneralpinen Trockenzonen und im mediterran geprägten Südsaum der Alpen ist es für ihn warm und trocken genug. Zwar gelingt es bereits in vorrömischen Zeiten, Getreidesorten zu züchten, die bis in 2000 m Höhe wachsen können, aber diese Anpassung wird durch ein sehr starkes Absinken des Ertrags erkauft. Der Ackerbau ist daher in starkem Maße auf die tieferen Lagen beschränkt, und diese sind in den Alpen nicht besonders flächengroß, dafür aber nach der Waldrodung gut nutzbar.

Viel besser sieht dagegen die Lage für die Viehwirtschaft aus. Schafe und Ziegen sind gebirgsgängig und von Vorderasien her an eine karge Vegetation angepasst. Sie können die weiten, waldfreien Hochflächen der Alpen sehr gut nutzen, die dank Schnee- und Gletscherschmelze auch im Sommer und Herbst gut durchfeuchtet sind und hohe Erträge liefern. Wenn man hier die Tiere nicht nur weiden lässt, sondern ihre Milch zu Käse verarbeitet, der längere Zeit haltbar ist (Almwirtschaft), dann kann der Ertrag der Hochflächen noch einmal gesteigert werden.

Damit können wir das Grundmuster der alpinen Landwirtschaft so beschreiben: Der Ackerbau wird in der Regel auf den besten Böden im Talbereich betrieben, während sich die Viehwirtschaft auf die Flachreliefs der höheren und hohen Lagen konzentriert. Damit steht dem arbeitsintensiven und flächenkleinen Ackerbau eine arbeitsextensive und großflächige Viehwirtschaft gegenüber, wobei beide Bereiche vertikal in der Höhe übereinander gestaffelt sind. Auf diese Weise können die Alpen durchaus gut landwirtschaftlich genutzt werden, wie die Besiedlung beweist, die bereits um 6000 v. Chr. einsetzt.

Diese Aussage gilt aber nur für die inneralpinen Trockenzonen und den mediterran geprägten Südsaum der Alpen, also für etwa die Hälfte der Alpenfläche. Die kontinental geprägten östlichen Ostalpen und der feuchte und kühle Nordsaum der Alpen sind dagegen ein Ungunstraum, genau wie die Mittelgebirge in Mitteleuropa und ganz Nordeuropa. Sie sind lange Zeit nur dünn besiedelt und werden erst ab dem Mittelalter auf der Grundlage einer Innovation in der Landwirtschaft flächenhaft genutzt.

Darüber hinaus wertet aber auch eine nicht landwirtschaftliche Ressource die Alpen zusätzlich auf: Die Alpen sind reich an kleinen Lagerstätten für Gold, Silber, Kupfer und andere Metalle sowie für Salz. Dies sorgt seit vorgeschichtlichen Zeiten für einen blühenden Bergbau, der die landwirtschaftliche Nutzung in seiner Nähe stark intensiviert und durch den die Alpen eng mit anderen europäischen Wirtschaftsregionen verflochten werden.

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81 Traditionelle Kulturlandschaften auf der Südseite des Monte-Rosa-Massivs (rechts oben der Monte Rosa, der Blick geht ins Enderwasser-Tal oberhalb der Walsersiedlung Rimella, ganz vorn die Alpe Pianello, 1800 m): Die Ackerflächen liegen im Tal und sind nicht sichtbar. In der Bildmitte und im Vordergrund sind auf den Hängen zahlreiche gerodete Wiesen- und Weideflächen zu erkennen. Das Bild wurde in einer Höhe von 1950 m aufgenommen, und im Naturzustand hätte hier Wald gestanden (September 2015).

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82 Diese Hänge im Urseren-Tal bei Realp (Urner Alpen), die in einer Höhe zwischen 1500–2100 m liegen, wurden vollständig gerodet, um im engen Tal genügend Wiesenflächen zu erhalten. Wenn hier im Winter Lawinen abgehen, stört das nicht, weil keine Gebäude auf dem Talboden liegen. Nur oberhalb der Dörfer wurde der Wald gezielt als Lawinenschutz stehen gelassen (Juli 2017).

Da in den Alpen große waldfreie Gebiete fehlen, bedeutet Landwirtschaft immer Waldrodung. Genauer gesagt: Man muss für den Ackerbau Wald roden, während man Schafe und Ziegen in einer langen Anfangszeit auf den alpinen Rasen oberhalb des Waldes oder im Wald weiden lassen kann.

In Hinblick auf die mühsame Waldrodung bieten die Alpen einige Vorteile: Der Wald ist oft von Lawinenrinnen durchzogen und bietet an diesen Stellen gute Weidemöglichkeiten, weil die Lawinenablagerungen den Boden düngen und für eine üppige Vegetation sorgen. Und die zahlreichen Schwemmkegel im Tal, die dem Ackerbau eine sehr gute Bodenqualität bieten, sind häufig nur mit einem lückenhaften Wald bedeckt und daher leicht zu roden.

Lediglich diejenigen Teilflächen, die unserem heutigen Blick nach eigentlich optimal nutzbar wären, nämlich die breiten Talauen, sind ausgesprochene Ungunstflächen: Die regelmäßigen Hochwasser sowie die hohe Dynamik der Umlagerungsstrecken sind für den Menschen so bedrohlich, dass er diese Gebiete in der vorindustriellen Zeit weder besiedeln noch intensiver nutzen kann; sie dienen lediglich in Zeiten mit niedrigem Wasserstand als extensive Viehweide. Diese Talauen werden erst im 19. und 20. Jahrhundert mittels Begradigung, Eindämmung und Tieferlegung der Flüsse sowie Entwässerung der gesamten Aue zu intensiv genutzten Gebieten umgewandelt, und sie werden sogar erst nach 1955 zum Standort von Dauersiedlungen.

Damit stellen größere Teile der Alpen im Rahmen der vorindustriellen Agrargesellschaften einen günstigen Raum für den Menschen dar, dessen spezifische Nachteile durch eine Reihe von Vorteilen mehr als aufgewogen werden. Das Bild der Alpen als Ungunstraum und als benachteiligte Region wird viel stärker vom Bild der „Alpen im Kopf“ als von der realen Situation bestimmt.

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83 Vorn die vergleichsweise kleinen Ackerfluren im Dauersiedlungsraum (als Wiese genutzt), hinten die großflächigen Almweiden auf Hochflächen, die im Naturzustand bewaldet waren und die sehr langsam wieder zu verwalden beginnen. Die steilen, nordexponierten Hänge in der Mitte waren früher mosaikförmig aufgelichtet (Wiesen und Weideparzellen), und sie wurden vor 70 Jahren aufgeforstet. Das Bild zeigt vorn Weiler in der Gemeinde Prazzo im Maira- Tal (Cottische Alpen) in 1500 m Höhe, die Almflächen liegen zwischen 2000 und 2200 m, und ganz hinten sind die Ligurischen Alpen (links die Punta Marguareis, 2651 m) zu erkennen (September 1983).

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84 Kulturlandschaften in den Dolomiten: Das Valle di Duron, ein Seitental des Fassa-Tales, wurde in den Eiszeiten in ein Trogtal umgewandelt und vom Menschen im Hohen Mittelalter gerodet. Der etwa 1850–1900 m hoch gelegene Talboden und die Almbereiche wurden gerodet, und auf den Steilhängen wurde meist der Wald stehengelassen. Links oben Langkofel, 3181 m, und Plattkofel, 2964 m, hinten die Sellagruppe (August 2008).

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85 Bannwald (Schutzwald) über dem Ort Realp, 1538 m, im glazial geprägten Urseren-Tal (Urner Alpen); seine Untergrenze liegt bei 1630 m, seine Obergrenze bei 1880 m. Der Gipfel etwas links der Bildmitte ist der Spitzberg, 2935 m. Der Bannwald im 9 km entfernten Andermatt ist seit dem 25. Juli 1397 streng geschützt, und dieser Schutz gilt bis heute (Oktober 1989).

Strategien zum Leben mit einer sprunghaften Naturdynamik

Wenn Menschen in den Alpen sesshaft werden und beginnen, Landwirtschaft zu betreiben, dann stellt für sie die sprunghafte Naturdynamik (siehe Kapitel 2) eine permanente Bedrohung dar. Und da sie zur Gewinnung von Acker-, Wiesen- und Weideflächen Wald roden müssen, der der beste Schutz gegen Erosion, Lawinen und Hochwasser ist, verstärken sie diese Naturdynamiken durch die Anlage ihrer Kulturlandschaften sogar noch zusätzlich.

Deshalb können Bauerngesellschaften die Alpen nicht „einfach so“ für Ackerbau und Viehwirtschaft nutzen, sondern sie müssen ihre Nutzung so gestalten, dass diese dynamischen Prozesse sie nicht direkt bedrohen und dass auf allen genutzten Flächen die sprunghafte Naturdynamik gedämpft wird. Dies gilt grundsätzlich für alle Bauerngesellschaften weltweit, aber es wird im Alpenraum besonders eindrücklich sichtbar. Das einschlägige Erfahrungswissen aus den Alpen lässt sich in fünf Strategien zusammenfassen.

Die erste Strategie lautet, dass der Wald nicht überall gerodet werden darf, um Kulturland zu gewinnen, sondern dass er auf allen steileren und/oder schattigeren Hängen stehen bleiben muss, wo er als Lawinen- und Erosionsschutz unverzichtbar ist. Dies kann man heute noch im Landschaftsbild erkennen, weil die steilen Flächen in der Regel mit Wald bestockt sind, während sich das Kulturland auf die flacheren Gebiete konzentriert. Am Beispiel der „Bannwälder“ ist diese Strategie besonders gut sichtbar. Diese stehen seit dem Mittelalter unter strengem Schutz, was deutlich macht, dass bereits damals die Folgen von Waldrodungen bekannt sind.

Indem man Grenzen für die Ausweitung des Kulturlandes festlegt und akzeptiert und bestimmte Wälder bewusst nicht rodet, versucht man also, das Auslösen von besonders heftigen und existenzgefährdenden Naturdynamiken zu vermeiden.

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86 Hänge im Obersimmental etwas unterhalb des Jaun-Passes, 1509 m. Bewusst wurden hier nur die flacheren Hangteile gerodet, während auf allen steileren der Wald als Lawinen- und Erosionsschutz stehen gelassen wurde (August 1982).

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87 Die traditionellen Siedlungen der Alpen liegen so, dass sie vor Steinschlag und Lawinen geschützt sind, so wie hier die Almsiedlung Prato Rui, 2021 m, vor der Rocca Senghi, 2450 m, im Varaita-Tal/ Cottische Alpen (August 2016).

Die zweite Strategie besteht darin, denjenigen sprunghaften Prozessen systematisch auszuweichen, deren Dynamik so groß ist, dass sie vom Menschen nicht kontrolliert werden kann.

Dies betrifft zum einen die Anlage von Siedlungen: In Gebieten, die von Lawinen, Steinschlag oder Hochwasser bedroht sind, werden keine Gebäude errichtet, was die Menschen teilweise erst mühsam lernen müssen. Zahlreiche traditionelle Siedlungen entstehen an Plätzen, die uns heute als „unlogisch“ erscheinen, die aber den großen Vorteil einer sicheren Lage haben. Lediglich die Siedlungen auf den Schwemmkegeln bilden dabei eine gewisse Ausnahme: Sie sind zwar vor den großen Hochwässern des Hauptflusses, nicht jedoch vor denen des Seitenbaches geschützt. Diese Gefährdung wird jedoch wegen der besonders großen Vorteile (sehr guter Boden) in Kauf genommen.

Die Strategie des Ausweichens betrifft zum anderen Flächen, die regelmäßig überschwemmt, von Felsstürzen überdeckt oder häufig vermurt werden. Solche Flächen werden entweder gar nicht oder nur extensiv genutzt. Wenn man sie nur bei gutem Wetter mit Schafen und Ziegen beweidet, kann man sie sinnvoll nutzen, zumal man auf Gefahren schnell reagieren kann.

Dieses Ausweichen vor Gefahren war früher völlig selbstverständlich. Es muss heute jedoch gesondert erwähnt werden, weil es unsere moderne Gesellschaft mit ihrem technischen Naturumgang als Zumutung ansieht.

