Kapitel 3
»Das ist ja wunderbar gelaufen, Grace. Ganz und gar wunderbar!«
Wütend über sich selber, riss Special Agent Grace Lewis die Fahndungsbilder eines Verdächtigen vom Whiteboard und warf sie achtlos in einen Karton. Der Fall war eigentlich klar gewesen, keine große Sache. Seit Wochen war das FBI einem Mädchenhändlerring auf der Spur und hatten es endlich geschafft, jemanden festzusetzen, der als Kronzeuge aussagen wollte. Sie hatte Eric Mayer heute nach Houston bringen sollen, doch der Mistkerl hatte es vorgezogen, sich umzubringen. Jedenfalls sah er derzeit so aus, als hätte er Selbstmord begangen. Jetzt stand sie wieder am Anfang und sie hätte sich ohrfeigen können. Es war der erste große Fall, den man ihr anvertraut hatte und den sie leiten sollte. Grace fühlte sich auf ganzer Linie als Versagerin. Doch woher sollte sie ahnen, dass Eric den Schwanz einzog und er, trotz eines Deals, der ihm mehr als gelegen hätte kommen müssen, den Weg in den Freitod wählte? Das passte so gar nicht in sein Profil. Vielleicht hatte Letztenendes die Scham über sein Wirken gesiegt und er hatte sein Gewissen wiedergefunden. Sie würde es nicht mehr erfahren.
Grace war seit zwei Jahren beim FBI. Diese Laufbahn hatte sie nach ihrer Zeit bei der Army eingeschlagen, obwohl ihr eine glänzende, militärische Zukunft in Aussicht gestanden hatte. Aber nachdem sie fast drei Jahre im Irak stationiert gewesen und die Hälfte ihrer Truppe bei einem Bombenanschlag ums Leben gekommen war, verließ sie die Army und ging nach Quantico. Grace galt als zielstrebig, ehrgeizig und unnahbar. In ihrem Job kam ihr das zwar zugute, in ihrem Privatleben allerdings weniger. Privatleben! Eigentlich gab es diesen Begriff in ihrem Wortschatz gar nicht. Sie war mit ihrem Beruf verheiratet und das machte ihr nichts aus.
Gerade hatte sie den Karton verschlossen, als Hank Ribera, ihr Vorgesetzter, den Kopf zur Türe hineinsteckte.
»Na, kommst du klar?«
»Da gibt es nicht viel klarzukommen. Wir werden ganz von vorne beginnen müssen«, gab Grace zurück und strich sich durch das kurze, seidigglänzende schwarze Haar. Die Dreiunddreißigjährige hasste sich für ihren Fehler.
»Hör zu, du bist nicht die Erste, der so etwas passiert und du wirst auch nicht die Letzte sein. Mach dich deswegen nicht fertig.«
Hanks Aufmunterungsversuche, so gut sie gemeint waren, scheiterten kläglich. Grace war es nicht gewöhnt, zu verlieren. Ehrgeiz, Vorankommen und Präzision waren ihre ständigen Begleiter. Klare Strukturen und Disziplin bestimmten ihren Alltag und alles, was schief ging, nahm sie verdammt persönlich.
»Hey Leute, wir haben etwas Neues.« Agent Tracy Middleton stürmte in Graces Büro und wedelte mit einem Fax herum. »Aus Oklahoma City.«
»Was haben wir mit Oklahoma zu schaffen?« Grace ließ sich auf ihren Drehstuhl fallen.
»Irgendwo in der Pampa ist ein Mädchen verschwunden. Warte ...« Tracy fuhr mit dem Finger über das Papier. »Ah, hier. Bei Owasso gibt es eine Ranch, die ein resozialisierendes Projekt für Jugendliche leitet und dort ist vor etwa vierzehn Tagen eines der Mädchen verschwunden. Es ist wohl nicht das erste Mal, dass das passiert ist und unsere Kollegen dort bitten uns um Mithilfe, da sie denken, die Fälle könnten zusammenhängen.«
»Du meinst, »unsere« Täter sind nach Oklahoma übergesiedelt?« Grace rieb sich die Nase. »Das heißt also, es wird ein Fall, der sich auf mehrere Bundesstaaten ausweitet. Na super.« Sie betrachtete den Karton, in dem sich ihre Notizen zu dem Fall befanden. »Davon hat Meyer nie etwas erwähnt. Entweder wusste er es nicht oder genau das war der Grund, warum er sich umgebracht hat. Sofern es überhaupt Selbstmord war.«
»Er war in Einzelhaft, Gracie«, warf Ribera ein. Nur er durfte Grace bei ihrem Kosenamen nennen, denn er kannte sie bereits als kleines Mädchen.
