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181 Dieses Bild zeigt die moderne Entwicklung der Alpen auf einem Blick: Im Tal der kanalisierte Inn, die Verkehrslinien von Eisen- und Autobahn und eine deutliche Verstädterung (Kleinstadt Landeck in der Bildmitte und Gemeinde Zams rechts unten), im Vordergrund der Krahberg, 2208 m, mit den Pisten des Skigebiets Landeck-Zams-Fließ/Venet, auf den Berghängen geschlossene Wälder (früher mosaikförmig aufgelichtet) und um die Dörfer herum Kulturlandschaften mit beginnender Verbuschung. Im Hintergrund die Berge der Verwallgruppe (September 2013).

Nachdem wir im 1. Kapitel die drei populärsten Alpenbilder präsentiert hatten, im 2. Kapitel die Alpen als Naturraum und im 3. Kapitel als Kulturlandschaft dargestellt hatten, thematisierte das 4. Kapitel die tief greifenden Veränderungen der Alpen durch die moderne Entwicklung; dabei wurden die einzelnen Bereiche getrennt voneinander behandelt, weil die mit ihnen verbundenen Veränderungen jeweils auf unterschiedliche Weise ablaufen.

Damit haben wir jetzt die Voraussetzungen geschaffen, um im fünften und letzten Kapitel ein realitätsnahes Gesamtbild der gegenwärtigen Situation der Alpen zu entwerfen und um nach der Zukunft der Alpen zu fragen:

• Ohne Kapitel 1 bestünde die große Gefahr, die aktuelle Situation der Alpen aus der Perspektive eines der drei populären Alpenbilder wahrzunehmen und damit letztlich die „Alpenbilder im Kopf“ mit der Realität der Alpen zu verwechseln.

• Ohne Kapitel 2 könnten wir leicht meinen, die Alpen wären von Natur aus eine offene Landschaft, und der Mensch würde über den Alpen stehen und hätte sie technisch vollständig im Griff.

• Ohne Kapitel 3 würden wir kaum wahrnehmen, dass die Landschaften der Alpen mit Ausnahme der Fels- und Eiswüsten Kulturlandschaften sind und wie stark diese alpenspezifisch (also durch die jeweils konkrete Natur/Umwelt und die regionale Geschichte) geprägt sind.

• Und für die Modernisierungen, die in Kapitel 4 angesprochen werden, ist es sehr entscheidend, dass sie einen dezentral geprägten menschlichen Lebens- und Wirtschaftsraum verändern und nicht eine mehr oder weniger menschenleere Naturlandschaft.

Fassen wir die Veränderungen in den Bereichen Verkehr, Landwirtschaft, Industrie, Tourismus, Alpenstädte, Wasser und Naturschutz zusammen, dann können wir feststellen, dass die Modernisierung der Alpen seit 1880 zu starken räumlichen Gegensätzen geführt hat:

– Das moderne Wirtschaften und Leben konzentriert sich nur noch auf die gut erreichbaren Teilräume der Alpen (Talböden der großen und größeren Alpentäler) sowie auf ausgewählte Standorte im eigentlichen Gebirgsraum (300 Tourismuszentren), und beide sind stark durch Prozesse der Verstädterung und Zersiedlung geprägt.

– Alle anderen Alpengebiete werden von der modernen Entwicklung nicht erfasst; im besten Fall – bei günstiger Pkw-Erreichbarkeit der außeralpinen Metropolen oder der Alpenstädte – entwickeln sich hier Pendlerwohnregionen, im schlechtesten Fall – bei peripherer Lage und mangelndem Interesse eines Staates am Berggebiet – entstehen hier Entsiedlungsregionen.

Oder ganz kurz zusammengefasst: Die Alpen zwischen Verstädterung und Entsiedlung. Die Untergliederung des 5. Kapitels folgt diesen Veränderungen: Zuerst wird der Rückzug der Menschen aus peripheren Lagen und die Verwilderung der Kulturlandschaften dargestellt; dabei wird auch der Klimawandel angesprochen, dessen Auswirkungen in den Alpen deutlicher zu sehen sind als in vielen anderen Teilen Europas. Darauf folgt die Darstellung der Verstädterung und Zersiedlung der Talbereiche und der Tourismuszentren mit ihren Freizeitparks im Hochgebirge. Nach einer kurzen Bilanz „Die Alpen verschwinden“ bilden dann Überlegungen zur Zukunft der Alpen den Abschluss dieses Bildbandes.

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182 Auch dieses Bild zeigt die moderne Entwicklung der Alpen auf einen Blick: Ganz vorn die sehr steilen, südexponierten Hänge, die meist brachgefallen sind, in der Bildmitte das breite Rhônetal im Oberwallis mit begradigtem Fluss und Eisenbahn, der Aluminiumfabrik in Steg (Bildmitte, von 1962 bis 2006 in Betrieb) und dem Industriestandort Visp (hinten). Oberhalb des Waldes die beiden kleinen Tourismusorte Unterbäch, 1221 m, und Bürchen, 1444 m; darüber Fletschhorn, 3993 m, und Lagginhorn, 4010 m (August 2010).

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183 Eine Hausruine in Narbona, 1495 m, im Grana-Tal (Cottische Alpen). In diesem großen Ort lebten 1901 140 Menschen, 1951 immer noch 76 Menschen, und im Jahr 1960 wurde der Ort von den letzten Bewohnern verlassen. Da der Ort nur über einen sehr langen, exponierten Saumweg zu erreichen war bzw. ist, ließen die Bewohner bei der Abwanderung ihr Mobiliar und große Teile ihres Hausrates zurück. Dies zog in den beiden folgenden Jahrzehnten viele Plünderer an und machte den Ort in ganz Piemont bekannt (September 2014).

Rückzug der Menschen aus den peripheren Lagen

Da die Arbeitsplätze in den peripheren Lagen der Alpen, also an Standorten, die mit einem großen Lkw nicht erreichbar sind, im Laufe der Zeit immer weniger werden, geht auch die Zahl der Menschen, die an solchen Orten wohnen, immer mehr zurück. Zuerst wandern die jungen Menschen ab, so dass immer weniger Kinder geboren werden und der Altersdurchschnitt permanent ansteigt, irgendwann wohnen nur noch ältere und alte Menschen dort, die immer weniger werden, und am Schluss bleiben ein oder zwei Personen übrig, die oft noch viele Jahre allein in einem Ort leben, bis mit ihrem Tod ein Ort zu einer Wüstung wird.

Da alle Dauer- und Temporärsiedlungen der Alpen im Bereich des Waldes liegen, bedeutet die Aufgabe einer Siedlung, dass sie wieder vom Wald zurückerobert wird, zumal Ruinengebäude ein optimales Biotop für junge Bäume darstellen. Viele Wüstungen sind heute im Wald verschwunden und kaum noch zu finden. Nur wenn einige Gebäude eines unbewohnten Ortes weiterhin landwirtschaftlich genutzt werden und die Bauern hier regelmäßig Bäume und Büsche beseitigen, dann bleibt solch ein Ruinendorf von weitem sichtbar.

Der Bevölkerungsrückgang, der mit dieser Entwicklung verbunden ist, beginnt alpenweit im Jahrzehnt 1880–1890. Bereits in den 1920er Jahren werden die ersten besonders peripher gelegenen Orte menschenleer, aber der Höhepunkt des Bevölkerungsrückgangs liegt etwa in der Zeit des europäischen Wirtschaftswunders (1955–1975), als die außeralpinen Industriegebiete besonders viele Arbeitskräfte anziehen, und dieser Rückgang ist bis heute noch nicht abgeschlossen.

In der Zeit zwischen 1871 und 2011 geht die Einwohnerzahl von knapp 2200 Alpengemeinden – das sind 41 % aller Alpengemeinden – zurück, und mehr als 1000 Gemeinden verlieren sogar mehr als die Hälfte ihrer Bewohner. Die beiden Gemeinden mit der negativsten Bevölkerungsentwicklung der gesamten Alpen liegen in den südfranzösischen Alpen, wo die Gemeinden Rochefourchat (Préalpes du Diois) 99,3 % und Majastres (Préalpes de Provence) 99,4 % ihrer Einwohner verlieren.

Die Alpenregionen mit den stärksten Bevölkerungsrückgängen und mit den meisten Wüstungen sind die südfranzösischen Alpen und die piemontesischen Alpen, in denen die Entsiedlung in den vier benachbarten Tälern Varaita, Maira, Grana und Stura di Demonte (Cottische Alpen) sowie in den Ligurischen Alpen am weitesten vorangeschritten ist.

Weitere Gebiete mit starken Bevölkerungsrückgängen sind die ostitalienischen Alpen, die westlichen slowenischen Alpen, die östlichen Ostalpen in Österreich, das Tessin, die Innerschweiz, sowie Teile von Graubünden und des Wallis.

Insgesamt gibt es in den Alpen viele tausend Orte, die heute nicht mehr bewohnt sind und die in Ruinen liegen. Weil diese zum großen Teil auf der Südseite der Alpen liegen, stellen sie eine Realität der Alpen dar, die im deutschen Sprachraum wenig bekannt ist. Wer auf dem Weitwanderweg „Grande Traversata delle Alpi/GTA“ durch die piemontesischen Alpen wandert, trifft fast täglich auf solche Orte.

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184 Im Weiler Le Grange, 1769 m, im Tal der Stura di Demonte (Seealpen), lebten 1891 60 Menschen und 1940 noch drei Familien. Im Jahr 1944 wurde der Ort von deutschen Truppen bei einer Aktion gegen Partisanen zerstört. Seitdem lebte hier nur noch eine alte Frau, und mit ihrem Tod 1959 wurde der Ort endgültig zur Wüstung. Da eines der Gebäude seit langem im Sommer von Schäfern genutzt wird, verschwindet der Weiler nicht unter Bäumen (August 2012).

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185 Im Ort Podio soprano, 1302 m (Valle Stura di Demonte, Cottische Alpen), gab es 1890 90 und 1951 noch 22 Einwohner. Ab 1982 lebten hier nur noch zwei Brüder, ab 2002 nur noch einer von beiden, und seit 2014 ist der Ort unbewohnt. Früher lag er inmitten großer offener Flächen, inzwischen liegt er inselförmig im Wald (Juli 2014).