Die dritte Strategie besteht in der kleinräumigen Gestaltung der Nutzung gemäß den vorgefundenen naturräumlichen Strukturen. Typisch für die Alpen ist ja der häufige Wechsel von Gesteinsfolgen und die Überprägung aller Flächen durch die Eiszeiten mit ihren Moränenablagerungen. Dies führt zu extrem kleinräumigen Landschaftsstrukturen mit zahllosen nebeneinander liegenden Mikrostandorten, die sich oft in Hinblick auf Trockenheit, Feuchtigkeit, Bodenqualität, Steilheit, Besonnung usw. deutlich unterscheiden. Würde man diese Standorte alle auf die gleiche Art und Weise nutzen wollen, müsste man diese Unterschiede ausgleichen, also zu trockene Flächen bewässern, zu feuchte entwässern, zu steile Flächen abflachen, zu magere Flächen gezielt düngen usw., also die Landschaft großflächig vereinheitlichen und homogenisieren. Dies würde die Gefahr von Bodenerosionen, Lawinen, Hochwasser oder Muren stark ansteigen lassen.

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88 Kleinräumiges Muster der traditionellen Kulturlandschaft um den Weiler Baletti, 1673 m, herum (Gemeinde Elva im Maira-Tal, Cottische Alpen). Die bewässerten Wiesen auf den ehemaligen Ackerparzellen sind hellgrün, die nicht bewässerten Wiesen darüber gelbgrün, im Vordergrund die gelben Weideflächen; auf den steilen Flächen stockt der Wald (September 1984).

Die traditionellen Bauerngesellschaften haben so nicht gehandelt: Im Rahmen eines Landwirtschaftssystems, das auf der Nutzung von Sonnenenergie und Handarbeit basiert, bringt die Vereinheitlichung der Nutzflächen kaum Vorteile (dies ändert sich erst beim Einsatz von Maschinen). Wenn man hingegen die naturräumliche Kleinräumigkeit bei der Nutzung berücksichtigt, erhöht das die ökologische Stabilität der Nutzflächen und reduziert ihre Anfälligkeit für dynamische Prozesse.

Die ausgeprägte Kleinräumigkeit der traditionellen Kulturlandschaften, die man heute oft noch gut sehen kann, ist also ebenfalls eine Strategie zur Dämpfung der sprunghaften Naturdynamik.

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89 Eine Schafherde auf einer Alm in 2000 m Höhe, im Hintergrund die Seealpen. Nur wenn Hirten mit Hütehunden den Weidegang der Schafe kontrollieren, wird die Vegetationsdecke der gesamten Alm gleichmäßig abgeweidet, ohne dass Über- oder Unternutzung entsteht (Juli 2004).

Die vierte Strategie zur Dämpfung der sprunghaften Naturdynamik besteht darin, das richtige Maß der Nutzung herauszufinden, also die Mitte zwischen einer zu extensiven und einer zu intensiven Nutzung, denn in diesem Fall kann sich die Vegetationsdecke während und mit der Nutzung am besten regenerieren.

Wird eine Weide zu extensiv genutzt, befinden sich also zu wenige Tiere auf einer bestimmten Fläche, dann fressen die Tiere selektiv nur die besten Futterkräuter und lassen den Rest stehen; in wenigen Jahren wird diese Weide durch „Weideunkräuter“ dominiert, die vom Vieh nicht gefressen werden, es kommen Sträucher und Bäume auf und die Weide verschwindet.

Wird eine Weide dagegen zu intensiv genutzt, befinden sich also zu viele Tiere auf einer bestimmten Fläche, dann fressen die Tiere alles ab, sodass sich die Vegetation nicht mehr regenerieren kann und vegetationsfreie Stellen immer größer werden. In wenigen Jahren ist die Vegetationsdecke weitgehend verschwunden, die Bodenerosion setzt ein und die Weide verschwindet ebenfalls.

Gleiches gilt für Beginn und Ende der Weidezeit und für die Weidedauer: Wird eine Weide zu früh im Jahr genutzt, wird der Prozess der Samenbildung und des Pflanzenwachstums gestört, wird sie dagegen zu spät im Jahr genutzt, so ist der Futterwert der Pflanzen sehr gering. Wird eine Weide zu lange genutzt, kann sich die Vegetationsdecke nur noch schlecht regenerieren, wird sie dagegen zu kurz genutzt, können sich Sträucher und Bäume schnell ausbreiten.

Wenn eine Weide also dauerhaft als produktive Weide genutzt werden soll, sodass sie weder durch Verbuschung noch durch Bodenabtrag verschwindet, so braucht es dafür eine ganz bestimmte Anzahl Tiere und ein ganz bestimmtes Datum für Beginn und Ende der Nutzung. In diesem Fall wird die Vegetationsdecke der Weide gleichmäßig abgefressen, ohne dass übrig bleibende größere Pflanzen einen Angriffspunkt für Bodenerosion bilden (sie würden im Winter durch Kriechschnee oder Lawinen leicht herausgerissen), und die Vegetationsdecke wird im Laufe der Zeit sehr dicht und gleichmäßig. Dadurch bildet sie einen guten Schutz vor Bodenabtrag (große Fähigkeit, Wasser zu speichern und geringe Ansatzpunkte für Erosion) und vor Lawinen (der Schnee rutscht auf einer gleichmäßig kurzen Vegetationsdecke nur schwer ab, während sich langes Gras beim ersten Schnee nach unten legt, sodass gute Gleitbahnen für Lawinen entstehen).

Ähnliches gilt für Wiesen: Mäht man zu selten, also weniger als einmal pro Jahr, dann kommen Sträucher und Bäume auf, mäht man zu häufig, also mehr als zwei- oder dreimal pro Jahr, dann bleiben nur wenige robuste Pflanzenarten übrig und die Artenzahl geht zurück. Aus dem sehr unterschiedlichen Wurzelhorizont mit einer Mischung aus Flach- und Tiefwurzlern wird dann ein einheitlicher Wurzelhorizont, der eine Art Gleitschicht ausbildet, die das Abrutschen des Oberbodens fördert und die Fähigkeit der Böden zur Wasserspeicherung reduziert.

Das richtige Maß der Nutzung ist also sehr entscheidend dafür, dass die menschlich genutzte Vegetationsdecke stabil und dicht bleibt, dass sie eine gute Biomasseproduktion gewährleistet, und dass sie die sprunghafte Dynamik dank hoher Wasserspeicherfähigkeit und als wirksamer Erosions- und Lawinenschutz dämpft.

Die Suche und die Beachtung des richtigen Maßes der Nutzung prägt alle Nutzungsformen der traditionellen Bauerngesellschaften in den Alpen. In vielen Fällen sind es Regelungen, die mündlich weitergegeben werden, die aber trotzdem einen verbindlichen Charakter besitzen. Am deutlichsten lässt sich diese Strategie an den gemeinschaftlich genutzten Almen erkennen: Hier besteht die Gefahr, dass sich einzelne Nutzer zu Lasten der Gemeinschaft einen Vorteil verschaffen, indem sie individuell zu intensiv wirtschaften. Deshalb werden in den Almsatzungen die Rahmenbedingungen der „richtigen“ Almnutzung bis ins letzte Detail schriftlich festgelegt und genau überprüft (genaue Zahl der Tiere, Beginn und Ende der Almzeit usw.).

Wegen der großen kulturellen und ökologischen Bedeutung im Umgang mit der Umwelt sind inzwischen alpenweit eine Reihe von Almsatzungen in das Verzeichnis des immateriellen Weltkulturerbes des UNESCO aufgenommen worden.

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90 Sogenannte „Viehgangeln“ bei Gsteig (Berner Alpen) in ca. 1800 m Höhe. Solche treppenartigen Viehwege entstehen auf allen steileren Weideflächen durch die Angewohnheit der Rinder, beim Weiden hangparallel zu gehen und dabei mit dem Kopf nach oben zu fressen. Auch hier ist das richtige Maß entscheidend: Sind zu viele Tiere auf der Weide, dann werden die Viehgangeln tief ausgetreten und fördern den Bodenabtrag; bei der richtigen Zahl der Tiere können die Viehgangeln wie hier jedoch den Boden festigen und durch die leichte Terrassierung sogar zusätzlich stabilisieren (September 2006).

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91 Weil auf allen geneigten Ackerflächen das fließende Wasser Boden abträgt und weil die Erde bei der Bodenbearbeitung mit Pflug und Haue hangabwärts verlagert wird, ist das „Erd-Auftragen“ vom unteren zum oberen Rand der Ackerparzelle eine der wichtigsten und zugleich anstrengendsten der traditionellen Pflegearbeiten im Frühjahr, das nicht zufällig auch „Erd-Aufschinden“ genannt wird. Hier ein Beispiel aus dem Tuxer Tal in Tirol (Tuxer Alpen), das von Erika Hubatschek im Jahr 1943 aufgenommen wurde.

Die fünfte Strategie besteht darin, die Kulturlandschaft mittels einer großen Menge von Pflege- und Reparaturarbeiten jeweils dort gezielt zu stabilisieren, wo sie als menschlich geschaffenes Ökosystem immer wieder durch natürliche Prozesse instabil wird. Dies sind einerseits regelmäßige Pflegearbeiten, andererseits periodisch anfallende Reparaturarbeiten.

Die meisten der regelmäßigen Pflegearbeiten werden im Frühling und Frühsommer ausgeführt. Dazu gehört das „Erd-Auftragen“ auf allen geneigten Ackerflächen, das Beseitigen der Schnee- und Lawinenschäden an Wegen, Zäunen oder Wasserleitungen und das Wegräumen von Steinen und Schutt aus dem gesamten Kulturland, das durch Lawinen im Laufe des Winters dort abgelagert wird. Im Hochsommer werden die Bachbetten gesäubert, damit sich kein Material ansammelt, das einen Stau oder gar eine Mure auslösen könnte, und auf den Almen werden die aufkommenden Sträucher und Bäume „geschwendet“, also entfernt.

Die unregelmäßigen Arbeiten fallen an, wenn nach einem heftigen Sommergewitter der Boden abrutscht und wieder gesichert werden muss, wenn eine Mure oder ein Felssturz abgegangen ist und das Kulturland von den Ablagerungen befreit werden muss, wenn ein Sturm Bäume entwurzelt hat usw. Unter Einsatz von viel Handarbeit werden die Auswirkungen der sprunghaften Naturdynamik möglichst schnell beseitigt.

Zusammenfassend kann man festhalten: Während die Strategien 1 und 2, also die Nichtnutzung von Teilflächen und das systematische Ausweichen vor zu großen Gefahren, einen präventiven Charakter besitzen, zielen die Strategien 3 und 4, also die kleinräumige Nutzung und die Ausrichtung der Nutzung am richtigen Maß, auf die Minimierung der vom Menschen durch die Waldrodung ausgelösten Naturdynamiken. Strategie 5 ist schließlich einer nachsorgenden Perspektive verpflichtet.

Mit dieser Kombination aus sehr unterschiedlichen, sich wechselseitig ergänzenden Strategien ist es den traditionellen Bauerngesellschaften in den Alpen häufig – aber nicht immer – gelungen, ihrer Kulturlandschaft diejenige ökologische Stabilität zu geben, die sie von Natur aus gerade nicht hat, die aber erforderlich ist, damit der Mensch dauerhaft in den Alpen leben kann. Zahllose Siedlungen und Fluren, die seit Jahrhunderten an der gleichen Stelle liegen und die heute noch bewohnt und genutzt werden, beweisen dies.

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92 Die Beseitigung von Lawinenschäden wurden früher oft gemeinschaftlich durchgeführt. Hier Aufräumarbeiten nach einem Lawinenabgang in St. Leonhard im Pitztal (Ötztaler Alpen), 1366 m (historisches Foto aus der Sammlung Willi Pechtl).

Die bäuerliche Kulturlandschaft ist auf diese Weise in vielen Fällen ökologisch ähnlich stabil wie die Waldgesellschaften, die zuvor auf diesen Flächen gestanden hatten. Dies gilt aber nur unter der Bedingung der permanenten Bewirtschaftung – wird diese eingestellt oder stark reduziert, dann erhalten die Naturprozesse schnell ihren sprunghaften Charakter zurück.