Graces Vater war ebenfalls beim FBI und Hanks Partner gewesen, bis er im Alter von nur vierzig Jahren an Bauchspeicheldrüsenkrebs starb. Danach hatte Hank irgendwie die Vaterrolle für Grace übernommen und sie gefördert, als sie sich entschied, von der Army zum FBI zu wechseln.
Grace schaute zu ihm auf. Irgendwas gefiel ihr an der ganzen Sache nicht. Eigentlich verließ sie sich auf ihre Menschenkenntnis und sie hatte Eric Meyer nicht so eingeschätzt, als wäre er suizidgefährdet gewesen. Ja, er war in Einzelhaft und hatte nur Hofgang, wenn die anderen Insassen in ihren Zellen saßen, aber irgendwie wurde sie das Gefühl nicht los, dass mehr dahintersteckte.
»Tja, dann sollte sich wohl mal jemand mit Oklahoma unterhalten und hören, was sie zu berichten haben«, sagte sie jetzt.
Tracy und Hank wechselten einen Blick.
»Es ist dein Fall, Gracie, also mach dich auf die Socken.«
»Was?« Grace machte große Augen. »Nein, Hank, ich fahre mit Sicherheit nicht, mein Schreibtisch ist voll, ich habe ...«
»Gar nichts«, beendete Hank ihren Satz. »Du hast zu viel Zeit in den Fall investiert, als dass du jetzt jemanden anderen daran lässt.«
Grace seufzte und presste die Lippen aufeinander.
»Ist das ein Befehl, Agent Ribera?«
»Worauf du deinen süßen Hintern verwetten kannst.« Hank grinste. »Na komm, Kleines.« Bei der Anrede kicherte Tracy, was Graces Blick nur noch finsterer werden ließ. »Du kannst das Nützliche mit dem Vergnüglichen verbinden.«
»Vergnüglich?« Grace grinste schief. »Wir reden über Oklahoma, Hank. Ich kann mir weitaus Vergnüglicheres vorstellen, als ein paar Hinterwäldlern beim Kuhtreiben zuzusehen. Ich werde mich erst einmal ans Telefon hängen, vielleicht bekomme ich so die Infos, die ich brauche. Wenn ihr mich dann bitte entschuldigt.« Sie bedeutete Tracy herrisch mit der Hand, ihr die Unterlagen auszuhändigen.
Als ihr Vorgesetzter und die Kollegin den Raum verlassen hatten, sah sie die Dokumente durch und wählte die Nummer des Büros in Oklahoma City.
»Also, was hast du?«
Grace hatte sich Hank gegenüber in dessen Büro gesetzt, um ihm von dem Telefonat zu berichten.
»Wie Tracy schon sagte, gibt es irgendwo in Hinterland von Owasso eine Ranch ... warte.« Sie blickte auf ihre Notizen. »Bird Creek. Eine Rinderfarm, was auch sonst. Na ja, jedenfalls hat eine Doktor Eve Dearing dort vor Jahren ein Projekt ins Leben gerufen, um Jugendlichen mit straffälliger Vergangenheit oder auch »schwer Erziehbaren« eine zweite Chance zu geben. Alternativ zum Jugendknast sozusagen.«
»Wie nobel«, spottete Hank. »Eine Art Bootcamp?«
»Wohl eher nicht. Scheinbar ist der Dame langweilig oder sie haben mit ihren Kühen dort noch nicht genug zu tun. Jedenfalls hat Doktor Dearing ausgesagt, dass eins der Mädchen, Melanie Garcia, am Abend des sechzehnten Juni verschwand und seitdem nicht mehr aufgetaucht ist. Ihre Eltern haben natürlich Strafanzeige gestellt und seither ist das Projekt unter ständiger Beobachtung der Behörden. Die Polizei ist bisher keinen Schritt weitergekommen, daher haben unsere Kollegen den Fall übernommen, weil es drei Monate zuvor einen ähnlichen Fall gab. Da verschwand eine Vierzehnjährige auf dem Schulweg.«
»Und wer sagt, dass die beiden Fälle im Zusammenhang stehen? Vielleicht sind es Ausreißerinnen oder es ist Zufall, dass zwei Entführungen stattfanden. Der Zeitraum zwischen dem Verschwinden der Mädchen ist schon ziemlich groß«, gab Hank zu bedenken.