Neben den Siedlungswüstungen gibt es in den peripheren Lagen der Alpen auch viele Dörfer, Weiler und Streusiedlungen, die bis heute nur einen Teil ihrer Einwohner verloren haben. Dies hängt damit zusammen, dass hier einerseits noch einige dezentrale Arbeitsplätze in den Bereichen Landwirtschaft, Handwerk oder Tourismus vorhanden sind und dass andererseits der nächste größere Ort gut und schnell erreichbar ist.

Die weitere Zukunft solcher kleinen Orte in peripheren Lagen hängt von zwei Faktoren ab: Zum einen braucht ein solcher Ort, damit er dauerhaft lebensfähig sein kann, eine gewisse Mindestausstattung an Infrastrukturen wie Laden, Gastwirtschaft, Post, Bank, ärztliche Versorgung, Schule, Internetanschluss u.ä. Diese müssen nicht unbedingt im gleichen Ort, aber doch in direkter Nähe und in schneller Erreichbarkeit vorhanden sein. Viele junge Familien z.B., die von einem dezentralen Arbeitsplatz in peripherer Lage leben, verlassen einen Ort ohne Schule, wenn ihre Kinder ins schulpflichtige Alter kommen, und ähnliches gilt für alte Menschen, wenn sie ab einem bestimmten Zeitpunkt häufig medizinische Betreuung benötigen. Eine „modernes“ Leben ist heute auf eine Reihe von Infrastrukturen und Dienstleistungen angewiesen und ohne diese nicht möglich.

Zum anderen sind solche Orte auf eine ganzjährig gut funktionierende Straßenverbindung angewiesen, die für Auspendler, Bauern, Handwerker, Touristen, aber auch für Besorgungen aller Art und bei Notfällen die Verbindung zur Außenwelt darstellen. Wird die Zufahrtsstraße durch Felsstürze, Muren, Erosionen oder Lawinen unpassierbar, ist ein solcher Ort völlig isoliert, weil es in der Regel im Gebirge keine zweite Straße gibt. Da die Alpen als junges Hochgebirge eine hohe naturräumliche Dynamik besitzen, werden Straßen häufig unterbrochen und müssen immer wieder neu repariert werden.

Für die Aufrechterhaltung eines Teils der notwendigen Infrastrukturen und Dienstleistungen (Schule, Medizin, Verwaltung) und für Unterhalt und Reparatur der Straßen ist der Staat zuständig. Da die anfallenden Kosten in Bezug auf die geringe Zahl der betroffenen Personen relativ hoch sind, müssen sie in einer Demokratie begründet werden. In der Zeit der sozialen Marktwirtschaft (1949–1989) war dies kein Thema, weil sich der Staat für alle seine Bürger und auch für seine peripheren Regionen gleichermaßen verantwortlich fühlte. Mit dem Zerfall des Kommunismus verschwindet auch die soziale Marktwirtschaft, und der Liberalismus erstarkt wieder, der die überproportional hohen staatlichen Ausgaben für die Peripherie scharf kritisiert. Wenn sich diese Position in Zukunft durchsetzen sollte, dann hätten viele kleine und dezentral im Gebirge gelegenen Siedlungen keine Überlebenschance mehr.

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186 Dieses Bild zeigt keine Idylle, sondern ein Beispiel für eine Siedlungswüstung, die aber auf den ersten Blick nicht so aussieht. Das Dorf Neraissa inferiore, 1433 m (Valle Stura di Demonte, Cottische Alpen), bestand im Jahr 1890 aus 49 Gebäuden und war von 110 Menschen ganzjährig bewohnt. 1936 waren es noch 20, 1955 noch 15 Personen, und 1973 wurde es als Dauersiedlung aufgegeben. Viele ehemalige Bewohner benutzten und benutzen diesen Ort weiter, anfangs für landwirtschaftliche Tätigkeiten, aber diese werden im Generationenwechsel immer mehr zu Freizeitaufenthalten umgewandelt. Heute wird noch ein Gebäude landwirtschaftlich genutzt, 21 Gebäude sind Ferienhäuser (meist von Einheimischen, die wenigen Fremden sind seit langem sozial integriert), und 27 Gebäude sind Ruinen. Die Flur um den Ort herum wurde früher als Ackerfläche genutzt, seit 1965 dominieren hier Wiesen. Ganz vorn sind in den Wiesen Wildschweinschäden zu erkennen, die etwa 15 Jahre brauchen, bis sie wieder verwachsen (September 1984).

In den Fällen, in denen eine aufgegebene Siedlung oder eine Siedlung mit Bevölkerungsrückgang in einer landschaftlich attraktiven Position liegt und mit einer Straße gut erreichbar ist, verfallen viele ungenutzte Häuser nicht, sondern werden von ihren Eigentümern in Ferienhäuser umgewandelt. Diese Eigentümer wohnen entweder weiterhin in den Alpen (in der Regel in einem größeren Ort unten im Tal an der Hauptverkehrsstraße), oder sie sind in eine Stadt außerhalb der Alpen emigriert, die oft nicht sehr weit von ihrer Heimatregion entfernt ist.

Beide Gruppen kommen öfters in solche Orte zurück und verbringen in der Regel hier einen Teil des Sommers, was als Zeichen ihrer emotionalen Verbundenheit mit ihrem Herkunftsort zu interpretieren ist: Wenn sie hier schon nicht mehr leben können, weil es keine Arbeit gibt, dann möchten sie hier wenigstens einen Teil ihrer Freizeit verbringen. Deshalb wirken viele Orte in den Entsiedlungsregionen der Alpen im August sehr viel lebendiger als sie es in Wirklichkeit sind.

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187 Ehemalige Nutzflächen im Tal der Stura di Demonte oberhalb von Pietraporzio in 1400–1550 m Höhe (im Hintergrund die Seealpen). Auf den Flächen im Vordergrund ist flächenhafte Verbuschung zu sehen, die hier zu Beginn der 1960er Jahre einsetzte. Die Nutzflächen in der Bildmitte sind ehemalige Äcker, die heute als Wiesen genutzt werden; auf diesen Flächen gibt es zahlreiche Wildschweinschäden und am Rand Ansätze für Verbuschung (September 2014).

Verwilderung der Landschaft und Klimawandel

Wenn Acker-, Wiesen- oder Weideflächen in den Alpen nicht mehr genutzt werden, dann verwalden sie wieder, weil sie in fast allen Fällen – Ausnahmen sind nur sehr hoch gelegene Almweiden – erst durch Waldrodung entstanden sind und ohne menschlichen Einfluss wieder zu Wald werden.

Das Brachfallen wird von ökonomischen Faktoren gesteuert und durch bestimmte Umweltentwicklungen noch zusätzlich beschleunigt: Wenn die Zahl der Menschen im Gebirge abnimmt und ihre Nutzungen stark zurückgehen, dann erhalten viele Wildtiere wieder die Möglichkeit, sich auszubreiten. Dies betrifft in besonderem Maße Wildschweine, die die letzten Kulturflächen durchwühlen und zerstören sowie Wölfe und Bären, die sich seit Anfang der 1990er Jahre wieder in den Alpen ausbreiten und die Schafherden auf den Almen bedrohen. Beide Entwicklungen beschleunigen den Rückgang der Landwirtschaft.

Wenn eine Landwirtschaftsfläche nicht mehr genutzt wird, dann entwickelt sie sich über drei Phasen zum Wald: In der ersten Phase, der Krautphase, werden die Gräser durch Kräuter zurückgedrängt; in dieser meist kurzen Phase steigt die Artenvielfalt der Vegetation an. In der zweiten Phase, der Strauchphase, die ziemlich lange dauert, setzen sich wenige, dominante Büsche (auf feuchten Flächen oft die Grünerle) durch, so dass die Artenvielfalt sehr stark zurückgeht; von weitem sehen solche Flächen leicht wie ein Wald aus. In der dritten Phase entsteht ein Pionierwald, der sich dann sehr langsam in den standortgemäßen Wald wandelt, wobei die Artenvielfalt wieder ansteigt, aber nicht mehr die Fülle der ersten Phase erreicht.

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188 Wildschweinschäden in einer Wiese in 1700 m Höhe in den Cottischen Alpen (Juni 2015).

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189 Das Val Grande der Lanzo-Täler (Grajische Alpen) hat seit 1871 gut 80 % seiner Bevölkerung verloren. Während der Wald auf den Hängen früher stark aufgelichtet war, breitet er sich heute flächenhaft aus, und nur der schmale Talboden ist noch auf einem kleinen Streifen waldfrei (September 2014).

Die Schnelligkeit dieser Entwicklung hängt von folgenden Faktoren ab:

Ausgangsvegetation: Eine dichte, gleichmäßige Wiesenvegetation ist sehr stabil, so dass es sehr lange dauert, bis sich nach der Nutzungseinstellung die ersten Büsche entwickeln können. Auf einer Weide mit zahlreichen kleinen Trittschäden dagegen können Büsche und Bäume schnell anwachsen.

Höhenlage: Je tiefer eine Fläche liegt, desto schneller, und je höher eine Fläche liegt, desto langsamer laufen alle biologischen Prozesse ab.

Feuchtigkeit: Je feuchter eine Fläche ist (Niederschlag oder Wasser im Boden), desto schneller entwickeln sich Büsche und Bäume, je trockener eine Fläche ist, desto schwerer haben sie es.

Die schnellste Waldentwicklung der Alpen finden wir am warmen und feuchten Alpensüdrand in tiefen Lagen, wo bereits nach 50 bis 70 Jahren die Strauchvegetation durch den aufkommenden Pionierwald ersetzt wird. In vielen Alpenregionen dauert die Krautphase 5 bis 10 Jahre und die Strauchphase 80 bis 120 Jahre. In den sommertrockenen Alpenräumen dagegen kann die Krautphase mehr als 20 Jahre betragen, und hier ist es derzeit noch unsicher, ob sich am Ende überhaupt wieder ein Wald bildet, oder ob die Strauchphase nicht als Macchia ähnliche Trockenbuschvegetation das Endstadium bildet, so wie wir das aus mediterranen Gebirgen kennen.