Bäuerliches Wirtschaften kann sich daher nicht allein auf die Produktion von Lebensmitteln konzentrieren, sondern es muss sich zugleich auch dafür verantwortlich fühlen, dass die Voraussetzung ihres Wirtschaftens, die ökologisch stabile Kulturlandschaft, erhalten bleibt. Oder anders ausgedrückt: Sie muss die Produktion so gestalten, dass der Erhalt, die „Reproduktion“ der Kulturlandschaft gewährleistet ist, denn andernfalls würde sie ihre eigene Grundlage zerstören. Diese doppelte Aufgabe gilt zwar für alle Bauerngesellschaften der Erde, sie wird aber in den Alpen besonders eindrücklich sichtbar.

Ähnlich wie alle Bauerngesellschaften denken und handeln auch diejenigen in den Alpen langfristig. Die Maxime: „Gib den Hof so an deinen Sohn weiter, wie du ihn von deinem Vater empfangen hast!“ ist dafür ein gutes Beispiel, denn sie verpflichtet den jeweiligen Hofinhaber dazu, das Anwesen in seiner Substanz zu erhalten und es nicht aus kurzfristig-individuellen Interessen zu Lasten der nachfolgenden Generation zu verschlechtern. Bauerngesellschaften wissen, dass ihre aktuelle wirtschaftliche Situation sehr stark von der Arbeit der vorangegangenen Generation abhängig ist, und sie erleben dies als Verpflichtung gegenüber den nachfolgenden Generationen. Deshalb ist ein kurzfristiges und individuell-egoistisches Handeln normalerweise wenig verbreitet. Dies kann man an zahlreichen Regelungen und Gewohnheitsrechten ablesen, bei denen jeweils der Hof, die Familie, die Alm oder das Dorf über den Interessen einer einzelnen Person steht. Ohne diesen sozialen und kulturellen Rahmen wäre die ökologische Stabilität der Kulturlandschaft nicht zu erreichen.

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93 Die Nutzungsstockwerke der traditionellen Kulturlandschaft: Die Dauersiedlung Guarda, 1653 m (Unterengadin), liegt im Tal – aus Gründen der besseren Besonnung oberhalb des Talbodens – und ist umgeben von ihren Ackerfluren, was an den Ackerterrassen gut erkennbar ist (inzwischen als Wiese genutzt). Darüber liegt der Bannwald, darüber die Almweiden und Bergmähder, die sich weit in das Tuoi-Seitental (Bildmitte oben) hineinziehen, und darüber das alpine Ödland mit dem Piz Buin, 3312 m (Mitte links). Weil die Dauersiedlung Guarda bereits relativ hoch liegt, fehlt hier das Zwischenstockwerk der Maiensässen (Oktober 1994).

Charakteristika alpiner Kulturlandschaften

Das zentrale Charakteristikum der alpinen Kulturlandschaften ist ihre vertikale Staffelung: Die Hauptsiedlung mit den wichtigsten Ackerflächen liegt unten im Tal, und die Fluren sind hier wegen des Reliefs relativ klein. Gut tausend Höhenmeter darüber erstrecken sich weitläufige Hang- und Hochflächen, die viehwirtschaftlich genutzt werden. Zwischen diesen beiden Höhenstockwerken gibt es noch ein oder mehrere Zwischenstockwerke der Nutzung, die unterschiedlich benannt werden, z.B. Maiensäss oder Voralm, und von denen es eine große Vielfalt im Alpenraum gibt.

Diese Höhen- oder Nutzungsstockwerke werden zu unterschiedlichen Zeiten schneefrei, und deshalb fallen die landwirtschaftlichen Tätigkeiten hier zu sehr verschiedenen Zeiten an. Daher ist es von zentraler Bedeutung, die Arbeiten innerhalb einer Familie so zu organisieren, dass die Familienmitglieder zum richtigen Zeitpunkt auf der richtigen Höhenstufe die dort anfallenden Arbeiten ausführen können, was permanente Wanderungen zwischen den einzelnen Höhenstufen erfordert. Dieses System der zeitlich nach der Höhe gestaffelten Nutzungen nennt man „Staffelsystem“, und es stellt das zentrale Merkmal der Landwirtschaft im Alpenraum dar, durch das sie sich von der außeralpinen Landschaft fundamental unterscheidet. Und die große Kunst besteht darin, die Erträge der einzelnen Nutzungsstockwerke so miteinander zu kombinieren, dass eine Familie davon leben kann.

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94 und 95 Da die traditionelle Landwirtschaft von der Sonnenenergie lebt, sind die Unterschiede zwischen den wärmeren und trockeneren Sonnseiten (süd-exponierte Hänge) und den kühleren und feuchteren Schattseiten (nord-exponierte Hänge) sehr wichtig: Während Sonnseiten oft bis in große Höhen gerodet und genutzt werden, sind Schattseiten häufig mit Wald bestanden. Oben ein Beispiel aus dem Almbereich (Varaita-Tal/ Cottische Alpen): Der Grat zwischen der Punta della Battagliola, 2402 m (vorn), und dem Monte Pietralunga, 2736 m (oben), bildet die Grenze zwischen der Alm auf der Sonn- und dem Wald auf der Schattseite (August 2016). Unten ein Beispiel aus dem Dauersiedlungsbereich (Stura-Tal/Seealpen): Während die Sonnseite stark gerodet und in Ackerflächen umgewandelt wurde (Höhe der Ackerflächen: 1750–2000 m), ist auf der Schattseite der Wald bewusst stehen gelassen worden (Höhe des Waldes: 1750–2200 m Höhe)(September 2014).

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96 Höhenstaffelung der Kulturlandschaft zwischen dem Walensee, 419 m, und der Bergkette der Churfirsten, 2204 bis 2306 m (Appenzeller Alpen): Gut erkennbar die Dauersiedlungen in 1000 m und die Almen/Wildheugebiete in 1500 m Höhe, die jeweils durch Felsen voneinander getrennt sind (September 2009).

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97 Im Mai ist der Unterschied zwischen den Flächen, die im letzten Jahr als Wiese oder Weide genutzt wurden, und den nicht mehr genutzten Flächen besonders gut sichtbar (hier im Neraissa-Tal/Cottische Alpen in 1200–1300 m Höhe): Während das im letzten Jahr abgemähte oder abgeweidete Gras bereits seit zwei Wochen wieder wächst, bildet das lange Gras der nicht mehr genutzten Flächen einen dichten Grasfilz, der das Wachstum der Vegetation um etwa drei bis vier Wochen verzögert: Die menschliche Nutzung fördert die frühe und schnelle Vegetationsentwicklung (Mai 1980).

Ein weiteres Charakteristikum der traditionellen Kulturlandschaften der Alpen ist ihre große Artenvielfalt, die sogar deutlich höher als im Naturzustand ist. Dies liegt einerseits daran, dass der Wald in den Alpen auf Grund seines geringen Alters noch nicht sehr vielfältig ist, andererseits an der Art und Weise der traditionellen Gestaltung der Kulturlandschaften. Dafür kann man fünf Punkte anführen:

Erstens führt die kleinräumige Nutzung der Landschaft mit der Nichtrodung von relevanten Waldflächen dazu, dass keine Pflanzen- und Tierarten aus den Alpen verschwinden, die hier vor der Besiedlung durch den Menschen heimisch waren. Dies gilt selbst für Raubtiere wie Wolf, Bär oder Luchs, mit denen Bauerngesellschaften in den Alpen mehrere Tausend Jahre lang zusammengelebt haben. Ihre Ausrottung wird erst durch die Erfindung des Gewehrs möglich, also eines Instruments, das in der Neuzeit in den Städten erfunden wird.

Zweitens sorgen der richtige Beginn und die richtige Dauer der Nutzung dafür, dass sich die Vegetationsdecke mit der Nutzung gut entwickeln kann. Die regelmäßige Mahd oder Beweidung verhindert, dass sich einige wenige Pflanzenarten zu Lasten aller anderen durchsetzen und dominant werden, weshalb vergleichsweise viele Pflanzen und Pflanzenarten Wuchsmöglichkeiten erhalten. Und da der Boden auf Weiden und Wiesen selten gedüngt wird, bleiben die Unterschiede zwischen magereren und fetteren Standorten bei der Nutzung erhalten.

Drittens ist die Kulturlandschaft sehr kleinräumig geprägt und enthält dadurch besonders viele Grenzsäume, die für die Artenvielfalt so wichtig sind. Darüber hinaus sorgt die Auflichtung der eher artenarmen Wälder dafür, dass sich die sehr artenreichen Rasengesellschaften gut ausbreiten können.

Viertens verwildern aus den Gärten der Dörfer immer wieder Blumen und Nutzpflanzen und breiten sich ins Gebirge aus. Und bei den großräumigen Schafwanderungen zwischen den Almweiden im Sommer und den Alpenvorländern im Winter werden immer wieder Pflanzensamen in der Schafwolle aus den Tiefländern in die Alpen eingebracht.

Fünftens werden mit den Getreidesorten auch die Pflanzen der Ackerbegleitflora, also die sogenannten Ackerunkräuter in die Alpen eingeführt. Alle diese Pflanzen stammen aus dem Vorderen Orient, und sie verbreiten sich schnell auch außerhalb der Äcker in den Alpen.

Die Umwandlung der Alpen in eine bäuerliche Kulturlandschaft zerstört also die Artenvielfalt nicht, sondern erhöht sie sogar noch spürbar. Deshalb liegt der Höhepunkt der Artenvielfalt im Alpenraum seit dem Ende der letzten Eiszeit in der Zeit um 1800–1850, also in der Zeit, in der die traditionelle Landwirtschaft ihren Höhepunkt erreichte.

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98 In den Südwestalpen kann man häufig den weißen Affodill sehen, die traditionelle Totenblume der Griechen, die aus Gärten heraus verwilderte und in den Alpen heimisch wurde. Hier im Stura-Tal (Cottische Alpen) in 1800 m Höhe (Juni 2015).

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99 Eine sehr artenreiche Mähwiese auf ehemaligen Ackerflächen in 1500 m Höhe: Wenn Kulturlandschaften auf die „richtige“ Art und Weise genutzt werden, dann bilden sie oft sehr artenreiche Vegetationsgesellschaften aus (Juni 2013).

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100 Die gleichmäßige Vegetationsdecke dieser Almweide in etwa 2200 m Höhe in der Nähe des Grates zwischen Maira- und Varaita-Tal (Cottische Alpen) lässt die kleinsten Geländeunebenheiten deutlich sichtbar werden. In der Bildmitte zwei ehemalige, inzwischen verwachsene Wege (Juni 1979).

Ein weiteres Charakteristikum der alpinen Kulturlandschaften besteht darin, dass wegen ihrer kleinräumigen Gestaltung alle naturräumlichen Unterschiede und Strukturen sehr viel deutlicher sichtbar werden, als wenn ein geschlossener Wald an den gleichen Stellen wachsen würde.

Der Grund dafür ist, dass nahezu alle flacheren und steileren Flächen in den Alpen ein sehr bewegtes Mikrorelief besitzen und es selten größere Flächen mit einer gleichmäßigen oder homogenen Oberfläche gibt. Dies liegt am kleinräumigen Wechsel der unterschiedlichen Gesteinsarten, an der eiszeitlichen Überprägung des Reliefs und am chaotischen Verhalten des fließenden Wassers. Die niedrige Vegetationsdecke der Kulturlandschaften macht diese Mikroformen sehr gut sichtbar, besonders wenn die Sonne schräg steht und der Schattenwurf auch kleinste Geländeunterschiede herausarbeitet. Dort, wo im Naturzustand Wald steht, verschwinden diese Unterschiede: Die langen Baumstämme und die dichten Kronen bilden meist eine relativ einheitliche Waldoberfläche aus, die die Reliefunterschiede am Boden ausgleicht und oft sogar mittelgroße Rinnen und Gräben unsichtbar macht.

