Kapitel 8
»Kann mir jemand sagen, wie lange die amerikanische Revolution dauerte?« Grace saß mit überschlagenen Beinen auf einem Tisch vor den Jugendlichen und schaute in deren gelangweilte Gesichter.
»Kommt schon, Leute. Das war eines der wichtigsten Ereignisse in unserem Land.«
»1763?«, piepste Ashley.
»Ist das eine Frage oder eine Antwort?«
»Eine Antwort.« Ashley zog eingeschüchtert den Kopf ein.
»Richtig, zu diesem Zeitpunkt hat sie begonnen. Aber wann und mit welchem Ereignis endete sie?«
Die Schüler tauschten ratlose Blicke aus.
»Das ist doch nicht euer Ernst, oder?« Grace schlug ungehalten mit der Hand auf den Tisch, auf dem sie saß. »Wenn ich euch jetzt frage, wie unser erster Präsident hieß, glotzt ihr dann auch wie ein paar dumme Rinder aus der Wäsche?«
»Wash ... Washington?« Ashleys Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. »Oh, da hat schon mal jemand was von Washington gehört. Bravo, Ashley.« Grace seufzte. »Am besten schlagt ihr eure Bücher auf und lest euch die Geschichte der Revolution durch. Wisst ihr Leute, der 4. Juli ist mehr als ein nettes Feuerwerk und eine Parade. Also los, ran an die Bücher.«
Wieder einmal schwor sie Hank Rache, dass er sie in so eine Lage gebracht hatte. Während die Kids lasen, tippte Grace die neusten Infos in ihr Handy. Viel war es nicht, was sie Ribera mitteilen konnte. Um genau zu sein: Sie hatte gar nichts! Während sie die SMS verfasste, schweiften ihre Gedanken zu Jenny ab. Da war etwas an ihr, was Grace zutiefst berührte, auch wenn sie sich dafür am liebsten selbst gegeißelt hätte. Ihrer Meinung nach wurde Jennys Talent und ihr Arbeitseinsatz nicht ausreichend gewürdigt.
Sie wusste selbst nicht, was sie am Morgen dazu bewogen hatte, eine Massage anzubieten. Es war ganz spontan über sie gekommen, obwohl Grace so etwas noch nie im Leben getan hatte. Aber Jennys Nähe löste etwas in ihr aus, sie konnte es nur noch nicht benennen. Doch nicht nur das. Die kleine Edwina ... Grace gab es nicht gerne zu, doch sie fing an, das vorwitzige Mädchen ins Herz zu schließen. Dieser Ort ... die Menschen hier, machten etwas mit ihr. Sie gingen ihr ans Herz, eine Tatsache, mit der Grace nicht umgehen konnte.
Sie selbst war nicht so aufgewachsen. Ihr Vater, ein angesehener FBI Agent, war nicht unbedingt in seiner Rolle als Vater aufgegangen. Er war stets distanziert zu ihr gewesen, liebte seine Arbeit mehr als seine Familie und dennoch war er zeitlebens ihr Vorbild. Wenn sie heute darüber nachdachte, musste sie sich eingestehen, dass sie genauso geworden war wie er. Selbst ihre Mutter war kein Teil ihrer Gefühlswelt. Sie war kein Mensch, den Grace in ihre Geheimnisse einweihte, den sie an ihrem Leben teilhaben ließ. Auch Freundschaften konnte Grace nicht verzeichnen. Gut, Hank war ihr Freund, aber auch er wusste nur ein Bruchteil von ihr. Im Grunde war sie völlig alleine.
»Mach dir keinen Stress, Gracie«, sagte Hank, als sie nach dem Unterricht telefonierten. »Du bist erst zwei Tage dort, du wirst schon noch was finden.«
»Ich hoffe.« Sie seufzte. »Ich fühle mich, als wäre ich bei der Brady-Family gefangen.«
»Du weißt doch: Hinter jeder leuchtenden und noch so schönen Fassade verbergen sich oft die schlimmsten Geheimnisse. Such weiter, Gracie. Irgendwer muss da mit drinstecken!«
Sie drückte das Gespräch weg und ließ das Handy auf ihr Bett fallen. Es war verdammt schwer, die Tarnung aufrechtzuerhalten und gleichzeitig Befragungen durchzuführen. Grace nahm ihr Notizbuch zur Hand und kritzelte etwas hinein.
Doktor Eve Dearing - ausgeschlossen!
Bobby Hale - ausgeschlossen!
Jenny Porter - ausgeschlossen!
Jack Brown - weiß mehr, als er sagt. Eventuell sexuelle Beziehung zum Opfer?
Arnold »Dix« Dickson - gibt an, am Tatabend nicht anwesend gewesen zu sein.