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190 Das obere Isartal mit dem Karwendelgebirge. Wenn nicht der Staudamm des Sylvensteinspeichers, die Brücke der Bundesstraße und einige Rodungsinseln sichtbar wären, könnte man meinen, die Alpen seien hier im Naturzustand erhalten (August 2011).

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191 Die sichtbaren Berghänge auf diesem Bild in 1200 bis 1400 m Höhe, ehemalige Wiesen und Weiden im Neraissa-Tal (Cottische Alpen), waren noch bis Mitte der 1960er Jahre fast völlig frei von Büschen und Bäumen. Da zum Zeitpunkt der Aufnahme große Trockenheit herrschte, ist der Unterschied zwischen der bräunlichen Gras- und Krautschicht und den hellgrünen Büschen/Laubbäumen und den dunkelgrünen Nadelbäumen sehr deutlich zu erkennen (September 2017).

Während sich Siedlungswüstungen und Orte mit stark rückläufigen Einwohnerzahlen in erster Linie in Alpenregionen mit einer schlechten Erreichbarkeit zu den großen Metropolen und Alpenstädten finden, sind verwildernde Kulturlandschaften ein Phänomen, das überall im Alpenraum anzutreffen ist, selbst am Alpenrand und in der direkten Nähe von Alpenstädten und Tourismuszentren.

Da verlässliche Zahlen der Flächennutzung für frühere Zeiten alpenweit nicht vergleichbar vorliegen, ist man auf Schätzungen angewiesen: Zwischen 1870 und heute dürfte sich die Waldfläche (einschließlich der verbuschenden Flächen) verdoppelt haben. Die Waldzunahme ist in den traditionell waldarmen Altsiedelräumen der Alpen größer als in den Jungsiedelräumen, allerdings sind die Jungsiedelräume heute stärker bewaldet als die Altsiedelräume.

Die größten Wälder der Alpen finden sich heute in den östlichen Ostalpen, also im Grenzbereich der Bundesländer Niederösterreich, Oberösterreich und Steiermark; hier gibt es gut 100 räumlich zusammenhängende Gemeinden, in denen die Waldfläche mehr als 80 % der gesamten Gemeindefläche beträgt. Ursache dieser außergewöhnlichen Entwicklung sind großflächige Aufforstungen im 19. Jahrhundert durch Adel und Großbürgertum zum Zwecke der Jagd, bei denen zahlreiche Bauerngüter aufgekauft und aufgeforstet wurden („Bauernlegen“). Heute sind diese großflächigen Waldgebiete touristisch uninteressant.

In der Schweiz werden die Flächenveränderungen besonders genau erfasst: Zwischen 1985 und 2009 gehen in den Schweizer Alpen die Landwirtschaftsflächen um 5,9 % zurück und die Waldflächen steigen um 5,1 % an. Dabei übersteigen die Werte der Alpensüdflanke (Tessin und Südbünden) die Durchschnittswerte stark: Hier geht die Landwirtschaftsfläche zwischen 1985 und 2009 sogar um 15,6 % zurück, und die Waldfläche steigt um 7,8 % an. Da die Schweizer Alpen repräsentativ für die gesamten Alpen sind, dürfte diesen Werten eine alpenweite Bedeutung zukommen.

Mit der Verwilderung vieler ehemaliger Kulturlandschaften wird aus den ehemals offenen Alpen ein immer stärker bewaldetes und dunkles Hochgebirge. Dabei verschwinden die kleinräumigen Landschaftsstrukturen mit ihrer alpenspezifischen Gestaltung,

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192 Diese Almflächen in 1700 bis 2100 m Höhe im Formazza- Tal oberhalb von Riale (Lepontinische Alpen) wurden früher flächenhaft als Almweiden genutzt. Nach dem Zweiten Weltkrieg zog sich die Almnutzung auf kleine Restflächen zurück, und seitdem verbuschen die meisten Flächen mit Zwergsträuchern (Alpenrosen, Heidelbeeren, Zwergwacholder). Hinten links die Corni di Nefelgiü, rechts die 3000 m hohe Ban-Gruppe (September 2017).

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193 Die Gemeinde Canosio, 1275 m, im Maira-Tal (Cottische Alpen) hat seit 1871 89 % ihrer Einwohner verloren. Ihre südexponierten Hänge (Bildmitte und Bildmitte rechts), die bis in eine Höhe von 1650 m gerodet und früher vollständig waldfrei waren, sind heute zu großen Teilen verbuscht und verwaldet (September 2016).

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194 und 195 Die Vergleichsbilder des Gepatschferners im Kaunertal/Tirol (Ötztaler Alpen) aus den Jahren 1904 (links) und 2017 (rechts) zeigen eindrücklich, wie stark der Gletscher seitdem zurückgeschmolzen ist. Deutlich erkennbar ist auf dem Foto von 1904 die Moräne des Gletscherhöchststandes von 1860, und selbst heute noch ist dieser ehemalige Gletscherrand deutlich in der Landschaft zu erkennen (weitere aufschlußreiche GletscherVergleichsfotos: www.gletscherarchiv.de).

Die Gletscher der Alpen zeigen sehr anschaulich und besonders deutlich, dass das Klima in Europa in den letzten zweitausend Jahren permanent zwischen etwas wärmeren und etwas kühleren Phasen pendelte: Zur Zeit des Römischen Reiches war es relativ warm und die Gletscher waren noch etwas weiter als heute zurückgeschmolzen, in der Völkerwanderungszeit und im frühen Mittelalter wurde es relativ kühl und die Gletscher stießen wieder weit vor, dann gab es zwischen 900 und 1300 n. Chr. erneut eine relativ warme Phase, und anschließend setzte die so genannte „Kleine Eiszeit“ ein, an deren Ende um 1860 die Gletscher so weit vorstießen wie noch nie in den letzten zweitausend Jahren. Seitdem wird es wieder deutlich wärmer, und die Gletscher schmelzen wieder sehr stark zurück.

Diese natürlichen Pendelbewegungen des Klimas werden seit der Mitte des 19. Jahrhunderts durch die anthropogene Klimaerwärmung überlagert, die durch die Luft- und Umweltverschmutzungen des Industriezeitalters verursacht wird. In den Alpen ist die Klimaerwärmung seit 1860 deutlich stärker als im globalen Durchschnitt ausgeprägt, aber es ist schwer, den natürlichen und den anthropogenen Anteil dabei voneinander abzugrenzen.

Die Gletscher haben sich seit 1860 sehr stark zurückgezogen; allerdings liegt ihr Rückzug vorläufig noch innerhalb der natürlichen Schwankungsbreite der vergangenen zweitausend Jahre. Anders sieht es dagegen mit der Geschwindigkeit des Rückzugs aus: Dieser läuft sehr viel schneller ab, als wir es aus den Zeiten vor 1860 kennen, und die Zeit ab dem Jahr 2000 ist durch ausgeprägte Hitzesommer und durch ein besonders schnelles Abschmelzen der Gletscher geprägt. Dies stellt einen eindeutigen Hinweis auf eine anthropogene Klimaerwärmung dar.

Jeder Laie kann in den Alpen die permanenten Klimaveränderungen am Beispiel der Gletscher wahrnehmen und beobachten: Wenn Gletscher vorstoßen, dann bilden sie an ihren Seiten und an ihrem Ende große Seiten- und Endmoränen aus, die in der Landschaft stehenbleiben, wenn sich der Gletscher wieder zurückzieht. Heute sind die Moränen aus der Zeit um 1860 herum überall in den Alpen sehr deutlich zu sehen, weil sie noch nicht erodiert sind und weil sie auf den Innenseiten (also dort, wo früher das Eis war) immer noch keine richtige Vegetationsdecke ausgebildet haben.

Dank dieser Moränen kann sich jeder Alpenbesucher sehr einfach die Klimasituation von 1860 vorstellen, und er kann sich sehr anschaulich und sehr konkret vor Augen führen, wie sich die Alpen seitdem verändert haben. Es gibt weltweit kaum ein anderes Naturphänomen, was auf Klimaveränderungen so anschaulich und so gut sichtbar reagiert wie Gletscher.

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196 Der Stausee Bacino del Chiotas, 1978 m, in den zentralen Seealpen am 7. September 2017. Üblicherweise ist er zu diesem Zeitpunkt gut gefüllt, aber da es hier zuvor 10 Wochen lang nicht geregnet hatte, war er außergewöhnlich leer, was die Stromproduktion im Winter 2017/18 stark beeinträchtigte.

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197 Am Rande des Unteren Grindelwaldgletschers (Berner Alpen) haben sich seit dem Jahr 2005 in 1400 m Höhe zwei Seen gebildet, die für den Ort Grindelwald eine große Gefahr darstellen. Mit großem Aufwand wurde im Jahr 2009 ein Stollen gebaut, der einen kontinuierlichen Wasserablauf gewährleistet und der damit verhindern soll, dass ein See überläuft und eine gewaltige Flutwelle verursacht (27. August 2013).

Mit der Klimaerwärmung verändern sich auch die Niederschläge: Sie werden im Sommerhalbjahr tendenziell geringer, und sie fallen vermehrt innerhalb kurzer Zeiträume als Starkregen, die katastrophale Folgen auslösen können. Auf Grund des Rückgangs der sommerlichen Niederschläge speichern die Alpen in den Gletschern weniger Wasser als früher; dies macht der Wasserkraftnutzung heute schon Schwierigkeiten, und diese werden sich in Zukunft noch verstärken. Und die Tendenz zu katastrophalen Starkregen erhöht die Bedrohung der Alpen durch Muren und Hochwasser.

Durch den starken Rückzug der Gletscher entstehen im Gletschervorfeld, also an den ehemals eisbedeckten Standorten, eine Reihe von neuen Seen. Diese stellen ein erhebliches Gefahrenpotenzial dar, weil sie leicht ausbrechen können – das Moränenmaterial, was sie begrenzt, ist leicht erodierbar – oder weil Eismassen vom Gletscher in sie hineinstürzen können, was in beiden Fällen eine Flutwelle auslösen würde. Davon werden zahlreiche Orte bedroht, die unterhalb von ihnen liegen.