Die kleinräumige Kulturlandschaft erhöht daher nicht nur die Artenvielfalt, sondern sie vergrößert auch die landschaftliche Vielfalt der Alpen sehr stark. Dies ist deswegen so wichtig, weil die Alpen von Natur aus keine offene Landschaft sind, genauer gesagt, weil sie in den unteren und mittleren Höhenbereichen keine offene Landschaft sind: Hier durchbrechen nur die Sand- und Kiesbänke in den Talauen, einige Felswände und wenige isolierte Felsgipfel die großen flächendeckenden Wälder. Diese Bereichen dürften im Naturzustand relativ gleichförmig ausgesehen haben, und es war damals kaum möglich, vom Tal aus die Berge zu sehen, weil der Wald fast überall die Sicht versperrte.

Alle Bilder dieses Kapitels zeigen Landschaften, die im Naturzustand mit Wald bedeckt wären, und sie machen damit anschaulich nachvollziehbar, welche Bedeutung die traditionelle Kulturlandschaft für die Kleinräumigkeit der Alpen besitzt.

Für Besucher von außerhalb werden die Alpen dadurch sehr viel abwechslungsreicher, vielfältiger und attraktiver als im Naturzustand, und Viele würden auch sagen, dass sie dadurch „schöner“ werden.

Für die Bewohner der Alpen dagegen besitzt die Kleinräumigkeit eine ganz andere Bedeutung: In der kleinräumigen Gestaltung der Kulturlandschaft erkennen sie ihre eigene Arbeit und die der vorangegangenen Generationen wieder, sie sehen, wie sich ihre Jahrhundertelange Arbeit im Landschaftsbild und in den Landschaftsformen niedergeschlagen hat und wie aus der abweisenden und teilweise bedrohlichen Alpennatur ein menschlicher Lebensraum geworden ist.

Solche Kulturlandschaften können mit Fug und Recht mit dem oft missbräuchlich verwendeten Begriff „Heimat“ bezeichnet werden: Sie stellen einen Teil der Natur dar, der mittels Arbeit zu einem menschlichen Lebensraum umgewandelt wurde, wobei aus der engen Verflechtung von Natur- und Kulturfaktoren im Laufe der Zeit Landschaften entstanden sind, die unverwechselbar und einmalig sind und in denen sich die lange Geschichte des menschlichen Umgangs mit der Natur auch für Laien sichtbar widerspiegelt.

Allerdings wissen diese Bauerngesellschaften, dass ihre Kulturlandschaften nicht einfach „da“ sind, sondern steter Nutzung und Pflege bedürfen und ohne sie schnell wieder verschwinden würden.

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101 Bei dieser Kulturlandschaft in 1400–1500 m Höhe im Tal des Grischbaches (Vallée des Fenils/Freiburger Alpen) kann man die kleinsten Reliefunterschiede auf den Hängen gut wahrnehmen; der Wald würde an dieser Stelle diese Unterschiede verwischen (September 2006).

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102 Die kurze Vegetation der Kulturlandschaft lässt kleinste Reliefunterschiede wie eiszeitliche Seitenmoränen oder Erosionsrinnen deutlich hervortreten: Hier am Rande der Emmentaler Alpen oberhalb des Thuner Sees bei Heiligenschwendi in etwa 1100 m Höhe (Oktober 1992).

Die traditionellen Kulturlandschaften im Alpenraum sind sichtbarer Ausdruck einer bestimmten Form der Naturnutzung (vorderasiatisches Grundmuster der Landwirtschaft, alpenspezifisch in Form von Staffelsystemen modifiziert), deren zentrales Ziel neben der Produktion von Lebensmitteln darin besteht, die sprunghafte Naturdynamik zu dämpfen und die menschlich geschaffenen Kulturflächen ökologisch stabil zu halten, also Produktion und Reproduktion eng miteinander zu verbinden. Das Produkt dieser spezifischen Mensch-Natur-Interaktion ist eine Landschaft, die die naturräumlichen Strukturen besonders stark herausarbeitet und die kleinräumiger und artenreicher ist als die Naturlandschaft. Diese Landschaft kann nur dann menschlicher Lebensraum und „Heimat“ sein, wenn der Mensch für ihre Erhaltung und Pflege Verantwortung übernimmt und dies an die nachfolgenden Generationen weitergibt – andernfalls würde die Kulturlandschaft entweder zuwachsen und im Wald verschwinden oder von Erosionen, Muren, Lawinen oder Hochwasser zerstört werden.

Diese grundsätzlichen Aussagen gelten für alle Kulturlandschaften der Alpen. Um aber ihrer großen Vielfalt etwas gerechter zu werden, stellen die beiden folgenden Abschnitte die zwei wichtigsten Kulturlandschaftsformen der Alpen etwas näher vor, nämlich die der Alt- und die der Jungsiedelräume.

Die Altsiedelräume finden sich in den Alpengebieten, die schon in römischen Zeiten relativ dicht besiedelt sind (inneralpine Trockenzonen, Südsaum der Alpen) und in denen es eine Kontinuität von Siedlungen und Traditionen von der Römerzeit bis zur Neuzeit gibt.

Die Jungsiedelräume sind in römischen Zeiten dünn besiedelt, in der Völkerwanderungszeit reißen hier Siedlungen und Traditionen ab, und ab dem Hohen Mittelalter werden diese Räume völlig neu besiedelt (Nordsaum der Alpen, östliche Ostalpen).

Beide Räume unterscheiden sich deutlich in der landwirtschaftlichen Nutzung, in der Siedlungsstruktur, in den kulturellen Werten und auch im Landschaftsbild.

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103 Im Naturzustand waren diese Hänge bis hinauf zu den Graten vollständig bewaldet. Erst durch ihre Umwandlung in Ackerflächen (bis in eine Höhe von 2000 m) und Weideflächen (oberhalb der Äcker) wird das Mikrorelief deutlich sichtbar. Rechts am Bildrand der Ort Ferriere, 1888 m (Stura-Tal/Seealpen). Der Grat oben besitzt eine Höhe von 2212 m (ganz rechts) bis 2469 m (Juli 2004).

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104 und 105 Der Ort Soglio im Bergell (Schweiz) liegt in 1097 m Höhe, also 300 Höhenmeter über dem Fluss Mera, auf einem flacheren Hangstück in gut besonnter Lage. Der Ort ist ein dicht zusammengebautes Haufendorf (links), und er wird von der ortsnahen Flur umgeben (oben), die früher als Ackerfläche genutzt wurde und die heute als Wiese der Heugewinnung dient (Juli 2017).

Altsiedelräume in den Alpen

Die Altsiedelräume der Alpen werden ab etwa 6000 v. Chr. von Süden her besiedelt, also von Menschen mit einer mediterranen Ernährungsweise (Brot, Öl und Wein). Da in den Alpen Oliven nicht wachsen, muss die Ernährungsbasis modifiziert werden: Die Produkte der Viehwirtschaft ersetzen die der Olivenkulturen, aber dem Ackerbau kommt weiterhin die zentrale Stellung zu.

In den tief gelegenen Tälern am Alpenrand hat die Viehwirtschaft nur einen randlichen Stellenwert, und sie nimmt an Bedeutung zu, je höher ein Ort im Gebirge liegt, ohne allerdings jemals den Ackerbau aus seiner dominanten Position zu verdrängen. Allerdings erfordert der Ackerbau pro Parzelle einen Arbeitseinsatz, der dreibis viermal so groß ist wie in der Viehwirtschaft, weshalb er hier immer im Zentrum der bäuerlichen Aktivitäten steht. Dies kann man auch daran sehen, dass die wichtigsten Feste im Jahreslauf mit dem Ackerbau zusammenhängen (Ernte, Brotbacken).

Diese Agrarstruktur kann man auch heute noch in der Landschaft erkennen: Die ortsnahen Fluren um die Siedlungen herum weisen fast überall Terrassen auf, wurden also früher als Ackerflächen genutzt, denn für Wiesen und Weiden wurden nie Terrassen angelegt. Diese waren auf Ackerflächen nötig, weil der Boden zwischen der Ernte und dem Wachsen der neuen Saat ohne schützende Vegetationsdecke daliegt und leicht erodiert werden kann.

Mit dieser landwirtschaftlichen Ausrichtung sind weitere Charakteristika verbunden: Ackerparzellen erfordern viel Arbeitseinsatz auf kleinen Flächen, bringen aber auch einen hohen Ertrag. Deshalb gibt es in diesen Alpenregionen eine relativ hohe Bevölkerungsdichte. Und da es für eine Familie nicht sinnvoll wäre, ihre Ackerflächen in der Flur an einer Stelle zu konzentrieren, weil dann ein Unwetter oder eine Lawine die gesamte Getreideernte eines Jahres zerstören würde, werden die Ackerflächen systematisch parzelliert und in der gesamten Flur verteilt. Damit eng verbunden ist die Erbsitte der Realteilung, bei der jedes Kind Parzellen aus dem elterlichen Erbe erhält. Man kann erst dann heiraten, wenn die Parzellen, die beide Ehepartner in die Ehe einbringen, groß genug sind, um eine Familie zu ernähren.

Diese Realteilung betrifft auch die Gebäude, die ebenfalls geteilt und dann oft durch Anbauten vergrößert werden, sodass dicht zusammengebaute Haufendörfer entstehen. Deshalb sind Gebäudeteile und Ackerparzellen stets in Bewegung und werden bei jedem Erbfall neu kombiniert.

Charakteristisch für dieses System ist weiterhin, dass eine Familie ihren Ackerbau auf eigenen Parzellen betreibt, während ihr Vieh Flächen nutzt, die im Gemeinschaftsbesitz sind (Wälder und Almen). Daher kommt der Dorfgemeinschaft im Alltag ein sehr hoher Stellenwert zu, und dies schlägt sich in großen gemeinsamen Festen nieder.

In den Altsiedelräumen der Alpen gibt es also ein relativ arbeits- und flächenintensives Agrarsystem, was heute noch an zahlreichen Landschaftsrelikten abgelesen werden kann.

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106 Esskastanien sind ein wichtiges Produkt am Südrand der Alpen. Hier Esskastanien in 950 m Höhe im Bognanca- Tal westlich von Domodossola (Lepontinische Alpen) (September 2015).

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107 Pflügen eines Kartoffelackers im Neraissa-Tal (Cottische Alpen) mit Maultier und Hakenpflug. Wegen der fast vollständigen Einstellung des Ackerbaus in den Alpen sind solche Arbeiten nur noch sehr selten zu sehen (Mai 1980).

Die Bauern der Altsiedelräume legen großen Wert darauf, neben Ackerbau und Viehwirtschaft auch etwas Wein zur Eigenversorgung anzubauen. Deshalb wird in vielen Alpentälern bis in eine Höhe von 800 oder 900 m Wein angebaut, auch wenn die Qualität aus heutiger Sicht zu wünschen übrig lässt. Und bei den Weinbergen in den großen und tiefgelegenen Längstälern der Alpen ist es oft so, dass Bauern aus benachbarten hochgelegenen Seitentälern hier Weinbergparzellen besitzen, die sie trotz weiter Wege selbst bewirtschaften, um keinen Wein kaufen zu müssen. Insgesamt gibt es in den Alpen gut 30 autochthone Rebsorten, also Rebsorten, die nur hier und nirgendwo anders vorkommen. Dies ist ein Indiz dafür, dass der Wein nicht nur von den Römern in die Alpen gebracht wurde, sondern dass wilde Weinreben vielleicht auch in den Alpen selbst kultiviert wurden.

Ein weiteres wichtiges Landwirtschaftsprodukt am Südrand der Alpen ist die Esskastanie, die im 20. Jahrhundert als „Brot der Armen“ bezeichnet wird. Sie wird oft flächendeckend bis in 900 oder 1000 m Höhe angebaut und liefert sehr hohe Erträge, wobei nicht nur die Früchte eine große Rolle spielen, sondern auch ihr vielfältig nutzbares Holz.

Darüber hinaus gibt es einige Sonderprodukte wie Lavendel oder Kräuter, die an warmen Standorten angebaut werden. Dadurch besitzt die Landwirtschaft der Altsiedelräume eine erhebliche Produktvielfalt.