Joshua Carter - Lehrer, Befragung folgt.
Grace klickte die Miene des Kugelschreibers ein paar Mal rein und raus. Sie musste die anderen Hütten durchsuchen. Sie brauchte endlich Informationen!
Die Arbeiter waren noch beschäftigt, es war also die Gelegenheit, es jetzt zu versuchen. Grace steckte ihr Handy in die Hosentasche und trat ins Freie. Weit und breit war niemand zu sehen, also huschte sie in die nächstgelegene offene Hütte und sah sich um. Leider gab es keinen Hinweis darauf, wer hier wohnte, doch etwas Verdächtiges fand sie nicht. Dasselbe in der nächsten Hütte und in der übernächsten. Blieben nur noch die von Jenny, Archie und Beth und Joshua Carter. Erstere schloss sie aus, aber Carters Habseligkeiten interessierten sie. Verblüfft musste Grace jedoch feststellen, dass seine Hütte als Einzige verschlossen war.
Graces Spürsinn war geweckt. Natürlich hatte jeder das Recht auf Privatsphäre, aber war es nicht seltsam, dass ausgerechnet die Türe des, ach so locker erscheinenden Lehrers abgeschlossen war? Hatte er etwas zu verbergen? Gut, auch sie hatte abgeschlossen, aber sie hatte ja auch definitiv etwas zu verbergen. Ihre Waffe zum Beispiel und die Dienstmarke. Und just in dem Moment, als Grace auf ihre Hütte zulief, war sie froh, dass die Türe verschlossen war.
»Kann ich Ihnen helfen?«, sprach sie Jenny laut an, die durch ein Fenster ins Innere spähte.
»Die Massage«, gab Jenny zurück. »Sie hatten mir eine Massage versprochen.«
»Richtig.« Grace lächelte hölzern. »Lassen Sie uns in Ihre Hütte gehen.«
»Und jetzt?«, wollte Jenny wissen, als sie in ihrer bescheidenen Behausung standen. Sie nahm ihren Hut vom Kopf und warf ihn achtlos auf den Tisch. Fast gleichzeitig fischte sie nach ihrer Nachtbekleidung, die zusammengeknüllt auf dem Bett lag, und stopfte sie in den Schrank. »Es ist morgens immer viel zu wenig Zeit.« Jenny grinste entschuldigend.
Grace sah sich beiläufig um. Jenny lebte schon jahrelang hier, doch wirklich persönlich wirkte der Raum nicht. Es war doch ihr Zuhause.
»Ziehen Sie das Oberteil aus und legen sich hin«, wies sie die Jüngere an, woraufhin Jenny rot wurde.
»Ich hätte vorher vielleicht besser duschen sollen.« Sie war verlegen.
»Alles gut. Das können Sie danach machen, wenn die Muskeln schön locker sind.«
Zögerlich schlüpfte Jenny aus ihren Stiefeln, zog sich das T-Shirt aus und legte sich aufs Bett. Grace spürte, wie unangenehm ihr das war, dabei hätte sie Jenny nicht für unbedingt prüde gehalten.
»Entspannen Sie sich.« Sie beugte sich hinunter und begann, die Schultern zu massieren. Dabei erhöhte sie nach und nach den Druck. Jenny verkrampfte. »Es wird gleich besser«, versprach sie. »Bleiben Sie locker.«
Jennys Haut war weich, warm und strömte einen angenehm würzigen Duft aus. Eine Mischung aus Arbeit, Pferd und Natur. Ein leichter Schweißfilm überzog den gebräunten Rücken und bei jeder Berührung, stellten sich die feinen Härchen an ihren Armen auf. Es fühlte sich gut an, wie ihre Hände jeden Zentimeter ertasteten.
»Wie lange ist Joshua Carter hier schon beschäftigt?«, fragte Grace beiläufig.
»Hm, noch nicht so lange. Ein Jahr vielleicht.«
»Was wissen Sie über ihn?«
»Nicht viel, eigentlich kenn ich ihn kaum. Wieso?« Jenny warf ihr über die Schulter ein Grinsen zu. »Sind Sie an ihm interessiert?«
»Was? Um Himmels willen, nein! Reine Neugierde. Ich möchte einfach nur die Menschen hier besser kennenlernen.«
»Schon klar.«
Grace konnte Jennys Schmunzeln förmlich hören. Sie verstärkte den Druck, bis Jenny vor Schmerz quietschte.