Derzeit ist die Zahl der neuen Seen in den Gletschervorfeldern noch überschaubar, aber mit dem weiteren Rückzug der Gletscher dürfte ihre Zahl sprunghaft ansteigen. Allein in der Schweiz rechnen Experten im Verlauf der nächsten Jahrzehnte mit 500 bis 600 neuen Seen, und alpenweit dürfte diese Zahl mindestens 1500 betragen. Dadurch steigt das Gefahrenpotenzial durch Muren und Hochwasser erheblich an.

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198 In der Bildmitte links genau oberhalb der Gebäude der Gias dei Signori, 1950 m, erkennt man eine große Hohlform im Fels (Val Grande der Lanzo-Täler, Grajische Alpen). Hier befand sich in der „Kleinen Eiszeit“ ein Gletscher, von dem heute nur noch ein sehr kleines Schneefeld übrig geblieben ist. Im unteren Teil, der schon länger eisfrei ist, hat bereits die Verbuschung eingesetzt, während der obere Teil noch vegetationsfrei ist (September 2014).

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199 Blick von der Ortschaft Gletsch, 1759 m, im Oberwallis auf die Felsstufe, über die in der „Kleinen Eiszeit“ der Rhônegletscher hinabgeflossen ist und die heute vollständig eisfrei geworden ist. Um das Jahr 1860 herum reichte der Rhônegletscher bis fast zum Standpunkt, von dem aus dieses Foto gemacht wurde (August 2017).

Sprunghafte Naturereignisse wie Bergstürze, Muren, Hochwasser oder Lawinen sind typisch für ein junges Hochgebirge wie die Alpen (siehe Kapitel 2). Seit 1987 jedoch werden solche Ereignisse wieder häufiger. Dafür gibt es zwei sehr unterschiedliche Ursachen.

Die erste Ursache ist die Klimaerwärmung: Durch die höheren Temperaturen steigt die Null-Grad-Grenze im Gebirge an, und der Permafrost in großen Höhen beginnt aufzutauen. Permafrost ist gefrorenes Wasser im Boden und in Felsritzen, was in Zeiten eines kühleren Klimas permanent, also ganzjährig gefroren ist. Als fein verteiltes Eis hält es lockeren Boden und gelockerte Felsstücke zusammen und stabilisiert sie. Wenn dieses Eis auf Grund der Klimaerwärmung auftaut, kann ein lockerer Boden leicht erodiert werden, und aus einer Felswand brechen zahlreiche Felsstücke heraus und bilden große Schutthalden am Fuß einer Felswand.

Zugleich ist mit der Klimaerwärmung die Tendenz zu vermehrten Starkniederschlägen verbunden. Die sehr heftigen Niederschläge finden durch das Auftauen des Permafrostes sehr viel lockeres Material im oberen Höhenstockwerk der Alpen vor, das sie in Form von Muren talwärts verfrachten, die dann dort sehr große Zerstörungen verursachen.

Die zweite Ursache sind die menschlichen Veränderungen der Alpen seit 1860. Weil die traditionellen Bauerngesellschaften die Alpen sehr kleinräumig nutzten, blieben zahllose Feuchtbiotope und Moore erhalten, die bei Hochwasser zu unzähligen dezentralen Wasserspeichern wurden und die dadurch Hochwasserspitzen deutlich dämpfen konnten. Solche Flächen sind heute durch die agrarischen Intensivierungen fast vollständig verschwunden, und die Vegetation der intensiv genutzten Hänge (Wiesen und Skipisten) ist auf Grund der geringen Artenzahl und des gleichmäßigen Wurzelhorizontes gegenüber der Erosion durch fließendes Wasser nicht sehr widerstandsfähig. Die modernen Intensivnutzungen in Landwirtschaft und Tourismus mit ihren großflächigen

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200 In der zweiten Septemberhälfte 1993 gab es in großen Teilen der zentralen Westalpen (Piemont, Wallis, Tessin, Lombardei) in kurzer Zeit extrem heftige Niederschläge, die zahlreiche Muren und Hochwasser auslösten. Hier die Mure, die das Dorf Forno Alpi Graie, 1218 m (südliche Grajische Alpen) am 24. September 1993 verwüstete. Nachdem das Wasser abgelaufen war bedeckten die Ablagerungen aus Steinen, Geröll, Sand und Erde den Ort in einer Höhe von einem bis 1,5 Metern (25. September 1993).

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201 Am 23. August 2017 gab es am Piz Cengalo, 3369 m (Bergeller bzw. Engadiner Alpen), einen großen Bergsturz. Da die Steine mit großer Wucht auf den Cengal-Gletscher stürzten, schmolz das Eis plötzlich, und es entstand eine große Mure, die durch das Bondasca-Tal floss und die erst im Haupttal bei Bondo, 823 m, zum Stehen kam, wobei die wichtige Talstraße vollständig blockiert wurde. Da es hier bereits in den Jahren 2010 und 2011 Muren gegeben hatte, hatte man am Zusammenfluss der Bondasca mit dem Fluss Mera ein großes Rückhaltebecken für Murablagerungen angelegt. Dieses wurde am 23. August vollständig gefüllt. Als dann am 25. August eine weitere Mure abging, ergoss sich diese zweite Mure über die Randgebiete des Ortes Bondo mit den dortigen Neubauten und richtete zusätzlich große Zerstörungen an. Auffällig ist, dass der historische Ortskern von Bondo von diesen Muren nicht betroffen wurde, sondern nur die Neubauten am Ortsrand (1. September 2017).

Geländeplanierungen und den zahlreichen Bodenversiegelungen fördern darüber hinaus den sofortigen oberirdischen Wasserabfluss, so dass aus einem starken Niederschlag ein extrem starker Abfluss werden kann.

Da die moderne Gesellschaft den Eindruck hat, sie hätte die Natur dank Naturwissenschaft und Technik total im Griff, fehlt heute der Respekt vor und das Wissen um die Gefährlichkeit der Natur. Deshalb weicht man heute bei Wohn-, Gewerbe- oder Straßenbauten den Gefahren nicht mehr wie früher aus, sondern baut in ehemalige Gefahrenbereiche, nachdem sie zuvor technisch „gesichert“ wurden. Oder man erlebt Naturkatastrophen nur noch als Event und geht „Hochwasser schauen“, wodurch die Auswirkungen von Naturereignissen zusätzlich vergrößert werden.

Die Auswirkungen der Klimaerwärmung und der menschlichen Veränderungen der Alpen im Gefolge der Modernisierung verstärken sich also wechselseitig und erhöhen damit die Wahrscheinlichkeit, dass sprunghafte Naturereignisse häufiger werden und für den Menschen katastrophale Ausmaße annehmen.

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202 und 203 schließen unmittelbar aneinander an und zeigen die flächenhafte und chaotische Zersiedlung im Umfeld der Stadt Lugano (Tessin). Ganz rechts ein Teil des Stadtkerns von Lugano mit dem gut sichtbaren Bahnhof (Gotthard-Linie). Auf dem rechten Bild links am Bildrand die Gotthard-Autobahn, darüber der Lago di Muzzano, 337 m (von einer eiszeitlichen Moräne verursacht), und etwas links darüber der Flughafen Lugano-Agno. Auf dem linken Bild in der Bildmitte der nordwestliche Arm des Lago di Lugano, 271 m, links darüber ein kleiner Ausschnitt des Lago Maggiore. Ganz links am Bildrand der Ort Ponte Tresa mit der schweizerisch-italienischen Grenze.
Im Hintergrund von links nach rechts die verschneiten Walliser Alpen mit der Monte Rosa-Gruppe (leicht in Wolken), die Berge des Nationalparks Val Grande (die Felsgrate ohne Schnee) und die Lepontinischen Alpen (verschneit). Dann auf der rechten Hälfte des linken Bildes und auf der linken Hälfte des rechten Bildes die Region Malcantone, eine traditionelle Abwanderungsregion, mit Gipfelhöhen zwischen 1620 m (Monte Lema, links), und 1961 m (Monte Tamaro, rechts). Rechts am Bildrand über dem Vedeggio-Tal (Transitachse zum Gotthard) die verschneiten Adula-Alpen.
Gut erkennbar ist die flächendeckende Zersiedlung aller gut erreichbaren und flacheren Standorte rund um Lugano herum. Dort, wo das Relief steiler wird, werden die Siedlungen seltener oder hören ganz auf, und der eigentliche Gebirgsraum ist seit langem verbuscht und verwaldet (Oktober 1993).

Verstädterung und Zersiedlung der Tallagen

Die wichtigste Veränderung, die der Prozess der Modernisierung den Alpen gebracht hat, ist nicht der Tourismus, sondern die starke Verstädterung und Zersiedlung, die heute die Tallagen aller großen und größeren Alpentäler prägen. Diese Veränderungen sind so groß, dass die Alpen in Bezug auf Bevölkerung und Arbeitsplätze zum verstädterten Raum geworden sind (siehe Kapitel 4).

Der damit verbundene Wandel ist für jeden Alpenbesucher und für jeden Alpenbewohner unübersehbar: Jeder, der von außen in die Alpen hineinkommt, und jeder, der sich vom Wohnort zum Arbeitsort innerhalb der Alpen bewegt, fährt kilometerlang durch Räume, die erst seit den 1960er Jahren bebaut wurden und die sich mit ihrer Zersiedlung und Gesichtslosigkeit in Nichts von den Randbereichen der großen europäischen Metropolen unterscheiden. Erstaunlich ist, dass dieser wichtige Teil der Realität der Alpen üblicherweise ausgeblendet wird, wenn man von „den Alpen“ spricht, und dass alle Bildbände diesen Teil der Alpen aussparen – die Realität der Alpen und das „Alpenbild im Kopf“ fallen hier besonders weit auseinander.