Staffelsysteme haben bei ihr einen hohen Stellenwert: Der Hauptwohnsitz im Tal ist nur im Winter durchgehend bewohnt, und im übrigen Teil des Jahres hält sich die Familie in einer oder mehreren Sommersiedlungen (auch Maiensäss genannt) auf, die oft 500 m höher liegen. Solche Sommersiedlungen sehen ganz ähnlich aus wie Wintersiedlungen, es fehlt lediglich der Backofen (früher wurde nur einmal im Jahr im November gebacken), und sie haben keine Balkone (zum Trocknen und Lagern von Landwirtschaftsprodukten). Die Flur um die Sommersiedlungen herum unterscheidet sich wenig von der der Wintersiedlungen, denn auch hier dominieren die Ackerflächen. Allerdings gibt es in dieser Höhenlage mehr Wiesen als weiter unten, die dazu dienen, das Winterfutter für die Tiere zu gewinnen.

In Tälern mit besonders großen Reliefunterschieden gibt es mehrere Sommersiedlungen, um die unterschiedlichen Zeiten des Vegetationsbeginns und der Vegetationsdauer optimal zu nutzen. Den Rekord im Alpenraum hält das Val d’Anniviers im französischsprachigen Wallis, wo es früher bis zu zwanzig verschiedene Nutzungsstufen gab, um die Flur zwischen 520 m (Weinberge im Rhônetal) und 2800 m (höchste Almweiden) zu bewirtschaften; eine einzelne Familie besaß daher bis zu 70 Wohn- und Wirtschaftsgebäude!

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108 Weinbau im Susa-Tal westlich von Turin in 910 m Höhe (Cottische Alpen); darunter liegt die große Festung von Exilles, die den wichtigen Weg zum Montgenèvre-Pass seit der Bronzezeit kontrolliert und deren sichtbare Gebäude aus dem 19. Jahrhundert stammen. Da das Susa-Tal eine kleine inneralpine Trockenzone darstellt, wird hier mindestens seit der Römerzeit Wein angebaut, und es gibt hier vier autochthone Rebsorten, also Rebsorten, die nur hier vorkommen (Juni 2013).

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109 Auf den Almweiden gab es früher nur selten Ställe, vielmehr wurde das Vieh nachts zum Schutz vor Raubtieren in Steinpferchen zusammengetrieben. Dieser Steinpferch in 2100 m Höhe im Neraissa-Tal wurde bis 1965 genutzt. Nicht sichtbar sind zwei kleine Tonnengewölbe am Stein, die halb unterirdisch daneben liegen und die früher als Schlafstätte für die Hirten und als Käsekeller dienten. Im Hintergrund die Seealpen mit dem Rio-Freddo-Seitental (Bildmitte), dem Monte Matto, 3088 m (links), und der Rocca Valmiana, 3006 m (Bildmitte oben) (September 1984).

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110 Lämmer der Sambucana-Rasse im Neraissa-Tal. Diese Schafrasse ist sehr alt und hat sich im Laufe der Zeit sehr gut an die Bedingungen im Alpenraum angepasst. Sie war am Anfang der 1980er Jahre fast ausgestorben, konnte dann aber wieder gezielt aufgewertet werden. Solche traditionellen Haustierrassen sind heute sehr wichtig, wenn es um eine schonende Nutzung der empfindlichen Almregion geht (Mai 1980).

Wegen der großen Bedeutung des Ackerbaus muss sich die Viehwirtschaft im System der Landwirtschaft der Altsiedelräume mit den höher gelegenen Gebieten begnügen, und hier liegen die weiten Almgebiete, die jahrtausendelang kaum Gebäude besitzen. Weil alle halbwegs geeigneten Flächen weiter unten als Äcker und Wiesen genutzt werden, bleiben für die Almweiden nur sehr hoch gelegene Gebiete übrig, die heute von Besuchern oft als „Urlandschaft“ oder „reine Natur“ wahrgenommen werden, obwohl sie sehr alte Almflächen darstellen.

Um nicht so viel Heu für die Winterfütterung produzieren zu müssen und die Fläche der Wiesen klein halten zu können, wird der Viehbestand im Spätherbst durch Schlachten und Verkauf von Tieren stark reduziert, und man gewinnt im Wald sog. „Laubheu“ (dünne Zweige mit getrockneten Blättern) als zusätzliches Viehfutter.

Die Nutztierrassen dieser Alpenregionen besitzen meist eine sehr lange Züchtungstradition. Die Erträge an Milch, Fleisch und Wolle sind in der Regel nicht hoch, aber dieser Nachteil wird durch die große Robustheit der Tiere (Kälteresistenz, körperliche Stabilität), ihre Geländegängigkeit (Nutzung auch steiler Hänge in großer Höhe) und ihre Genügsamkeit (Verwertung von kargem Futter) mehr als ausgeglichen.

Diese Punkte sind ein Hinweis darauf, dass die Viehwirtschaft in diesen Alpenräumen nicht sehr intensiv betrieben wird und dass die Hauptarbeit und die Hauptsorge dem Ackerbau gilt.

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111 Eine kleine Sambucana-Schafherde (die hellen Punkte in der Mitte im unteren Bilddrittel) im Neraissa-Tal in etwa 2200 m Höhe. Diese Schafe können selbst steile und karge Berghänge produktiv nutzen. Wenn der Hirte – so wie hier – auf den richtigen Weidegang und die richtige Zahl der Tiere achtet, dann fördert dies die Stabilität der Vegetationsdecke und die Artenvielfalt (September 1980).

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112 Nach oben hin gehen Almweiden und Bergmähder allmählich in Ödland über, wobei beide Bereiche sehr kleinräumig miteinander verzahnt sind, wie es am Osthang des Gipfels Pelvo d'Elva, 3064 m, im Maira-Tal in den Cottischen Alpen ab etwa 2500 m Höhe gut zu erkennen ist. Links ist ein Kar mit Moränenresten zu erkennen (Juni 1995).

Für die alpinen Rasen oberhalb der Waldgrenze gibt es zwei Nutzungsmöglichkeiten: Die etwas flacheren Flächen, die über Wasser in Form einer Quelle oder eines kleinen Baches verfügen, werden als Almweiden genutzt, die sehr steilen oder sehr trockenen Flächen werden gemäht, und dies betrifft auch Rasenbänder zwischen Felsen, wo bei der Mahd die Sichel zum Einsatz kommt und das sehr kurze Gras mit dem Reisigbesen zusammengekehrt wird. Diese hochgelegenen Mähflächen, die wegen des langsamen Graswachstums teilweise nur jedes zweite oder jedes dritte Jahr gemäht und nie gedüngt werden und die ein sehr hochwertiges Heu liefern, nennt man „Wildheuplanggen“ (Schweiz) oder „Bergmähder“ (Österreich). Das gewonnene Heu wird an Ort und Stelle in Heutristen aufgeschichtet und erst im Winter mit dem Heuzug ins Tal gebracht, was eine gefährliche Tätigkeit darstellt. Auf diese Weise gibt es kaum einen Vegetationsflecken im Gebirge, der nicht vom Menschen genutzt wird.

Am alpinen Ödland haben Bauerngesellschaften keinerlei Interesse, weil dieses für sie nutzlos ist. Die Suche nach verlorenen Tieren, der Überblick über die gesamte Almfläche oder die Jagd auf Gemsen und Steinböcke sind der einzige Grund, Felsgrate und Gipfel zu besuchen. Deshalb ist es auch nicht nötig, die Almflächen nach oben hin abzugrenzen: Nach unten hin, also zum Wald oder Privateigentum, sind die Grenzen der Almen genau festgelegt, aber oben reichen sie meist pauschal einfach bis zur nächsten Wasserscheide, also bis zu den Felsgraten und Gipfeln. Da sich viele aktuelle Aussagen zur flächenhaften Nutzung der Alpen immer noch auf die traditionellen Almgrenzen beziehen (es gibt kaum Neuvermessungen mit einer systematischen Trennung von Weide- und Ödlandflächen), sind diese Flächenangaben sehr mit Vorsicht zu betrachten.

Das Bild rechts zeigt noch einmal eine typische Kulturlandschaft im Altsiedelraum der Alpen, die sich mit der Höhe immer stärker mit dem alpinen Ödland vermischt, so dass eine klare Grenze zwischen Kultur und Natur kaum zu ziehen ist.

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113 Blick auf die Azaria-Hochebene in 1600 m Höhe (die Fläche vorn im Tal, die auf beiden Seiten von Wald begrenzt wird) und auf den Torre di Lavina, 3308 m, der das Campiglia-Seitental abschließt (Gran Paradiso-Gruppe/Grajische Alpen). Man kann hier sehr gut erkennen, wie eng Natur- und Kulturflächen miteinander verzahnt sind (August 2012).

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114 Die Gebäude im Jungsiedelraum der Alpen bestehen oft aus Holz, und die Höfe liegen häufig einzeln (Streusiedlung) so wie hier in Gsteig im westlichen Berner Oberland (September 2006).

Jungsiedelräume in den Alpen

Die Jungsiedelräume der Alpen (Alpennordsaum und östliche Ostalpen) werden ab dem 7. – 8. Jahrhundert n. Chr. von Norden her durch Alemannen und Baiern besiedelt, und von Südosten kommende Slawen erschließen sich die südöstlichen Ostalpen als Lebensraum. In der Völkerwanderungszeit sind diese Alpenregionen ziemlich menschenleer geworden, und der Wald hat die ehemaligen Kulturlandschaftsflächen wieder in Besitz genommen, so dass die neuen Siedler den Eindruck haben, erstmals in der Wildnis sesshaft zu werden.

Bei vielen Menschen Mittel- und Nordeuropas hat sich um 3000 v. Chr. eine genetische Mutation durchgesetzt, die es Erwachsenen ermöglicht, Rohmilch zu verdauen. Alemannen und Baiern besitzen deshalb eine Ernährungsweise, bei der die Produkte Milch, Käse und Fleisch wichtiger sind als Getreide. Sie sind daher in der Lage, sich im feuchten Alpennordsaum, der für Ackerbau ungünstig ist, einen Lebensraum zu schaffen, indem die Viehwirtschaft die zentrale und der Ackerbau nur noch eine sekundäre Rolle spielt.

An die Stelle der Dauerackerflächen treten jetzt Feldgraswechselflächen mit „Egartwirtschaft“: Im regelmäßigen Turnus werden Parzellen wenige Jahre als Acker, dann viele Jahre als Wiese genutzt, die mit dem hofeigenen Viehmist gedüngt werden (so genannte „Fettwiesen“). Auf diese Weise dient der größere Teil der hofnahen Flur der Viehwirtschaft (Gewinnung des Winterfutters), während die Getreideparzellen immer nur einen kleinen Teil der Fläche ausmachen.

Weil die Produktivität bei der Lebensmittelproduktion und der Arbeitsaufwand pro Fläche bei der Viehwirtschaft deutlich geringer als beim Ackerbau ist, lässt dieses Landwirtschaftssystem nur eine Siedlungsdichte zu, die etwa ein Drittel bis ein Viertel von der der Altsiedelräume beträgt. Dies schlägt sich unter anderem in einem deutlich höheren Waldanteil in der Kulturlandschaft nieder, der um 1900 etwa doppelt bis dreimal so hoch ist wie in den Altsiedelräumen.

Die mit der Viehwirtschaft verbundene arbeitsextensivere Nutzungsweise führt dazu, dass sowohl die einzelnen Parzellen als auch die normalen landwirtschaftlichen Betriebe deutlich größer als im Altsiedelraum sind. Häufig – aber nicht immer – herrscht hier die Tradition des Anerbenrechts (der gesamte Hof wird im Erbgang geschlossen an einen Sohn weitergegeben); vielerorts gibt es Streusiedlungen mit zahllosen Einzelhöfen, die inmitten ihrer Flur liegen und die (mit Ausnahme der Küche) oft aus Holz gebaut sind.

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115 Das Streusiedlungsgebiet „Sunnige Lauenen“, 1250–1500 m, oberhalb des Ortes Lauenen (Berner Alpen). Die Höfe liegen inmitten ihrer Parzellen. Über dem Kulturland steht der Bannwald, und darüber beginnen die Bergmähder (September 2006). Im Hintergrund das breite Wildstrubel-Massiv, 3244 m (August 1982).