»Entschuldigung.« Jetzt grinste sie. »Erzählen Sie etwas von sich.«
»Das habe ich bereits.« Jenny entspannte sich wieder. »Sie sind an der Reihe, Miss Lewis. Wie kann ich mir Ihr Leben in Houston vorstellen? Leben Ihre Eltern noch? Haben Sie Geschwister? Hund, Katze, Maus, Mann?«
Grace verstärkte wieder den Druck, diesmal aber eher ungewollt. Sie merkte es erst, als Jennys scharf die Luft einsog. Wie aus Reflex strich sie über die schmerzende Stelle. Es fühlte sich gut an! Richtig gut sogar. »Mein Leben ist nicht mehr in Houston«, antwortete sie reserviert und massierte mechanisch weiter. »Mein Vater starb vor einigen Jahren, ich bin ein Einzelkind und habe weder Haustiere noch menschlichen Anhang.«
»Menschlichen Anhang?« Jenny kicherte. »Sie sind wirklich besonders, Miss Lewis, wissen Sie das?«
»Was meinen Sie mit besonders?«
»Na ja ... ohne Ihnen nahe treten zu wollen ... ich werde aus Ihnen einfach nicht schlau.«Jenny setzte sich auf. Grace zwinkerte ein paar Mal unmerklich und versuchte, sich auf Jennys Gesicht zu konzentrieren und nicht auf ihren halbnackten Körper. Verdammt!
»Sie machen den Eindruck, als wäre Ihnen hier alles scheißegal. Wissen Sie, dass Ashley heute nach dem Unterricht geweint hat? Seien Sie nicht so streng mit ihnen, Miss Lewis. Diese Kids haben zum Teil Schlimmes erlebt, sie brauchen eine Vertrauensperson, keinen Ausbilder von der Army. «
»Bitte?« Grace schluckte. Wusste Jenny etwa, dass sie bei der Army gewesen war?
»Na ja, Sie wissen schon. So einen Drillsergeant oder wie man das nennt.«
Graces Mundwinkel zuckten amüsiert. Jenny hatte eine kindliche Naivität an sich und war sich dessen wahrscheinlich nicht mal bewusst. Doch sie war kein Kind mehr. Ganz und gar nicht. Bevor Grace antwortete, ließ sie einen schnellen Blick über Jennys dürftig bekleideten Oberkörper schweifen.
Das hervorstehende Schlüsselbein, die gebräunte Haut. Die kleinen Brüste, die ganz ihrem Alter entsprechend, knackig und rund in einen schwarzen Bustier eingepackt waren. Der extrem flache Bauch, der sich hob und senkte ... Als Grace wieder aufsah, trafen sich ihre Blicke. Sie hatte es gemerkt! Natürlich hat sie das, du Hohlkopf, schalt Grace sich.
»Ich werde nicht mehr ganz so hart mit den Kids umgehen«, versprach Grace leise und erhob sich.
»Haben Sie Lust, später etwas mit mir zu trinken?«, fragte Jenny unvermittelt, bevor Grace das Weite suchen konnte. »Ich muss nur duschen und dann können wir uns vielleicht auf die Veranda setzen und zusammen essen.«
Graces Gehirn arbeitete fieberhaft. Es konnte nicht schaden, noch etwas mehr über die Bewohner von Bird Creek in Erfahrung zu bringen. Andrerseits ließ Jenny sie nicht kalt und dieser peinliche Vorfall von eben sollte sich unter keinen Umständen wiederholen.
»Okay«, hörte sie sich sagen, noch bevor sie den Gedanken zu Ende gedacht hatte. »Genießen Sie die heiße Dusche.«
Und während sie die Türe hinter sich schloss, stellte sie sich eine nackte Jenny dabei vor, wie sie ihren schlanken Körper einseifte.
In ihrer Hütte ließ sich Grace quer aufs Bett fallen und schloss einen Moment die Augen. Hatte sie gleich ein Date mit Jenny? Nein! Kein Date! Sie brauchte Verbündete, jemanden, der sich hier auskannte, der ihr Geheimnisse verriet. Hank hatte recht: Jeder hatte irgendein Geheimnis und Grace brannte darauf zu erfahren, welche sich auf dieser Ranch versteckten. Fand sie Jenny attraktiv? Natürlich! Sie war schließlich nicht mit Blindheit geschlagen. Außerdem war es verdammt lange her, dass ...
»Du spinnst doch«, murmelte sie. »Sie ist viel zu jung und du einfach nur notgeil! Und Selbstgespräche machen die Sache auch nicht besser!« Grace rappelte sich auf, suchte frische Sachen aus dem Schrank und ging ebenfalls duschen. Seit sie hier war, hatte sie ständig das Gefühl, sie würde stinken. Mit den ganzen Gerüchen, die eine Rinderranch so mit sich brachte, konnte sie sich einfach nicht anfreunden.