Ursache für diese Entwicklung ist einerseits das starke Bevölkerungswachstum fast aller Alpengemeinden mit guter Erreichbarkei – 1652 Gemeinden (27 % aller Alpengemeinden) verzeichnen zwischen 1871 und 2011 ein Wachstum von mehr als 100 % –, andererseits das starke Wachstum aller Raumansprüche: Der durchschnittliche Wohnraum pro Kopf hat sich seit 1960 verdoppelt, die neuen Supermärkte benötigen fünfmal mehr Platz als früher, und ähnlich sieht es bei den Gewerbebauten, bei den Freizeitanlagen und bei den Verkehrsinfrastrukturen aus. Das bedeutet, dass das Siedlungswachstum mit einem enormen Flächenbedarf verbunden ist und noch sehr viel stärker als das Bevölkerungswachstum ausfällt.

Dieses Siedlungswachstum ist am stärksten im Umfeld der großen und der mittelgroßen Alpenstädte, am Alpenrand in der Nähe der außeralpinen Metropolen sowie in den Tourismuszentren ausgeprägt; es setzt sich entlang der großen Transitachsen fort, wo jede Autobahnausfahrt zum Siedlungsknoten wird und wo lange Siedlungsbänder zwischen den Alpenstädten entstehen, und es ist auch bereits abseits der Transitachsen in größeren Alpentälern mit guter Erreichbarkeit zu finden. Von dieser Entwicklung werden zwar viele Gemeinden erfasst (in den tiefen Tallagen gibt es viel mehr Gemeinden als im eigentlichen Gebirgsraum), aber die davon betroffenen Flächen sind doch eher klein und beschränken sich auf die flachen Talböden.

Dass dieses starke Siedlungswachstum aber überall zu einer chaotischen und flächenhaften Zersiedlung führt, liegt daran, dass es in keinem Staat mit Alpenanteil eine verbindliche Raumplanung gibt, die diese Entwicklung in geordnete Bahnen lenken würde. In der Regel sind die Gemeinden dafür zuständig, und diese handeln oft egoistisch und kurzfristig.

Diese chaotische Zersiedlung steigert noch zusätzlich den Flächenverbrauch, weil dadurch weit verstreute und wenig kompakte Strukturen entstehen, die besonders lange Straßen und große Parkplätze benötigen.

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204 Die Gemeinde Mittenwald, 923 m, wächst von 1685 Einwohnern im Jahr 1871 auf 7410 Einwohner im Jahr 2016, und ihre Siedlungen füllen inzwischen fast das gesamte Isar-Tal aus. Vorn links Abhänge des Karwendel, hinten die Dreitorspitze, 2682 m, im Wettersteingebirge (August 2012).

Die zersiedelten Gebiete mit ihren Wohn-, Gewerbe- und Freizeitgebieten, Einkaufszentren, Parkplätzen und Bahn-/Straßenflächen sind durchsetzt mit Landwirtschafts-, Wald-, Sport- und kleinen Naturschutzflächen, die inselförmig zwischen ihnen liegen. Solche Strukturen werden „Zwischenstadt“ genannt, weil sie weder Land noch Stadt sind und weil sie keine gemeinsame Identität besitzen.

Die einzelnen Standorte in dieser Zwischenstadt sind funktional jeweils eng mit anderen, weit entfernten Standorten außerhalb der Alpen vernetzt, haben aber weder etwas mit ihren benachbarten Standorten noch mit den Alpen zu tun. Dadurch sind diese Räume durch kalte Funktionalitäten und anonyme Beziehungen geprägt.

Dies zeigt sich in der Architektur sehr deutlich: Sowohl bei den Wohn- wie auch bei den Gewerbegebäuden handelt es sich in der Regel um schnell und möglichst kostengünstig errichtete Zweckbauten. Sie sehen hier so aus wie überall in Europa, sind also völlig austauschbar, und sie besitzen keinerlei Beziehungen zu ihrer Umgebung, weder zu den anderen Gebäuden in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft, noch zu den Alpen.

Die Mobilität ist in diesen Räumen dadurch geprägt, dass alles auf Pkw und Lkw ausgerichtet ist, weil es kaum einen öffentlichen Nahverkehr gibt und weil die Entfernungen zu groß sind, um zu Fuß zu gehen. Da der Platz auf den ebenen Talböden begrenzt ist – eine Bebauung der benachbarten Hänge wäre sehr viel teurer – herrscht hier oft eine gewisse Flächennutzungskonkurrenz, so dass die Grundstückspreise nach einer gewissen Zeit gar nicht mehr günstig sind.

Das Leben hier besitzt eine geringe Umweltqualität: Der sehr starke Verkehr verschmutzt die Luft stark, was besonders an Tagen mit Temperaturinversion (warme Luft liegt über kalter Luft) große Probleme macht, der Lärm stellt trotz langer Schallschutzmauern eine permanente Belastung dar, die ökologische Qualität der Freiflächen ist sehr niedrig, weil sie von anderen Freiflächen isoliert sind, und der Boden ist sehr stark versiegelt. Und da es kaum ein soziales und kulturelles Leben gibt, hält man sich hier nicht länger als unbedingt nötig auf.

Solche Strukturen finden sich heute in größeren Teilen Europas, aber sie sind auch längst Bestandteil der Alpen geworden und prägen gerade die dynamischen und stark wachsenden Alpenregionen mit guter Erreichbarkeit. Als demographisch und wirtschaftlich wichtige Teile der Alpen dürfen sie nicht ausgeblendet werden, wenn es um „die Alpen“ geht.

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205 Die Gemeinde Garmisch-Partenkirchen, 708 m, am Fuß der Zugspitze (Wettersteingebirge) verzeichnet seit dem Eisenbahnanschluss im Jahr 1889 ein starkes Tourismuswachstum. Ihre Bevölkerung wächst von 3038 Einwohnern im Jahr 1871 auf 27 149 Einwohner im Jahr 2016. Dieses sehr starke Wachstum führt zu einer so starken Zersiedlung im Loisach-Tal, dass die dringend benötigten Umgehungsstraßen nur noch in Form langer Tunnel gebaut werden können; deshalb wird ihre Fertigstellung noch längere Zeit brauchen (August 2012).

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206 Die Tourismusgemeinde Leukerbad im Wallis hatte seit 1981 ihre Infrastrukturen massiv ausgebaut (Sportarena, Alpentherme, Burgerbad, Rathaus, Parkhaus) und dabei so extrem hohe Schulden angehäuft, dass sie 1998 als erste Schweizer Gemeinde unter kantonale Zwangsverwaltung gestellt und der Gemeindepräsident wegen Betrugs und Untreue im Amt verurteilt wurde. Die damit verbundene touristische Verstädterung ist typisch für viele Tourismusgemeinden und macht aus dem Ort eine gesichtslose Ansammlung von Gebäuden (August 2009).

Freizeitparks im Hochgebirge

Die zweitwichtigste Veränderung, die die Alpen im Verlauf der Modernisierung durchgemacht haben, ist die Ausbreitung des Massentourismus im eigentlichen Gebirgsraum. In der Öffentlichkeit wird dies oft als die wichtigste Veränderung angesehen, aber dies ist nicht richtig: Bei dieser Sichtweise werden erstens die tiefen Tallagen mit ihrer starken Verstädterung aus den Alpen ausgeblendet, was jedoch falsch ist, und zweitens werden die Alpen aus der Münchner oder Zürcher Perspektive wahrgenommen, von wo aus man in kurzer Zeit sehr viele Tourismusorte, aber kaum Entsiedlungsregionen erreicht, so dass es sich um eine sehr spezielle Alpenperspektive handelt.

Wenn wir jetzt die aktuelle Situation der Alpen zusammenfassend darstellen, dann müssen wir feststellen, dass die Alpen zwar eine der am stärksten für den Tourismus erschlossenen Regionen der Welt sind, dass der Tourismus hier aber trotzdem kein flächenhaftes Phänomen ist, sondern sich sehr stark auf nur etwa 300 Tourismusgemeinden, also 5 % aller Alpengemeinden konzentriert und dass er nur für etwa 15–18 % aller Arbeitsplätze der Alpen verantwortlich ist (siehe Kapitel 4). Da sich jedoch der eigentliche Gebirgsraum grundsätzlich den Nutzungen der Moderne sperrt, erregt der Tourismus als die einzige Kraft, die – neben der Wasserwirtschaft – die Hochgebirgslandschaft nach den Prinzipien der Moderne nutzt und umbaut, stets eine besondere Aufmerksamkeit.

Betrachtet man die großen und erfolgreichen Tourismusorte, dann sind sie heute – wie es der Logik der Moderne entspricht – alle zu Städten geworden, die in der Hochsaison um die 25.000 bis 50.000 Bewohner (Einheimische und Gäste) zählen und die über entsprechende Infrastrukturen verfügen. Damit verbunden sind städtische Baustrukturen und eine starke Zersiedlung, die von den ehemaligen Bauerndörfern kaum noch etwas ahnen lassen.

Es ist sehr erstaunlich, dass der Tourismus in der Werbung immer noch die ländliche Idylle ins Zentrum stellt und seine städtischen Strukturen „versteckt“. Genauso erstaunlich ist es aber, dass die Gäste diesen Gegensatz offenbar nicht wahrnehmen – solche Widersprüche sind typisch für den gegenwärtigen Massentourismus.

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207 Die Tourismusgemeinde Zermatt, 1608 m, im Wallis ist so stark gewachsen (1870 = 482, 2016 = 5714 Einwohner bei 20.000 Gästebetten), dass die Siedlungen den gesamten Talboden vollständig ausfüllen (August 2003).

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208 Für die Anlage von Skipisten, kilometerlangen Leitungen, Speicherseen, Liftanlagen, Versorgungsstraßen und Sicherungsbauten (im Vordergrund Lawinengitter) müssen die Alpen flächenhaft umgebaut werden so wie hier das Gebiet der Idalp, 2311 m, oberhalb von Ischgl/Tirol (August 2009).

Die Skipisten für den Abfahrtsskilauf stellen große flächenhafte Eingriffe in die Alpen dar. Während man in einer langen Anfangszeit einfach das vorhandene Relief einschließlich der Forst- und Almstraßen nutzte, um bergab zu fahren, sind die Skipisten heute sehr breit, besitzen einen planierten Untergrund und werden in der Regel künstlich eingesät.