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116 Im Rahmen der „Egartwirtschaft“ wird die hofnahe Flur einige Jahre als Acker und anschließend viele Jahre als Wiese genutzt. Wenn eine Wiese zu einem Acker umgewandelt werden soll, ist der erste Arbeitsschritt das sog. „Vorpflügen“, bei dem die Vegetationsdecke in zahlreiche schmale Streifen zerschnitten wird. Die Aufnahme von Erika Hubatschek vom Frühjahr 1943 zeigt diesen Arbeitsgang und den dabei benutzten „Vorpfluag“ (bei Juns im Tuxer Tal, Tirol).

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117 Dieser „Paarhof“ (zwei etwa gleich große, nebeneinander stehende Gebäude, links das Wohn- oder „Feuerhaus“, rechts die Stallscheune, das „Futterhaus“) liegt auf einem flachen Schwemmkegel in 800 m Höhe im Streusiedlungsgebiet „Laderding“ der Gemeinde Bad Hofgastein (Hohe Tauern). Er liegt als Einzelhof mitten in seiner Flur, einer sogenannten „Einödblockflur“, deren Parzellengrenzen durch Hecken markiert werden, wodurch die Größe der Parzellen gut sichtbar ist (April 2018).

Neben den Unterschieden bei den Gebäuden (Stein-Holz) und der Siedlungsstruktur (Dorf-Einzelhof) fallen beim Vergleich der Kulturlandschaften zwei Dinge besonders ins Auge. Das ist einmal der deutlich höhere Waldanteil im Jungsiedelraum, der zustande kommt, weil der Nutzungsdruck hier geringer ist als im Altsiedelraum. Der zweite Unterschied besteht darin, dass es in der hofnahen Flur keine Ackerterrassen gibt, denn diese würden die Wiesennutzung der Egartwirtschaft stören. Dies führt zu vermehrtem Bodenabtrag, und deshalb ist die Arbeit des „Erd-Auftragens“ hier ganz besonders wichtig.

Auf Grund des Anerbenrechtes bleibt der „Hof“ in der Regel im Besitz der Familie, und er wird oft als „Erbhof“ über viele Generationen in der gleichen Familie weitergegeben. Während im Altsiedelraum das Dorf das bäuerliche Zentrum darstellt, nimmt im Jungsiedelraum der Hof diese Stelle ein. Die Höfe können unterschiedlich groß sein (Bewirtschaftung allein durch die eigene Familie oder Mitarbeit von wenigen Dienstboten bis hin zu 30 Dienstboten; die größten Höfe der Alpen gibt es im Raum Kitzbühel), und alle größeren Höfe stellen in der Regel einen selbständigen bäuerlichen Mikrokosmos dar, der nicht sehr viele Bezüge zur übrigen Bevölkerung besitzt.

Die wichtigsten Feste im Jahreslauf hängen hier mit der Viehwirtschaft zusammen, etwa der Almabtrieb oder die Verteilung des auf der Alm produzierten Käses an die Alpgenossen.

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118 Eine typische Kulturlandschaft im Jungsiedelraum des Berner Oberlandes: An den Hängen zwischen den Orten Schönried und Saanenmöser liegen Einzelhöfe in 1250–1400 m Höhe; die Flur ist hier sehr kleinräumig gekammert und durch zahlreiche Waldstreifen untergliedert (Bildmitte). Der Bannwald ist stark aufgelichtet, und darüber erstrecken sich die Almen und die Bergmähder bis in 2000 m Höhe. Dahinter die schneebedeckte Kette der Berner Alpen mit dem Wildstrubel, 3243 m (September 2006).

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119 Während im Altsiedelraum zur Abgrenzung oft Trockenmauern verwendet werden, erfüllen im Jungsiedelraum oft Holzzäune diese Funktion, wobei es sehr unterschiedliche „Zaunlandschaften“ gibt. Hier ein Beispiel aus dem Großarltal/Hohe Tauern (April 2018).

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120 Rasenflächen im alpinen Höhenstockwerk, die für Tiere zu steil oder zu trocken sind, werden auch im Jungsiedelraum als Bergmähder genutzt. Die Aufnahme von Erika Hubatschek vom August 1939 aus der Gemeinde Zederhaus in etwa 2200 m Höhe (Lungau, Niedere Tauern) zeigt große Bergmähderflächen, die gerade gemäht werden. Das Gras wird zum Trocknen in Streifen zusammengerecht (helle Streifen in Falllinie) und später in kleinen Bergmahdhütten gelagert oder zu Heutristen aufgestapelt. Dieses Bild macht sehr gut deutlich, dass man oft aus großer Entfernung erkennen kann, wann bzw. ob jemand seine Bergmähderparzelle mäht und ob er dies in der „richtigen“ Weise tut. Auf diese Weise ist soziale Kontrolle leicht möglich, was früher eine wichtige Rolle zur Gewährleistung einer nachhaltigen Nutzung spielte.

Während es im Altsiedelraum viele und oft stark ausdifferenzierte Staffelsysteme gibt, sind diese im Jungsiedelraum vergleichsweise einfach. Der Hauptunterschied besteht darin, dass der „Hof“ ganzjährig, also auch im Sommer bewohnt wird, während die Wintersiedlungen im Altsiedelraum im Sommer bis auf wenige Tage (Erntezeit) unbewohnt sind. Das „nomadische“ Element mit mehreren Wohnsitzen in unterschiedlichen Höhenlagen ist im Jungsiedelraum nur schwach ausgebildet.

Es gibt zwar auch hier eine Zwischenstufe zwischen dem Hof und der Alm, aber diese – Vorsass oder Voralm genannt – dient in der Regel nur der Viehwirtschaft und besitzt keine Acker-, sondern nur Wiesen-, Wald- und Weideparzellen. Hier wohnen für zwei, drei Wochen im Frühsommer und im Herbst ein oder zwei Familienangehörige und nicht die gesamte Familie, sodass diese Zwischenstufe einfacher ausgebildet ist als die Sommersiedlungen im Altsiedelraum.

Im Almbereich dagegen gibt es wenig relevante Unterschiede, denn hier hängt es in erster Linie vom Relief und von der Höhenerstreckung der Alm ab, wie viele Almstaffel ausgebildet werden, also wie viele Höhenstufen die Tiere nacheinander systematisch abweiden. Allerdings kann man im Jungsiedelraum feststellen, dass die wichtigsten Almen, die Kuh- oder Sennalmen, auf denen der Käse produziert wird, oft relativ tief, auf ehemaligen Waldflächen liegen, während im Altsiedelraum ähnliche Almen eher am oberen Rande der früheren Wälder liegen.

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121 Eine „Vorsass“ im Hengstschlund in 1249 m Höhe (Berner Voralpen), die im Juni und im September vor und nach der Almzeit genutzt wird. Im Unterschied zu den Almen, die häufig gemeinschaftlich genutzt werden, sind Gebäude und Flur der „Vorsassen“ in der Regel im Privatbesitz (Mai 1995).

Interessant ist, dass sich in der alemannischen „Älplersprache“ zahlreiche Lehnwörter aus dem Romanischen finden. Dies ist ein Hinweis darauf, dass die neuen Siedler im Bereich der Almwirtschaft viele wichtige Dinge von den Bewohnern der Altsiedelräume lernen und dass sie damit zugleich deren Namen übernehmen.

Auch bei den Nutzungsabsprachen gibt es wichtige Unterschiede: Während im Altsiedelraum alle Wälder und Almen im Gemeinschaftsbesitz sind und ihre Nutzung gemeinschaftlich abgesprochen und geregelt werden muss, besitzt ein Hof im Jungsiedelraum oft auch einige Wald- und Almflächen als Eigentum, und der Gemeinschaftsbesitz hat hier einen geringeren Stellenwert. Die kleinen Ackerparzellen im Altsiedelraum erfordern ebenfalls eine Nutzungsabsprache, weil man sie nur erreichen kann, wenn man fremde Ackerparzellen überquert, und ähnliches gilt für Veränderungen an Gebäuden, die meist mehrere Besitzer haben.

Im Altsiedelraum muss daher das gesamte Wirtschaften mit der Dorfgemeinschaft abgesprochen werden, was sehr mühsam ist und weshalb Innovationen nur schwer umzusetzen sind. Im Jungsiedelraum fällt dies dagegen viel leichter, weil der einzelne Hof wirtschaftlich oft ziemlich eigenständig ist und es kaum einer Absprache mit Nachbarn bedarf.

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122 Traditionelle Kulturlandschaft im Lauenental (Berner Alpen): In der Bildmitte die Einzelhöfe mit ihrer Flur (grün) auf der östlichen Talseite, die bis in 1400 m Höhe reichen. Darüber erstreckt sich der Bannwald, der teilweise vollständig erhalten, teilweise etwas aufgelöst ist. Der Grat, der darüber die Grenze zum Obersimmental bildet, ist zwischen 2038 und 2100 m hoch. Hier wurde der Wald flächenhaft gerodet, um Almflächen (gelb) zu gewinnen (September 2006).

Obwohl die Kulturlandschaften der Alpen zentrale Gemeinsamkeiten aufweisen (Waldrodung, Staffelwirtschaft, Kleinräumigkeit, Arten- und Landschaftsvielfalt), zeigen die Alt- und Jungsiedelräume doch verschiedene Landschafts“gesichter“ und unterscheiden sich bei Gebäuden, Siedlungsformen, Ackerterrassen und beim Waldanteil deutlich voneinander.

Es gibt einige wenige Alpentäler, die zwischen Alt- und Jungsiedelräumen liegen und die gleichzeitig von beiden Seiten her beeinflusst werden. Zu diesen Tälern gehört das Fex-Tal im Oberengadin (Talboden zwischen 1850 und 2250 m), das beim Ort Sils Maria in den Inn mündet und das lange Zeit lediglich almwirtschaftlich genutzt wird. Ab dem 16. Jahrhundert wird der untere Talteil zwischen 1850 m und 1970 m Höhe von zwei Seiten aus für eine intensivere Nutzung erschlossen: Bauernfamilien aus dem Bergell errichten hier Maiensässe (Sommersiedlungen), während Adelsfamilien aus dem Engadin hier Einzelhöfe anlegen, die von Pächtern ganzjährig bewohnt und bewirtschaftet werden. Die unterschiedlichen Gebäude stehen noch heute in Fex-Platta und Fex-Crasta nebeneinander und verweisen auf unterschiedliche Nutzungskonzepte im gleichen Naturraum.

Dieses Beispiel macht anschaulich deutlich, dass es im Agrarzeitalter keinesfalls eine einzige, sozusagen „naturangepasste“ oder „naturgemäße“ Nutzungsform der Alpen gibt, sondern dass oft mehrere Formen möglich sind, sofern jeweils die Reproduktion der Kulturlandschaft gewährleistet ist. Deshalb ist es nicht sinnvoll, die traditionellen Kulturlandschaften als „naturangepasst“ oder „naturgemäß“ zu bezeichnen, weil sich der Mensch beim Entwurf seiner Siedlungs- und Nutzungsstrukturen keinesfalls der Natur unterwirft, sondern weil er im Gegenteil seine kulturellen Strukturen, Muster und Werte in der Landschaft realisiert, die Natur also nach seinen Ideen umgestaltet und verändert. Die unterschiedlichen Strukturen der Kulturlandschaft in den Alt- und Jungsiedelräumen der Alpen belegen dies sehr anschaulich.

Wer in den Alpen Landschaften lesen gelernt hat, der wird schnell zahlreiche weitere Unterschiede entdecken, sei es innerhalb des Alt-, sei es innerhalb des Jungsiedelraumes. Und die Vielfalt der traditionellen Kulturlandschaften dürfte in den Alpen auch heute noch so groß sein, dass ein Menschenleben nicht ausreicht, sie zu erfassen und zu verstehen.

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123 Das Fex-Tal im Oberengadin liegt im Grenzbereich zwischen dem Engadiner und dem Bergeller Siedlungsraum und wird lange Zeit von beiden Räumen almwirtschaftlich genutzt. Hier der vordere Talteil (Fex-Platta) in 1900 m Höhe. Im Hintergrund Piz Lagrev, 3164 m (ganz links mit Wolkenfahne), und Piz Polaschin, 3013 m (September 2001).