»Absolut, das war auch mein Einwand.« Grace schlug die schlanken Beine, die in einer dunkelblauen Hose steckten, übereinander. »Aber seit dem Verschwinden von Melanie sind zwei weitere Mädchen in ungefähr demselben Alter spurlos verschwunden. Eins davon war eine Klassenkameradin des ersten Opfers, die damals aussagte, gesehen haben zu wollen, wie man ... verdammt, wie hieß sie noch mal?« Graces Namensgedächtnis hatte schon immer zu wünschen übrig gelassen. Hektisch durchforstete sie wieder ihre Notizen. »Ach ja, das erste Opfer hieß Kathy. Kathy Weinman. Also, die Klassenkameradin hatte gesehen, wie Kathy von einem Mann in dunkler Kleidung angesprochen wurde und zu ihm in den Wagen stieg.«
»Aha«, machte Hank. »Haben wir das Fabrikat des Fahrzeuges? Eine Personenbeschreibung? Etwas mehr als die Aussage eines überspannten Teenies?«
»Laut Aussage war es ein großer Mann in dunkler Kleidung, der in einem großen ebenso dunklen Auto fuhr.«
»Oh, na ja, das ist doch schon mal was«, sagte Hank sarkastisch und fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht. »Also haben wir gar nichts? Groß und dunkel!« Er lachte auf.
»Es ist dennoch verwunderlich, dass genau diese Zeugin auch verschwindet, oder nicht? Und das zum fast selben Zeitpunkt, als Eric Meyer sich das Leben nimmt. Wobei ich ja immer noch glaube, dass ...«
»Komm mir jetzt nicht schon wieder mit deiner Theorie, Eric habe sich nicht umgebracht, sondern wurde ermordet.« Hank beugte sich vor und verengte die Augen. »Grace, ich brauche ein bisschen mehr, als verschwundene Teeanger, die nichts gemeinsam haben, außer ihres Alters.«
»Um ehrlich zu sein, haben sie Gemeinsamkeiten«, gab Grace zurück. »Ihr Aussehen. Alle Mädchen waren, etwa dreizehn bis fünfzehn Jahre alt und alle, auch die Mädchen, die hier verschwanden, kamen aus mehr oder weniger desolaten familiären Verhältnissen oder waren dafür bekannt, recht frühreif zu sein.«
»Frühreife Teenager? Na, das ist mal was Neues.« Ribera lachte, doch Grace konnte daran so gar nichts Witziges finden.
»Ich nehme die Hinweise sehr ernst, Hank. Ich weiß, dass die Fälle zusammenhängen.«
»Gracie, mir ist bewusst, dass du dich schlecht fühlst, den einzigen Zeugen verloren zu haben, aber denkst du nicht, du steigerst dich in etwas rein? Schick deine Unterlagen nach Oklahoma und lass die den Fall lösen.«
»Nein, Hank!«, antwortete Grace mit fester Stimme. »Ich werde das selbst in die Hand nehmen. Ruf in Oklahoma an und sag denen, ich komme zur Unterstützung.«
»Das werde ich nicht tun. Wieso bist du plötzlich so scharf darauf, in die Pampa zu gehen? Vor zwei Stunden klang das noch ganz anders.«
»Da hatte ich ja auch noch nicht alle Informationen. Ich werde gehen, mit oder ohne deine Zustimmung. Ich habe noch Urlaub und wenn es sein muss, verbringe ich den in Oklahoma.« Sie reckte das Kinn in die Höhe und starrte ihrem Vorgesetzten fest in die Augen, bis dieser seufzend den Kopf schüttelte, zum Telefon griff und eine Nummer wählte.
»Ich werde sie schnappen, Hank«, versprach sie breit grinsend und verließ das Büro.
Nach Feierabend fuhr Grace bei ihrer Mutter vorbei, ehe sie sich auf den Heimweg machte. Kaum zu Hause angekommen, streifte sie sich die schwarzen Pumps von den Füßen, zog das blaue Jackett aus und lief in die Küche, wo sie einen Blick in den Kühlschrank warf. Ein halber Salat, der schon welkte, die Hälfte einer Pizza und ein Sixpack Bier - mehr war nicht zu finden. Grace durchforstete die Küchenschränke nach etwas Essbarem und fand ein Mikrowellengericht. Seufzend entfernte sie die Verpackung und ärgerte sich, nicht bei ihrer Mutter gegessen zu haben. Doch dort hielt sie es nie lange aus, denn ihre Mutter neigte dazu, sie ständig verkuppeln zu wollen und sich darüber zu beschweren, dass aus ihrem kleinen, süßen Mädchen eine kühle und distanzierte Frau geworden war. Sie hatte es nie gutgeheißen, dass Grace zur Army gegangen und danach in die Fußstapfen ihres Vaters getreten war. Viel lieber hätte sie gehabt, wenn Grace endlich heiraten und ihr eine Schar Enkelkinder schenken würde. Doch da gab es zwei Probleme. Zum einen waren Kinder so ziemlich das Letzte, was Grace leiden konnte und zum anderen hatte sie kein Interesse an Männern. Nur wusste das ihre Mutter nicht und Grace hatte nicht vor, sich dahingehend zu outen, denn eine feste Beziehung kam für sie sowieso nicht infrage. Ihre Mutter und auch sonst niemand musste wissen, dass sie hin und wieder kurze Affären mit Frauen hatte, die aber nur dazu dienten, ihre sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen. An einer Beziehung hatte sie kein Interesse. Sie war mit ihrer Arbeit verheiratet und mochte ihr Singledasein. Außer vielleicht die leere Küche. Aber Essen wurde überbewertet. Es diente als Nahrungsquelle und sollte satt machen, alles andere war Grace egal. Sie dachte nicht darüber nach, dass ihr Leben eigentlich ziemlich trostlos war und sie sich keinerlei Vergnügen gönnte. Weder beim Essen, noch anderweitig.