Um ein optimales System von Skipisten anlegen zu können, muss das Relief eines gesamten Hanges aufwendig mit Planierraupen verändert werden, der gesamte Wasserabfluss muss mittels Entwässerungsgräben neu gestaltet werden, damit die Pisten nicht durch Erosionen zerstört werden, und alle Pisten – selbst die im Gipfel- und Gratbereich – müssen künstlich beschneit werden, wozu große Speicherseen gebaut werden müssen. Felsige Engstellen werden durch Sprengungen erweitert, ebenso wie exponierte Steilstellen im Pistenverlauf abgeflacht werden.

Zusätzlich werden viele Pisten mit Musik beschallt und abends beleuchtet, was zusammen mit den Anlagen der künstlichen Beschneiung ein System von kilometerlangen Leitungen erfordert, die frostsicher im Boden verlegt werden müssen.

Das bedeutet, dass ein solches Skigebiet einen sehr großen technischen Eingriff in die Natur- und Kulturlandschaft der Alpen bedeutet, der das betroffene Gebiet ökologisch vollständig verändert. Im Winter bei einer hohen Schneedecke wirkt das Ergebnis vielleicht „natürlich“, aber im Sommer sind die Veränderungen unübersehbar, und wenn man einmal zufälligerweise die Bauarbeiten für ein solches Skigebiet sieht, dann erhält man einen Eindruck, wie tief greifend die Eingriffe sind, um die Alpen optimal für den Abfahrtsskilauf umzubauen.

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209 Gletscher, die für den Gletscherskilauf erschlossen werden, werden heute oft künstlich beschneit, und die Pisten werden im Sommer abgedeckt, um die Schneeschmelze zu verzögern so wie hier am Stubaier Gletscher in den Stubaier Alpen (August 2010).

Heute gibt es gut 600 Skigebiete mit mehr als 5 km Pistenlänge in den Alpen, darunter sind 25 sehr große Skigebiete, die mehr als 180 km Pistenlänge aufweisen. Auf Grund des Klimawandels werden viele kleine Skigebiete in tieferen Lagen trotz künstlicher Beschneiung in absehbarer Zukunft verschwinden, während große und sehr große Skigebiete miteinander zu Superskigebieten verbunden werden.

Die Flächen aller Skigebiete der Alpen wurden von Alfred Ringler sehr detailliert berechnet, und sie machen derzeit 2,9 % der Alpenfläche aus. Bezieht man die Skigebiete dagegen auf die Alpengemeinden, dann haben 13 % aller Alpengemeinden auf ihrer Gemeindefläche mindestens ein Skigebiet mit mehr als 5 km Pistenlänge.

Die Skigebiete sind also einerseits Flächen mit sehr großen ökologischen Veränderungen, aber andererseits sind diese flächenhaft begrenzt und keineswegs überall in den Alpen zu finden.

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210 Der Tuxer Ferner in Tirol ist einer der für den Gletscherskilauf erschlossenen Alpengletscher. Links unten das Tuxer Ferner-Haus, 2600 m, darüber die mit einer Seilbahn erschlossene Gefrorene Wand, 3288 m, und rechts hinten der Olperer, 3476 m. Gut erkennbar der Gletscherrückzug, die Versorgungsstraßen, die Lifte und die teilweise abgedeckten Skipisten (August 2012).

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211 Seit 15 Jahren werden Bergbahnstationen im Hochgebirge architektonisch auffällig gestaltet, um die Präsenz des Menschen in dieser eigentlich menschenfeindlichen Region zu symbolisieren. Hier die Bergstation der 2012 eröffneten Wildspitzbahn am Hinteren Brunnenkogel, 3440 m, im Pitztaler Gletscherskigebiet (Ötztaler Alpen); links davon die neue Aussichtsplattform (Juli 2016).

In der vorindustriellen Zeit waren die weitläufigen Fels- und Gletschergebiete der Alpen uninteressant und menschenleer, und nur einige Steinbock- und Gemsjäger besuchten sie kurzfristig.

Dies ändert sich erst mit der touristischen Erschließung der Alpen: Die Alpenvereine errichten seit 1880 in den Fels- und Eisregionen der Alpen zahlreiche Wege, Klettersteige und Hütten, damit Alpinisten diese eigentlich lebensfeindlichen Alpenregionen besuchen können. Heute gibt es etwa 2000 hochgelegene Hütten, von denen zehn sogar oberhalb von 3500 m liegen; die beiden höchsten sind der Refuge de Gouter, 3835 m, am Montblanc und die Capanna Regina Margherita, 4554 m, am Monte Rosa.

Ab 1880 werden Bahnen zu hoch gelegenen Aussichtspunkten gebaut. Im Jahr 1912 wird das Jungfraujoch, 3454 m, mit einer Zahnradbahn erschlossen, und nur der Ausbruch des Ersten Weltkriegs verhindert den Bau bereits geplanter Bahnen auf die Jungfrau und das Matterhorn. Erst im Jahr 1955 wird mit der Seilbahn auf die Aiguille du Midi, 3842 m (Montblanc), dieser Höhenrekord gebrochen, und im Jahr 1979 erschließt eine Seilbahn das Klein Matterhorn, 3883 m (Monte-Rosa-Gruppe), den höchsten Aussichtspunkt der Alpen, der bis heute mit einer Bahn erreichbar ist. Derzeit gibt es gut 130 Aussichtsbahnen, die Punkte oberhalb von 2500 m, der traditionellen Obergrenze der Almwirtschaft, erschließen. Mit ihnen werden sehr viele Menschen in den Gipfelbereich der Alpen transportiert, die allerdings – im Unterschied zu den Alpinisten – dort meist nur für kürzere Zeit verweilen.

Beim Wintertourismus verbleiben die höchsten Skipisten lange Zeit im Almbereich, und erst ab den 1960er Jahren werden Gletscher zum Skifahren erschlossen. Heute gibt es 91 Skigebiete, deren höchster Punkt jeweils zwischen 2500 und 2999 m, und 38 Skigebiete, deren höchster Punkt jeweils über 3000 m liegt; das höchste Skigebiet der Alpen findet sich am Klein Matterhorn (Monte-Rosa-Gruppe), wo der Skilift kurz unter der Gobba di Rollin, 3899 m, endet. Von den knapp 5000 Gletschern der Alpen sind heute 46 für den Gletscherskilauf erschlossen, aber auf knapp 10 weiteren Gletschern wurde der Skilauf bereits wieder eigestellt.

Während viele Jahrzehnte lang die technischen Anlagen im Gipfelbereich so angelegt wurden, dass sie möglichst wenig sichtbar waren, ändert sich das etwa ab dem Jahr 2005 bei Bergbahngebäuden und Alpenvereinshütten: Jetzt planen häufig bekannte Stararchitekten besonders auffällige Gebäude in futuristischem Design und machen sie zu markanten baulichen Wahrzeichen oder Landmarken im Hochgebirge. Damit symbolisieren diese neuen Bauwerke den Anspruch, dass der Mensch die Alpen technisch total beherrsche und dass hier alles machbar sei, was Gewinn bringe.

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212 Für den Neubau der Bergbahnstation des „Glacier 3000“ in fast 3000 m Höhe, der den Tsanfleuron-Gletscher zum Skifahren erschließt (westliche Berner Alpen), wurde ein sehr berühmter Architekt verpflichtet, um das Gebäude als unverwechselbares Wahrzeichen des Menschen im Hochgebirge zu gestalten. Rechts das Oldenhorn, 3123 m; hinter seinem Grat sind in der Bildmitte Eiger, Mönch und Jungfrau zu erkennen (September 2006).

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213 Der Kronplatz, 2275 m, südlich von Bruneck am Nordrand der Dolomiten, ist einer jener Alpenberge, die vollständig für Freizeitzwecke umgebaut wurden: 21 Kabinenbahnen, 5 Sessellifte und 6 Schlepplifte erschließen das Gipfelplateau von drei Seiten aus, die über 100 km Skipisten werden komplett künstlich beschneit, es gibt Downhill-Trails, Gleitschirmfliegen, eine Flying-Fox-Anlage, ein Reinhold-Messner-Museum, einen Aussichtsturm mit Friedensglocke, und der Gipfel war 2008 und 2010 Etappenende des Giro d’Italia. Im Hintergrund die Zillertaler Alpen (November 2016).

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214 und 215 Der Gipfelbereich des Stubnerkogels, 2246 m, oberhalb von Bad Gastein wurde zu einem „Erlebnisberg“ umgestaltet: Es gibt die Aussichtsplattform „Glocknerblick“ (oben), eine 140 m lange Hängebrücke (unten) mit Foto-Point (der rote Kreis rechts am Geländer), einen „Felsenweg“, ein „Funcenter“ für Kinder und WLAN-Verbindung. Deshalb befinden sich die Besucher auf diesem Gipfel in einer städtisch geprägten (Konsum-)Welt und müssen sich gar nicht auf die Bergwelt einlassen (Dezember 2016).

Zeitgleich mit der Neugestaltung der Gebäude im Höhen- und Gipfelbereich setzt eine weitere Entwicklung ein, die in die gleiche Richtung geht: Überall neben den Bergstationen der Seilbahnen werden spektakuläre Hängebrücken, Aussichtsplattformen, Klettersteige oder Felsenwege neben riesigen Hüpfburgen, Hochseilgärten, Bikeparks, Streichelzoos, Funcenter und anderen Attraktionen gebaut, und abwärts kann man mit dem „Flying Fox“ durch die Luft schweben oder einen Monsterroller, einen „alpinen Coaster“ (eine Art Achterbahn) oder ein anderes Gefährt benutzen.

Viele Besucher erwarten in den Alpen besondere Erlebnisse, und sie haben den Eindruck, dass eine „normale“ Wanderung lange nicht so attraktiv sei wie der Gang über eine spektakuläre Hängebrücke. Allerdings nutzt sich dieses besondere Erlebnis bei einem mehrmaligen Besuch schnell ab, und dass man von einer aufwendig gebauten Aussichtsplattform die Berge gar nicht anders als von Standorten daneben wahrnimmt, merkt man spätestens beim zweiten Besuch.