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124 Traditionelle Saumwege sind in der Regel auf beiden Seiten mit Steinmauern eingefasst, um Flurschäden durch Tiere zu vermeiden, sie sind gepflastert, um Erosion zu verhindern, und sie verfügen bei Steilstellen oft über Steintreppen. Hier der historische Saumweg aus dem Sesiains Gressoney-Tal (Piemont/Aosta-Tal) im Vogna-Seitental in 1550 m Höhe (September 2015).

Transitwege, Bergbau, Marktorte und Städte

Die bisherigen Ausführungen könnten den Eindruck erwecken, die Alpen seien in der vorindustriellen Zeit ein rein ländlich-bäuerlicher Raum gewesen. Dies ist jedoch nicht der Fall: Über den Transitverkehr und den Bergbau ist die alpine Welt von Anfang an wirtschaftlich und kulturell eng mit Europa verbunden, und zahlreiche Marktorte und Städte blühen seit römischen Zeiten in den Alpen auf, weil überregionale Wirtschaftsverflechtungen neben der Selbstversorgerwirtschaft immer wichtiger werden. Die damit verbundenen Strukturen gehören zur traditionellen Kulturlandschaft und zum traditionellen Leben in den Alpen untrennbar dazu.

Zum Transitverkehr: Die lokalen Bauerngesellschaften ermöglichen eine gute Durchquerung der Alpen, denn ihr Wegsystem verbindet nicht nur die einzelnen Siedlungen im Tal, sondern auch die einzelnen Höhenstockwerke miteinander, und es reicht von den höchsten Almen fast immer über die Wasserscheiden zu den Almen der Nachbartäler hinüber. Mit Hilfe dieser lokalen Wegsysteme gibt es für Auswärtige zahllose Möglichkeiten, die Alpen problemlos zu überschreiten, wenn ihnen Einheimische den Weg zeigen.

Die Nutzung des bäuerlichen Wegsystems für den Transitverkehr von Personen und Waren wird dadurch erleichtert, dass sich lokale Landwirtschaft und Transitverkehr auf das gleiche Transportmittel stützen, nämlich auf sogenannte „Saumtiere“, also Pferde oder Maultiere, die Lasten tragen („säumen“). Im Unterschied zu heute, wo Transitverkehr und lokale Wirtschaft einen Gegensatz darstellen, fördert der Transitverkehr in der vorindustriellen Zeit die lokale Wirtschaft, weil er sich dezentral auf gut 300 Übergänge verteilt und weil er auf bäuerliche Leistungen angewiesen ist (Bereitstellung der Saumtiere, Transport der Waren durch lokale Säumergenossenschaften).

Da Saumtiere mit einem steilen Relief keine Probleme haben, können Saumwege relativ steil verlaufen, und sie benötigen nur wenige Serpentinen, um Höhe zu gewinnen, und wenige Kunstbauten, um Hindernisse (v.a. tief eingeschnittene Wasserläufe) zu bewältigen.

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125 Die „Hohe Brücke“ über die Schlucht des Feschelbaches in 910 m Höhe, die 1563 erstmals erwähnt wird und die die Kleinstadt Leuk im Wallis mit dem Ort Erschmatt und den Leuker Sonnenbergen verbindet. Wie bei vielen ähnlichen Steinbogenbrücken in den Alpen, die sehr tiefe Schluchten überspannen, rankt sich auch um den Bau dieser Brücke eine Legende, weshalb diese Brücke wie viele andere „Teufelsbrücke“ genannt wird (August 2009).

Häufig genutzte Wege werden im Laufe der Zeit ausgebaut, um den Warentransport zu erleichtern: Mit vielen Serpentinen werden lange und gleichmäßige Steigungen hergestellt, es werden Schluchten wegbar gemacht (Schöllenen-Schlucht am Gotthard, Via Mala am Splügen), und es werden sogar kurze Tunnel gebohrt („Buco di Viso“ zwischen Po- und Guil-Tal/Cottische Alpen 1479–1480, „Urnerloch“ am Gotthard 1707–1708).

Die Relikte dieser Weganlagen sind noch heute an vielen Stellen im Alpenraum zu sehen. Seit einiger Zeit werden sie wieder hergerichtet („ViaStoria“ in der Schweiz), und sie stellen sehr attraktive Wanderwege dar.

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126 und 127 Relikte des Goldbergbaus im Bockhart-Tal (Gastein/Hohe Tauern). Die auffälligen hellen Flecken auf Bild 126 sind Abraumhalden aus den Stollen, die an dieser Stelle in den Berg getrieben wurden und die den Golderzgängen folgten. Sie liegen in Höhen zwischen 2100 und 2300 m, stammen aus dem 15./16. Jahrhundert und sind dank frühneuzeitlicher Bergbaukarten alle namentlich bekannt (September 2010). Das Bild 127 zeigt ähnliche Strukturen auf dem Gegenhang, die jedoch deutlich älter sind. Leider ist es bislang nicht gelungen, diese Halden zu datie ren; es ist möglich, dass es sich um Relikte des römerzeitlichen Goldbergbaus handelt (September 2007).

Als junges Hochgebirge mit einer komplizierten Geologie sind die Alpen reich an kleinen Lagerstätten von Gold-, Silber-, Kupfer- und Eisenerzen sowie von Salz. Erst in der Industriegesellschaft werden diese Ressourcen ökonomisch entwertet, weil ihr Abbau zu teuer ist, in der vorindustriellen Zeit sind sie jedoch stets sehr wertvoll. Ihre Nutzung beginnt um 3800 v. Chr. und erreicht erstmals in der Bronzezeit (2000–750 v. Chr.) eine große Blüte, weil sich die begehrten Kupferlagerstätten in Europa fast nur in den Alpen finden, und sie erlebt in der Neuzeit, im 15./16. Jahrhundert, erneut ein „goldenes Zeitalter“.

Die Bergbaureviere liegen oft in großer Höhe, d.h. über 2000 m Höhe, weil hier das erzhaltige Gestein nicht von der Vegetation verdeckt wird und offen zu Tage tritt. Neben den bekannten Revieren – Goldbergbau in Gastein-Rauris, Silberbergbau bei Schwaz und Sterzing, Salzbergbau bei Hall in Tirol, bei Hallein und Hallstadt (Land Salzburg) – gibt es unzählige kleine und kleinste Gebiete. Fast in jedem Alpental werden irgendwann einmal Bodenschätze abgebaut und weiterverarbeitet. Dies ist immer mit großen Waldrodungen verbunden, da die Verarbeitung der Erze sehr viel Holzkohle benötigt.

Da in der vorindustriellen Zeit Lebensmittel nicht leicht transportiert werden können, fördert der Bergbau die Entstehung und Vergrößerung der lokalen Berglandwirtschaft und besonders der Almwirtschaft zur Versorgung der Bergleute mit Lebensmitteln.

Die Relikte des historischen Bergbaus sind heute noch in den Alpen an zahllosen Stellen in der Landschaft zu sehen, aber sie sind oft nicht leicht zu erkennen. Gelegentlich werden beim Zurückschmelzen der Gletscher alte Stolleneingänge wieder frei, die im 17. oder 18. Jahrhundert vom Gletscher überfahren wurden.

Die Bergbauprodukte Gold, Silber, Eisen, Kupfer und Salz sind sehr kostbare Güter von europäischer Bedeutung und die Bergleute gesuchte Fachkräfte mit europaweiter Mobilität. Der mit dem Bergbau verbundene große Reichtum führt zu einem kurzfristigen Verhalten der Landesherren als den Eigentümern der Bergwerke: Mit dem Auffinden und Ausbeuten eines neuen Golderzganges lässt sich kurzfristig so viel Reichtum erzielen, dass man den nächsten Krieg gewinnen und seine militärische und wirtschaftliche Macht schlagartig vergrößern kann. Deshalb gibt es beim Bergbau keinerlei Grenzen (außer finanziellen): Auf dem Höhepunkt des Goldbergbaus z.B. ist das gesamte Gasteiner Tal vollständig waldfrei, und Arsendämpfe (Nebenprodukt bei der Goldgewinnung) vergiften Pflanzen, Tiere und Menschen, sodass von einer dauerhaften oder nachhaltigen Nutzung keine Rede sein kann.

Die Faktoren Reichtum und Macht, die beide eng miteinander verbunden sind, forcieren also kurzfristige Nutzungsformen, die sich um die langfristigen Auswirkungen des Bergbaus überhaupt nicht kümmern. Daher gibt es in diesem Bereich ganz andere Werte als im Rahmen der bäuerlichen Gesellschaften, wobei Letztere im Konfliktfall stets die Schwächeren sind.

Damit sind die Alpen in Europa der Normalfall – sie sind so eng mit dem übrigen Europa verflochten, dass sie sich nicht von der Entwicklung abkoppeln können, die ganz Europa ab der Renaissance prägt, nämlich der immer stärkeren Konzentration von Macht und Reichtum in wenigen Händen. Und deshalb können sie keinen Sonderweg einschlagen, bei dem die langfristig-egalitären bäuerlicher Werte die kurzfristigen Wirtschaftsinteressen der Machthaber dominieren würden. Die Relikte des überall sichtbaren Bergbaus in der hochalpinen Landschaft symbolisieren genau diese Abhängigkeit der Alpen von der europäischen Entwicklung.

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128 Der Marktort Pont Canavese, 451 m, liegt dort, wo Orco- und Soana-Fluss zusammenfließen und gemeinsam die Grajischen Alpen verlassen. Der Name Pont bedeutet „Brücke“ und bezieht sich auf den Flussübergang, der von diesem Ort aus kontrolliert werden kann. Zu diesem Zweck werden im Mittelalter auf Moränenhügeln mitten im Tal zwei Burgen erbaut, die heute noch erhalten sind. Solche Orte sind ideale Marktorte, in denen die Produkte der Po-Ebene mit denen des Gebirges ausgetauscht werden (August 2012).

Die Landnutzungsstrukturen sind zwar im Alt- wie im Jungsiedelraum der Alpen auf Selbstversorgung hin ausgerichtet – in der zum Dorf bzw. Hof gehörenden Flur werden alle zum Leben notwendigen Dinge produziert (nur Salz als Konservierungsmittel muss eingeführt werden) –, aber das bedeutet nicht, dass sich die Bauernfamilien auch vollständig selbst versorgen. Das Aufblühen unzähliger Marktorte ab dem hohen Mittelalter verweist auf die steigende Bedeutung von Tausch und Handel, und diese Marktorte gehören untrennbar zur traditionellen Welt der Alpen dazu.

Marktorte gibt es in jedem längeren Alpental. Sie liegen entweder in der Mitte des Tales, wo sie von allen Siedlungen des Tales aus gut zu erreichen sind, oder dort, wo ein Alpenfluss die Alpen verlässt. Die große Palette von Landwirtschaftsprodukten, die an den Markttagen getauscht oder ge- und verkauft wird, besitzt zwei Ursachen:

Erstens werden Produkte zwischen Regionen mit sehr unterschiedlichen landwirtschaftlichen Voraussetzungen getauscht oder ge- und verkauft: Tiefer gelegene Regionen liefern Produkte wie Wein, Kastanien oder Getreide und höher gelegene Regionen Käse, Trockenfleisch oder Zucht-/Schlachttiere.

Zweitens werden auf diesen Märkten all diejenigen Produkte ge- und verkauft, die überall in den Alpen produziert werden wie Getreide, Fleisch, Käse, Vieh, Holz usw. Die Ursache dieses Handels liegt darin, dass zahlreiche Landwirtschaftsbetriebe im Rahmen der Erbteilung per Zufall zu viel Acker- und zu wenig Wiesenflächen oder umgekehrt erhalten haben, oder dass die Zufälle der Witterung in einem Jahr in einem Tal ein Produkt begünstigen und in einem anderen benachteiligen. Über den Markt versucht man, diese Zufälle ausgleichen.

Sobald auf den Märkten regelmäßig viele Lebensmittel angeboten werden und genügend Geld zirkuliert, könnte man eigentlich von der Selbstversorgeridee abrücken und sich allein auf das spezialisieren, was im eigenen Betrieb am besten zu produzieren ist. Aber dieses Vertrauen in den Markt besitzen die Bauern der vorindustriellen Zeiten nicht, und sie behalten aus Sicherheitsgründen bis weit ins 20. Jahrhundert ihre traditionelle Produktpalette bei.