Selbst während sie lustlos das fade Mikrowellengericht aß, ging sie ihre Notizen durch und überlegte, was sie am besten unternahm, diesen Mädchenhändlern das Handwerk zu legen.
Eric Meyer hatte ihr erzählt, dass er für ein viel größeres Syndikat arbeitete. Neben ihm gab es noch drei weitere Männer verschiedenen Alters, die er persönlich gekannt hatte und zwei, die sich nicht zu erkennen gegeben hatten und mit denen sie nur telefonischen Kontakt hatten. Einer von diesen anonymen Männern hatte sie mit Insiderinfos versorgt, sodass Grace davon ausging, derjenige stammte aus den Reihen des FBI oder der Polizei. Sie hatten also einen Maulwurf, doch bisher hatte sie nicht den blassesten Schimmer, wer es sein könnte.
Der andere war anscheinend der Auftraggeber. Derjenige, der sozusagen die Bestellungen aufgab. Je nach Kundenkreis wurden Mädchen ausgesucht, deren Profil auf das Gewünschte passte. In Grace kochte wieder die Wut hoch, als sie Erics Aussage las. Wie auf einem Fleischmarkt, genauso hatte Eric es beschrieben. Er hatte es irgendwann nicht mehr ausgehalten, als die Mädchen immer jünger wurden. Der Mann hatte Gewissen gezeigt und sich gestellt. Das, was er zu berichten hatte, galt allerdings nur für Texas, von Entführungen in anderen Bundesstaaten hatte er, laut eigener Aussage, nichts gewusst. Zweimal war es dem FBI gelungen, die sogenannten Sammelstellen zu stürmen und Mädchen verschiedenen Alters zu befreien, aber von den Tätern fehlte jede Spur. Was wohl auf den Maulwurf zurückzuführen war, der sie vorher gewarnt hatte. Es war zum Verzweifeln. Deswegen war es Grace so wichtig, dem Fall in Oklahoma nachzugehen. Vielleicht bekam sie dort die Chance, mehr über die ganze Sache herauszufinden.
Ihr Handy schellte. Ein einfacher Klingelton, nichts Außergewöhnliches. Grace schob ihren Teller beiseite und nahm das Gespräch an. »Gracie, ich bin´s«, meldete sich Ribera. »Ich habe das mit Oklahoma geklärt und sie freuen sich auf deine Unterstützung. Du wirst verdeckt ermitteln.«
»Bitte was?« Grace trank einen Schluck Bier, um den schalen Geschmack des Essens loszuwerden.
»Nenn es Zufall oder Schicksal, ganz egal, aber auf dieser Ranch wird eine Lehrkraft gesucht. Wir schleusen dich ein, dann bist du vor Ort und kannst dich umhören. Die Kollegen sind der Überzeugung, dass es jemanden auf dieser Ranch gibt, der da mit drinhängt.«
»Moment mal, Hank. Ich soll was? Ich bin keine Scheißlehrerin. Was soll ich den Kids denn beibringen?«
»Hattest du auf dem College nicht amerikanische Geschichte als Hauptfach?« »Ja.«
»Gut, dann bist du Lehrerin für Geschichte und Sport.«
»Hank, das ist die saublödeste Idee, die du jemals hattest.«
»Willst du weiterhin an diesem Fall arbeiten?«
»Natürlich!« »Dann bist du Lehrerin. Entweder das oder ich ziehe dich von dem Fall ab.« Hank beendete das Gespräch und Grace starrte wie vor den Kopf geschlagen auf das Handy.