Diese künstlichen Erlebnisangebote, die gekauft werden müssen (Kauf der Bergbahnfahrt) werden schnell langweilig, weil sie ausschließlich normierte und standardisierte Erlebnisse ermöglichen, bei denen alles – bis hin zum idealen „Fotopoint“ – bereits vorgefertigt ist, so dass kein Spielraum für eigene Erlebnisse bleibt. Ein wirkliches Erlebnis enthält dagegen immer ein unvorhergesehenes, überraschendes Element: Wer sich mit offenen Sinnen auf die Natur- und Kulturlandschaften der Alpen einlässt, wird stets etwas Neues auf eindrückliche Weise erfahren; wer jedoch im Bereich der touristischen Infrastrukturen verbleibt, wird immer nur standardisierte Erlebnisse bekommen und enttäuscht zurückfahren.

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216 Die im Juli 2010 eröffnete Aussichtsplattform AlpspiX in 2080 m Höhe, die etwas oberhalb der Bergstation der Alpspitzbahn (unten links) liegt. Rechts das Höllental, am oberen Ende des Höllentals die Zugspitze, 2962 m, und links davon die Höllentalspitzen. Gegenüber dieser eindrücklichen Bergwelt verliert diese Aussichtsplattform sofort ihren spektakulären Charakter (August 2010).

Mit dieser fundamentalen Umgestaltung der Alpen für den Tourismus, die von den verstädterten Tourismusorten im Tal bis hinauf zu den künstlichen Erlebnisangeboten im Gipfelbereich reicht, wird aus Teilen der Alpen ein riesiger Freizeitpark gemacht. Dieser hat mit „den Alpen“ als Natur- und Kulturlandschaft nichts mehr zu tun, sondern gleicht einem städtischen Freizeitpark, der gegen Geld auf Knopfdruck scheinbar perfekte Erlebnisse produziert und der dabei die reale Welt mit all ihren Widersprüchen, Hoffnungen und Phantasien aussperrt. Deshalb kann man sagen, dass die touristisch geprägten Hochlagen der Alpen ein „Tourismusghetto“ darstellen, aus dem die Alpen eigentlich ausgeschlossen sind.

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217 Blick vom Monte San Salvatore, 912 m, nach Osten auf den Lago di Lugano. Links die Ausläufer der Stadt Lugano an den Hängen des Monte Brè (Schweiz), rechts die fast vollständig verwaldete Region Intelvi in den lombardischen Voralpen (Italien); im Hintergrund rechts die Bergamasker Alpen. Der Gegensatz zwischen Zersiedlung und Entsiedlung wird hier exemplarisch sichtbar (September 1993).

Bilanz: Die Alpen verschwinden

Die traditionellen kleinräumigen Kulturlandschaften der Alpen verschwinden mit der Modernisierung der Alpen, und zwar auf zweierlei Weise: Dort, wo nicht modern (also intensiv und konkurrenzfähig) gewirtschaftet werden kann, werden die Kulturlandschaften nicht mehr genutzt, und sie verbuschen und verwalden; dort, wo modern gewirtschaftet werden kann, wird die Nutzung so intensiviert, dass die traditionelle Kleinräumigkeit durch ausgeräumte, zersiedelte, verstädterte Landschaften oder durch künstliche Freizeitparks ersetzt wird. Und die Naturlandschaften der Alpen, die zuvor vom Menschen nur selten betreten und überhaupt nicht verändert wurden, werden jetzt zu kleinen Teilen in künstliche Freizeitparks umgewandelt.

Kurz ausgedrückt: Die traditionellen Kulturlandschaften verschwinden durch Entsiedlung und durch Zersiedlung, und das, was vom Menschen in den Alpen übrig bleibt, hat mit alpenspezifischen Lebens- und Wirtschaftsformen nur noch wenig zu tun: Die heutigen Wirtschafts- und Lebensformen in den Alpen stellen ubiquitäre, austauschbare Formen dar, die sich bestenfalls graduell von denen der europäischen Metropolen unterscheiden. Sie verdanken ihre Existenz nicht mehr der Nutzung konkreter alpenspezifischer Ressourcen, sondern allein der Tatsache, dass die Alpen sehr günstig mitten in Europa liegen, dass sie eine hohe Bedeutung als „weicher Standortfaktor“ besitzen und dass sie als Kulisse für künstliche Freizeiterlebnisse dienen.

Damit bleibt für den Menschen von „den“ Alpen nichts Relevantes mehr übrig, und deshalb kann man provokant bilanzieren: „Die Alpen verschwinden“. Sie verschwinden natürlich nicht in dem Sinne, dass die Gipfel, die Bergketten, die Hochflächen oder die Täler verschwinden, aber sie verschwinden in dem Sinne, dass die Gipfel, die Bergketten, die Hochflächen und die Täler für das moderne Wirtschaften und Leben keinerlei Bedeutung mehr besitzen – die Alpen werden bestenfalls noch als Kulisse, Hindernis oder Störfall wahrgenommen.

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218 und 219 Der Weiler Toldern, 1452 m, in Innerschmirn (Tirol, Tuxer Alpen) im Jahr 1958 (oben) und im Jahr 2006 (unten) (weitere, sehr aussagekräftige Fotovergleiche in Hubatschek „Auf den zweiten Blick“). Obwohl die bergbäuerliche Nutzung „wie früher“ fortgesetzt wird, zeigen sich sehr große Unterschiede: Die Nutzflächen sind auf Grund schleichender Intensivierungen inzwischen ausgeräumt und homogenisiert, und die traditionellen Gebäude sind auf Grund von Umbauten und Neubauten kaum wiederzuerkennen: Die Kulturlandschaft wird austauschbar und verliert ihre Identität.

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220 und 221 Der Weiler Maison, 1564 m, oberhalb von Noasca im Orco-Tal (Gran Paradiso-Gruppe), der in den 1960er Jahren vollständig verlassen wurde (oben) (Juni 2012), und die Lauchernalp, 1969 m, im Lötschental (Wallis), die dank Seilbahn (1972) und Gletscherbahn (2003) in eine Ferienhaussiedlung umgewandelt wurde (unten)(Oktober 2017).

Vergleicht man die traditionellen Kulturlandschaften der Alpen mit den heutigen Landschaften, dann werden schnell Grundsatzfragen in Bezug auf die moderne Entwicklung aufgeworfen:

Umwelt: Die Kleinräumigkeit der traditionellen Kulturlandschaften ist sichtbarer Ausdruck davon, dass die Menschen beim Wirtschaften Respekt vor der Natur der Alpen hatten und dass sie die vorgefundene Natur zwar tief greifend ökologisch veränderten, aber nicht zerstörten. Wenn mit den traditionellen Kulturlandschaften das Wissen um diesen Naturumgang verlorengeht, dann betrifft dieser Verlust das ökologische Fundament unserer modernen Gesellschaft – allein mit Technik oder mit noch mehr Technik lassen sich die Umweltprobleme der Erde nicht lösen.

Kultur: Die Vielfältigkeit der traditionellen Kulturlandschaften ist sichtbarer Ausdruck davon, dass das Handeln und Wirtschaften der Menschen auch von der Geschichte mitgeprägt ist – von der Geschichte mit der Natur, mit spezifischen Erfahrungen im Umgang mit Familienmitgliedern und Nachbarn, mit außergewöhnlichen Ereignissen, mit fremden Menschen und Kulturen usw.

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222 Die Albigna-Staumauer, 2163 m, im Bergell (Graubünden) mit der Kunst-Installation des Schweizer Künstlers Roman Signer „Piaggio an der Mauer“, die im Rahmen der „Arte Albigna – ein wandernd erlebbares Kunstprojekt“ vom 2. Juli bis zum 30. September 2017 gezeigt wurde (Juli 2017).

Diese Geschichte hat sich im Laufe der Zeit in den unterschiedlichen Haus-, Orts- und Flurformen niedergeschlagen und hat zu Identitäten geführt, die sich klar von Tal zu Tal unterscheiden. Heute verschwinden diese gewachsenen Identitäten zugunsten von globalen Normen und Werten, in denen sich die Menschen nicht mehr zu Hause fühlen – das Verschwinden der Tradition hinterlässt eine Leerstelle.

Wirtschaft: Die traditionellen Kulturlandschaften sind sichtbarer Ausdruck davon, dass das Wirtschaften dazu dient, die notwendigen Lebensmittel zu erzeugen, dass dies aber nur dann langfristig möglich ist, wenn dabei auch die Erfordernisse der Umwelt (ökologische Stabilisierung der Kulturlandschaften) und der Kultur (Pflege und Weiterentwicklung der kulturellen und sozialen Werte) gleichwertig mitberücksichtigt werden. Wenn die Wirtschaft zum Selbstzweck wird (aus Geld mehr Geld zu machen) und ihre ökologischen und kulturellen Grundlagen verdrängt, dann entsteht eine kalte, funktionale Welt ohne Sinn, die letztlich ihr eigenes Fundament selbst zerstört. Die Umwandlung von Teilen der Alpen in künstliche Freizeitparks ist davon vielleicht der deutlichste Ausdruck.

Landschaft/Welt: Die Natur- und Kulturlandschaften der Alpen sind sichtbarer Ausdruck davon, dass sich der Mensch als Teil der Natur nie über die Natur stellen kann. Trotzdem glaubt die moderne Welt, sie könne mittels ihrer Technik die Dynamik der Alpen total beherrschen. Viele große Bauwerke symbolisieren diese Überheblichkeit, so wie die 1959 fertig gestellte Albigna-Staumauer, die als Gewichtsstaumauer allein durch ihr Eigengewicht das aufgestaute Wasser zurückhält. Die Kunst-Installation von Roman Signer, der einen kleinen Dreiradtransporter der Marke „Piaggio“ an einem Stahlseil hängend an der Staumauer fixierte, lässt die funktionale Brutalität des Bauwerks ins Lächerliche kippen und stellt so ein angemessenes Symbol für moderne Technik im Hochgebirge dar.