Allerdings nutzen sie die Märkte sehr aktiv, um Zufälligkeiten der Besitzverteilung oder des Klimas auszugleichen, aber auch um Unterschiede bei den Marktpreisen oder beim Währungsgefälle auszunutzen. Es ist daher sinnvoll, dieses Agrarsystem als „marktoffene Selbstversorgerwirtschaft“ zu bezeichnen, weil es sich sowohl von einer reinen Selbstversorger- als auch von einer reinen Marktwirtschaft deutlich unterscheidet.

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129 Der Marktort Splügen, 1457 m, liegt dort im Tal des Hinterrheins, wo sich die Passstraßen zum Splügen und zum San Bernardino gabeln. Der Ort ist seit dem Mittelalter eine wichtige Sust, also ein Ort, an dem die über die Pässe zu transportierenden Waren zwischengelagert werden, bevor sie von der nächsten Säumergenossenschaft weitergetragen werden. In dem großen Gebäude wurden die Waren gelagert, die Brücke davor ist ein Teil des historischen Saumwegs. Wegen seiner großen Bedeutung als Sust erhielt Splügen im Jahr 1443 das Marktrecht (Oktober 2008).

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130 Das historische Zentrum der Stadt Innsbruck mit dem markanten Stadtturm aus dem Jahr 1450 und dem „Goldenen Dachl“ aus dem Jahr 1500. In solchen Alpenstädten bildeten sich in der vorindustriellen Zeit Elemente einer Hochkultur aus, die im klassischen Alpenbild stets übersehen und verdrängt werden (Mai 2014).

Städte sind Knotenpunkte im ländlichen Raum: Sie bieten für ihr großes Umland hoch spezialisierte Produkte und Dienstleistungen an, was in einem Dorf wegen der geringen Nachfrage nicht möglich ist. Deshalb gilt: Je dichter eine ländliche Region besiedelt ist und je intensiver sie landwirtschaftlich genutzt wird, desto größer ist die Nachfrage nach Spezialisierungen und desto größere Städte können hier entstehen.

Aus dieser Perspektive sind die Alpen benachteiligt, denn dichter besiedelte Gebiete gibt es nur in den großen inneralpinen Längstälern. Deshalb sind die Alpen in der vorindustriellen Zeit ein städtearmer Raum in Europa. Trotzdem gehören zahlreiche – allerdings meist kleine – Städte untrennbar zur traditionellen Alpenwelt dazu.

Die wirtschaftliche Bedeutung der Alpenstädte besteht erstens in ihrer Funktion als überregional bedeutsamer Marktort für höherwertige Landwirtschaftsprodukte sowie als Handelsort, denn alle Alpenstädte liegen an einer Transitroute. Zweitens dienen diese Alpenstädte oft der Vermarktung der in den benachbarten Bergbaugebieten gewonnenen Produkte, womit ein besonderer Reichtum verbunden ist. Drittens sind die Alpenstädte der Standort zahlreicher spezialisierter Handwerksbetriebe, und viertens führt die Bedeutung von Alpenstädten als Residenz-, Garnisons-, Verwaltungsort oder als Bischofssitz zu einem umfangreichen Dienstleistungssektor.

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131 Das Stockalperschloss in der Stadt Brig (Wallis), das 1651–1671 von Kaspar Stockalper erbaut wurde. Der Bauherr präsentierte seinen im Transithandel erworbenen Reichtum u.a. mit diesem Gebäude. Solche baulichen Symbole von Reichtum und Macht finden sich in allen größeren Alpenstädten (November 2016).

In kultureller Hinsicht stellt eine Alpenstadt den geistigen Kristallisationspunkt für eine Alpenregion dar und repräsentiert ihre kulturelle Identität wie z.B. Innsbruck für Tirol, Chur für Graubünden, Aosta für das Aosta-Tal oder Trient für das Trentino. In den großen Alpenstädten entfalten sich in der vorindustriellen Zeit Ansätze für eine sogenannte „Hochkultur“ (Theater, Bibliotheken, Museen, höhere Schulen usw.), die für die Ausbildung einer eigenständigen regionalen Kultur sehr wichtig sind und deren Existenz oft übersehen wird.

Die politische Bedeutung der Alpenstädte besteht darin, dass sie lange Zeit Hauptstädte von kleinen Territorien sind. Diese Funktion wird ab dem 17. Jahrhundert geschwächt, als in Europa immer größere staatliche Gebilde entstehen und viele politische Grenzen aus militärischen Gründen auf die Wasserscheiden, also auf den Alpenhauptkamm verlegt werden. Dabei werden viele kleine Alpenterritorien aufgelöst, und die Alpen werden trotz ihrer zentralen Lage in Europa zu einem Grenzraum, zu einer Peripherie. Dies blockiert die Entwicklung zahlreicher Alpenstädte.

Das Netz der Marktorte und der Alpenstädte verbindet die traditionelle ländliche Welt (dezentrale Siedlungsstruktur, wenig arbeitsteilige Wirtschaft, ländliche Kultur) mit der städtischen Welt (stark arbeitsteilige Wirtschaft, Hochkultur). In der vorindustriellen Zeit durchdringen sich beide Welten in den Alpen auf eine intensive und gleichberechtigte Weise, zum Vorteil für beide Seiten. Erst mit der Industriellen Revolution beginnen die Städte das Land zu beherrschen und es als Lebens- und Wirtschaftsraum zu entwerten.

Da die Alpenstädte systematisch aus dem klassischen Alpenbild ausgeblendet werden, werden sie heute noch oft übersehen, und ihre Bedeutung für die Alpen wird häufig stark unterschätzt.

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132 Die Pfarrkirche San Peyre der Gemeinde Stroppo (Maira-Tal/Cottische Alpen) liegt isoliert in 1233 m Höhe im Zentrum des Gemeindegebietes, um allen Gemeindemitgliedern eine gleich gute Erreichbarkeit zu bieten (August 2016).

Die religiöse Gestaltung der Landschaft

Zur traditionellen alpinen Kulturlandschaft gehören Kirchen, Kapellen, Bildstöcke und Wegkreuze untrennbar dazu. Diese kommen jedoch fast nur in der wirtschaftlich genutzten Flur vor und sind im alpinen Ödland extrem selten.

Die allermeisten Kirchen und Kapellen liegen in den Dauer-, Sommer- oder Almsiedlungen. Liegt eine Kirche abseits eines Ortes in der freien Landschaft, so wird sie oft an derjenigen Stelle errichtet, die von allen zugehörigen Dörfern, Weilern und Höfen gleich weit entfernt liegt. Einzeln stehende Kapellen findet man häufig an den Stellen in der Landschaft, von denen besondere Gefahren für das Kulturland ausgehen (Lawinen, Steinschlag, Überschwemmungen), und sie besitzen die Aufgabe der Gefahrenabwehr. Und Bildstöcke oder Wegkreuze finden sich an einem Saumweg genau dort, wo ein gefährliches Wegstück beginnt und endet. Das alpine Ödland, also die Fels- und Gletschergebiete, die sich der bäuerlichen Nutzung entziehen, sind – mit Ausnahme weniger Wallfahrtsgipfel – frei von religiösen Symbolen. Die bekannten Gipfelkreuze kommen erst mit der touristischen Erschließung der Alpen auf und haben mit der Tradition der Alpen nichts zu tun.

Diese Lokalisierung der religiösen Bauwerke und Symbole innerhalb der Kulturlandschaft verweist darauf, dass Religion untrennbar mit dem täglichen Handeln und Wirtschaften verbunden ist und ihm seinen Sinn und seine Würde verleiht. Es gibt in den Alpen keinen religiösen Bereich, der außerhalb davon in einem abgesonderten Raum – z.B. in Form eines „Heiligen Berges“, der nicht bestiegen werden darf – existiert, auch wenn sich an wenigen Stellen eine schwache Erinnerung an solche religiösen Vorstellungen erhalten hat (z.B. im „Vallée des Merveilles“ in den französischen Seealpen). Damit vollziehen die Alpen auch im Bereich der Religion die europäische Entwicklung mit, die dadurch geprägt ist, dass das Christentum früh zur dominierenden Religion wird. Es vermischt sich dabei zwar auf vielfältige Weise mit „heidnischen“ Elementen, aber es setzt sich damit letztlich eine Form der Religion durch, bei der man sich das Göttliche nur noch im „Jenseits“, also außerhalb der Erde, und nicht mehr in abgegrenzten „Heiligen Orten“ auf der Erde vorstellt.

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133 Die Kapelle Madonna della Visitazione liegt in 1452 m Höhe mitten im Gebiet der Sommersiedlungen von Rivotti (Gemeinde Groscavallo/Lanzo-Täler/Grajische Alpen)(September 2014).

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134 Der „Pilone di Narbona“ (Bildstock von Narbona) steht in 1263 m Höhe genau an der Stelle, an der der Saumweg zum Ort Narbona (Gemeinde Castelmagno/Grana-Tal/Cottische Alpen) in einen sehr steilen, abschüssigen Hang hineinführt (September 2014).

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135 Dieser erratische Felsblock im Anzasca-Tal (Südseite der Walliser Alpen) in 480 m Höhe, den der eiszeitliche Gletscher hier deponiert hat, hat früh die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich gezogen. Zuerst wurde in einer Felshöhlung ein Marienbild verehrt, dann wurde dieses Bild durch ein kleines Gebäude geschützt, und im 17. Jahrhundert wurde darüber die Kapelle Madonna della Gurva erbaut (September 2015).

Auch wenn sich das Christentum schon sehr früh, ab 400 n. Chr., in den Alpen ausbreitet, so bleiben bis weit ins 20. Jahrhundert hinein vorchristliche religiöse Vorstellungen lebendig, die von der Kirche zwar bekämpft, aber nicht ausgerottet werden können.

Diese sind oft mit auffälligen Naturphänomenen verbunden: Sehr große, isolierte Felsblöcke auf der Alm oder im Tal, starke Quellen, v.a. solche mit heißem Wasser, außergewöhnliche Felsformationen, „Sonnenlöcher“ (Öffnungen im Fels, durch die zweimal im Jahr die Sonne scheint) oder eindrückliche Felsüberhänge und Höhlen.

Ein aufschlussreiches Beispiel mit alpenweiter Bedeutung ist die San Besso-Wallfahrt: Auf der Fanton-Alm oberhalb von Campiglia (Soana-Tal/Gran Paradiso-Gruppe) gibt es mitten im Almgebiet einen großen, isolierten Felsen, den Monte Fanton, 2072 m, der in Form eines riesigen Menhirs 53 m aus dem Almboden herausragt. Direkt an diesem Felsen steht eine kleine Kapelle, die San Besso geweiht ist und die am 10. August das Ziel einer regionalen Wallfahrt ist.

San Besso ist ein wenig bekannter katholischer Heiliger, der wegen seines Glaubens vom Monte Fanton herunter geworfen wurde und hier als Märtyrer starb. Diese typische Heiligenlegende besitzt einen vorchristlichen Ursprung: Ein Schäfer aus Campiglia, der oft auf dem Monte Fanton zu den Göttern betete und dessen Schafe außergewöhnlich gut heranwuchsen, erweckte den Neid der anderen Hirten, die ihn schließlich vom Gipfel herunter warfen und töteten. Aber auch dahinter gibt es noch eine ältere Tradition, bei der der Berg Fanton selbst heilig ist, weshalb die Wallfahrer Felsstückchen von ihm abschlagen und diese lebenslang als eine Art Talisman bei sich tragen.

Diese Wallfahrt, die heute noch auf eine lebendige Weise durchgeführt wird, ist ein konkretes Beispiel dafür, wie Traditionen weitergeführt und dabei immer wieder neu interpretiert werden. Der gesamte vorindustrielle Alpenraum ist von diesem Umgang mit der Tradition geprägt – Tradition nicht als etwas Festes, Unwandelbares, wie man heute oft meint, sondern sich verändernde Traditionen als Grundlage zum Verständnis einer sich wandelnden Welt.

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136 Der Monte Fanton, 2072 m, auf der gleichnamigen Alm oberhalb von Campiglia (Gran Paradiso-Gruppe) mit der San Besso geweihten Kapelle, die jedes Jahr am 10. August Ziel einer Wallfahrt ist (August 2012).