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223 Viehmarkt in Hittisau (Bregenzerwald). Die „Käsestraße Bregenzerwald“ ist eine der wichtigsten und erfolgreichsten Initiativen, die mit garantierter Herkunft und festen Qualitätskriterien das Produkt Käse nicht nur ökonomisch, sondern auch kulturell aufwerten (Oktober 2017).

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224 Eßkastanien waren früher der große Reichtum der Täler auf der Alpensüdseite, aber seit den 1950er Jahren wurden sie kaum noch genutzt. Hier ein Kastanienwald im Tal der Stura di Demonte (Seealpen) in 600 m Höhe, der wieder neu genutzt wird (September 2014).

Welche Zukunft für die Alpen?

Wenn die Entwicklung der Alpen so weitergeht wie bisher, dann werden die letzten noch erhaltenen Kulturlandschaften in absehbarer Zeit allmählich verschwinden, und die Alpen werden ausschließlich aus verwaldeten und verstädterten Regionen bestehen. Dies stellt keine positive Zukunft für die Alpen dar.

Wünschenswert ist es stattdessen, die Alpen gezielt als dezentralen Lebens- und Wirtschaftsraum aufzuwerten, damit hier wieder ein gutes Leben möglich wird. Dies wäre jedoch nicht möglich, wenn man in Anti-Position zur Modernisierung das Ziel ausgibt, die Alpen von Europa abzuschotten und wirtschaftlich autark zu machen – dazu sind die Alpen ökonomisch, ökologisch und auch kulturell viel zu eng mit Europa verflochten. Aber eine gewisse Distanz zu den großen Metropolen ist notwendig, damit die Alpen den Freiraum erhalten, sich eigenständig dezentral zu entwickeln.

Den Kernpunkt einer solchen dezentralen Aufwertung stellt die Nutzung der wertvollen Ressourcen der Alpen dar, allerdings nicht als Massenprodukte – dazu ist die Produktion in den Alpen viel zu teuer – sondern in Form hochwertiger und regionstypischer Qualitätsprodukte. Daran besteht heute bei der Bevölkerung der den Alpen benachbarten Metropolen und bei den Alpentouristen ein sehr großes Interesse, und dies ist eine kaufkräftige, relevante und sehr große Zielgruppe. Allerdings müssen die Qualitätsprodukte auf eine umwelt- und sozialverträgliche Weise produziert werden, und es müssen in den Alpenregionen Wertschöpfungsketten von der Gewinnung der Rohstoffe über die Verarbeitung bis hin zu Marketing/Vertrieb aufgebaut werden, damit der Gewinn nicht abfließt. Dazu eignen sich folgende Bereiche:

Viehwirtschaft: Beim Käse gibt es bereits gute Ansätze, Qualitätsprodukte und Spezialitäten mit Herkunftsgarantie zu erzeugen; dies sollte stark ausgeweitet werden und auch auf den Bereich des Fleisches übertragen werden.

Ackerbau: Alte Getreidesorten eignen sich sehr gut für Spezialitäten wie Bündner Gerstensuppe oder bestimmte Brotsorten.

Obst, Gemüse, Kastanien, Wein, Kräuter: Hier gibt es eine große Fülle an traditionellen Produkten, die sehr gut aufgewertet werden könnten, und viele wichtige Initiativen.

Holz: In den Alpen wächst viel mehr Holz, als geschlagen wird, und diese wertvolle Ressource könnte neu für viele Bauwerke an Stelle von Beton verwendet werden. Mit dem „Werkraum Bregenzerwald“ gibt es dabei bereits eine sehr wichtige und erfolgreiche Umsetzung.

Energienutzung: Hier gibt es viele Potenziale, deren Nutzung aber umweltverträglich geschehen muss und wo der Schwerpunkt nicht auf Großanlagen, sondern auf der Kombination unterschiedlichster kleiner regionaler Energiequellen liegen sollte.

Weiterhin muss der Tourismus so umgebaut werden, dass er die Regionalwirtschaft fördert und dass seine dezentralen Strukturen erhalten bleiben und wieder ausgeweitet werden, die Industrie darf nicht verschwinden, für regionale Qualitätsprodukte müssen Verarbeitungs-, Marketing- und Logistikstrukturen entstehen, und die Alpen müssen ein schnelles Internet erhalten, weil dies für neue, dezentrale Arbeitsplätze sehr wichtig ist. Und da dieses Wirtschaften auf den Ressourcen des Alpenraums basiert und sie auf eine umwelt- und sozialverträgliche Weise nutzt, entstehen damit neue alpenspezifische Wirtschafts- und Lebensformen und auch neue Kulturlandschaften. Diese werden zwar im Detail anders aussehen als die traditionellen, aber sie werden auf ihre Weise den Respekt vor der Natur und die Verantwortung für den Lebensraum Alpen zum Ausdruck bringen.

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225 Ein im Jahr 2012 wieder neu angelegter Weinberg im Susa-Tal (nördliche Cottische Alpen) in 800 m Höhe; im Hintergrund der Rocciamelone, 3538 m. Der Wein besitzt in den Alpen ein großes Aufwertungspotenzial, weil es hier gut 30 autochthone Rebsorten gibt, von denen aber die meisten bis heute nur lokal bekannt sind (Juni 2013).

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226 Die Ötscherregion (Türnitzer und Ybbstaler Alpen) ist die größte Alpenregion, die sich bislang allen Tendenzen sowohl der Verstädterung als auch der Entsiedlung entzogen hat und die derzeit wichtige Initiativen für eine dezentrale Aufwertung ihrer Ressourcen umsetzt. Hier der Blick vom Ötscher, 1893 m, nach Osten (Juli 2013).

Die skizzierte wirtschaftliche Aufwertung ist allerdings nur tragfähig, wenn sich die Staaten für die regionale Daseinsvorsorge in den Alpen verantwortlich fühlen: Ohne ein dezentrales Netz von Schulen, Bildungseinrichtungen, medizinischer Versorgung, Kinder- und Altenbetreuung, Verwaltung, öffentlichem Nahverkehr usw. ist ein Leben heute nicht mehr möglich. Da derzeit neoliberale Gedanken immer populärer werden, die dafür plädieren, alle Staatsausgaben aus Gründen der Kosteneffizienz auf die großen Zentren zu konzentrieren, hängt die Zukunft der Alpen auch davon ab, dass sich die Staaten weiterhin für „ihre“ Randgebiete verantwortlich fühlen und dort nicht ihre staatlichen Infrastrukturen zusammenlegen, ausdünnen oder gar ganz schließen.

Allerdings reichen die skizzierte wirtschaftliche Aufwertung und eine intakte regionale Daseinsvorsorge noch nicht aus, um den Alpen eine positive Zukunft zu ermöglichen. Die 15 Millionen Menschen, die heute in den Alpen leben, können nicht allein von der Nutzung der Alpen-Ressourcen leben, sondern sie benötigen auch die Arbeitsplätze der vielen außeralpinen Firmen, die nur auf Grund der guten Erreichbarkeit einen Standort in den Alpen gewählt haben und die viel enger mit Europa und der Welt als mit den Alpen verflochten sind.

Deshalb braucht es die Leitidee der „ausgewogenen Doppelnutzung“: Die „exogenen“ Wirtschaftskräfte (ubiquitäre Betriebe, die eng mit den Metropolen verflochten sind) dürfen die „endogenen“ Wirtschaftskräfte (Nutzung der Alpen-Ressourcen) nicht dominieren, so wie es heute der Fall ist, sondern beide Teile müssten gleichberechtigt sein, wobei im Konfliktfall die Interessen der endogenen Wirtschaft den Vorrang haben sollten. Und das Ziel müsste es sein, beide Wirtschaftsformen ein Stück weit miteinander zu vernetzen und dabei eine gemeinsame Umwelt- und Lebensraumverantwortung auszubilden.

Mit der internationalen „Alpenkonvention“, die dem Schutz und der nachhaltigen Entwicklung der Alpen verpflichtet ist, besteht bereits die geeignete politische Struktur, um diese Leitidee für die Zukunft der Alpen umzusetzen. Mit der Alpenkonvention treten die Alpen zum erstenmal in der Geschichte einheitlich in Europa auf, so dass einzelne Alpenregionen nicht mehr wie früher gegeneinander ausgespielt werden können, um europäische Interessen an den Alpen (Transitverkehr, Wassernutzung) durchzusetzen.

Auf dem Höhepunkt der Modernisierung der Alpen, um das Jahr 1980 herum, sah es so aus, als würden in kurzer Zeit alle dezentralen Wirtschaftsaktivitäten endgültig aus den Alpen verschwinden. Dies passierte jedoch nicht – stattdessen entstanden immer mehr neue Initiativen zur dezentralen Aufwertung alpiner Ressourcen. Diese sind heute ziemlich zahlreich geworden und stellen einen großen Reichtum dar, aber sie stehen meist isoliert nebeneinander. Deshalb besteht die zentrale Aufgabe darin, diese Initiativen zuerst miteinander zu vernetzen und dann deutlich auszuweiten.

Dies wären wichtige Schritte, damit die Alpen auch in Zukunft ein dezentraler Wirtschafts- und Lebensraum sein können, dessen kleinräumige und vielfältige Kulturlandschaften den Respekt vor der Natur und eine starke kulturelle Identität zum Ausdruck bringen.

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227 Die zukünftigen Kulturlandschaften der Alpen können nicht so aussehen wie die traditionellen, weil sie anders genutzt werden; aber sie werden auf ihre Weise den Respekt vor der Natur und die Verantwortung für den eigenen Lebensraum zum Ausdruck bringen. Im Bild landwirtschaftliche Neubauten des Architekten Gion Caminada in der Gemeinde Vrin (Graubünden). Dieser Architekt verwendet regionale Baumaterialien, er konzipiert die Gebäude so, dass zum Bau keine städtischen Spezialisten erforderlich ist, und er orientiert sich an der lokalen Tradition und an der Landschaft der Umgebung, aber er entwirft für neue Anforderungen neue Gebäude: So kann eine lebendige Tradition aussehen, die in der Lage ist, den Herausforderungen der Zukunft gerecht zu werden.