Kapitel 14
Das Holster war bereits geöffnet, die Hand lag an der Glock, als sich Grace langsam dem Haus näherte. Sie war auf alles vorbereitet, schon deshalb, weil die Umgebung und Jacks Elternhaus alles andere als einladend wirkten. Sie registrierte die drei Schrottautos, die vor der Garage standen. Ebenso die ausgetretenen Stufen, die zur Veranda führten und die eingerissenen Fliegengitter vor den Fenstern. Die Mülltonne quoll über, daneben lag ein ansehnlicher Berg leerer Wodka- und Whiskeyflaschen. Billigster Fusel, wie sie feststellte. Rund ums Haus waren Beete, in denen jedoch außer jeder Menge Unkraut nichts wuchs. Das Haus selber wirkte marode und heruntergekommen. Als sich Grace auf die Türe zubewegte, hörte sie aus dem Inneren Stimmen, die wohl von einem Fernseher stammten. Sie klopfte und wiederholte den Vorgang energischer, als sich nichts rührte. Nach einigen Sekunden vernahm sie schlurfende Schritte und es wurde geöffnet.
»Ja?«
Ein ungepflegter Kerl, Mitte vierzig, mit ungewaschenen Haaren, einem fleckigen Unterhemd und einem roten, aufgedunsenem Gesicht, stand ihr gegenüber. Seine Finger waren gelb von Nikotin und seine Augen wirkten wie die eines alten, gebrochenen Mannes.
»Mister Brown?«
Der Mann nickte.
»Agent Grace Lewis, FBI.« Weiter kam Grace nicht.
Der eben noch krank wirkende Mister Brown entwickelte urplötzlich Superkräfte. Er stieß Grace zur Seite, preschte an ihr vorbei und sprintete Richtung Garage.
»Was zum ...!« Grace zog ihre Waffe und folgte Superman.
»Stehenbleiben!«, brüllte sie.
Mister Browns Kräfte schienen nur von kurzer Dauer. Noch ehe er die Straße erreichte, stolperte er, fing sich wieder, doch sein Tempo hatte sich verlangsamt, sodass Grace ihn mühelos einholte und überwältigte. Sie steckte die Waffe zurück ins Holster, während sie ihn mit einem Knie zu Boden drückte. Sein Atem rasselte.
»Was wollen Sie?«, stieß er zwischen zwei Hustenanfällen hervor.
»Bis eben nur reden. Aber ihr Wettlauf deutet daraufhin, dass Sie ein Problem mit der Justiz haben.« Grace half ihm auf die Beine, behielt einen seiner Arme aber fest im Griff. »Vorwärts.« Sie stieß Mister Brown in die Richtung des Mietwagens.
»Ich habe überhaupt keine Probleme«, japste er. »Das war bloß ein Reflex. Sagen Sie doch endlich, was Sie wollen.«
»Ihren Sohn!« Am Auto angekommen, warf Grace Jenny den Schlüssel für die Handschellen durch das geöffnete Fenster zu. »Mach dich los, ich brauche die Dinger für Mister Brown.«
»Zum dritten Mal, Agent, ich weiß nichts von irgendwelchem Geld und schon gar nichts über eine Entführung.« Mit zittrigen Finger hielt Mister Brown eine selbstgedrehte Zigarette, von der er immer wieder einen tiefen Zug nahm. »Der Junge hat mit Sicherheit Dreck am Stecken, aber so was ...? Nein. So abgewichst ist nicht mal der.«
»Und dennoch lag das hier ...« Grace knallte ihm das Geldbündel vor die Nase, » ... in seinem Zimmer. Wo ist er, Mister Brown?« Er wusste etwas, da war Grace sich sicher.
»Ich weiß es nicht! Seit seine Mutter tot ist, macht der Bengel, was er will.«
Grace schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Sie saßen im Haus der Browns an einem schmuddeligen Küchentisch. Grace schüttelte sich innerlich und sehnte sich nach einer Flasche Desinfektionsmittel.
»Zum Teufel noch mal, denken Sie, Sie können Ihren Sohn schützen?« Sie war aufgebracht, doch plötzlich spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter.
»Mister Brown«, sagte Jenny, die die ganze Zeit etwas abseits gestanden und das Gespräch verfolgt hatte, »Jack wird nichts geschehen, aber Sie machen es nur noch schlimmer, wenn Sie uns nicht sagen, wo er ist. Denken Sie doch an die Mädchen. Das sind noch Kinder. Wenn Jack nichts damit zu tun hat, gut. Ich persönlich kann es mir auch nicht vorstellen. Aber wenn doch, dann sollten wir darüber schnellstmöglich Kenntnis haben, um die Mädchen zu retten. Sie sind doch selbst Vater. Geben Sie uns irgendwas, nur einen kleinen Hinweis, wo er sich aufhalten könnte.«
Bewundernd sah Grace zu Jenny hoch. Sie besaß diese Art, mit Menschen zu reden, sodass die ihr ihre dunkelsten Geheimnisse anvertrauten. Das hatte bei ihr selbst auch funktioniert, denn Grace ging normalerweise sparsam mit Informationen aus ihrem Privatleben um. Sie wären ein gutes Team. Guter Bulle, böser Bulle. Sie wandte sich Mister Brown zu, als der sich endlich entschieden hatte, zu reden.
»Sie waren immer gut zu Jack, Jenny, das hat er immer gesagt.« Er drehte sich eine neue Zigarette. »Er ... Wir sind dankbar, dass er diese Chance bekommen hat, anstatt in den Knast zu gehen, aber ... Na ja, Sie sehen ja selbst, wie es hier aussieht. Ich habe mein
Leben schon versaut und bin ein Versager, das wollte ich nicht für den Jungen.« Eine belegte Zunge schnellte zwischen den rissigen Lippen hervor und befeuchtete das Zigarettenpapier. Grace reichte ihm Feuer. »Da war dieser Kerl, Latino, Mexikaner glaub ich, den hat Jack in Tulsa kennengelernt. Mein Jack ist ein gutaussehender Bursch, hat er von seiner Mutter geerbt. Lucy war auch hübsch, als sie jung war.« Grace überkreuzte ungeduldig die Beine. Sie hatten keine Zeit, um in Erinnerungen zu schwelgen.
»Dieser Typ hat gemerkt, dass Jack bei den Wei ... Frauen gut ankam, also machte er ihm einen Vorschlag. Er sollte ihm Mädchen verschaffen, wozu, davon hatte er keine Ahnung. Er hat aber immer nur die genommen, die sowieso leicht zu haben waren. Darauf hat er geachtet.«
»Wie nobel«, sagte Grace spöttisch und hätte Mister Brown herzlich gerne ihre Faust ins Gesicht gerammt. »Er hat nie hinterfragt, was mit dem Mädchen geschieht? Und Sie auch nicht?«
Mister Brown schüttelte den Kopf, während er seine Zigarette ausdrückte.
»Man, das waren zehn Riesen und noch mal zehn, wenn er ihnen weitere Mädels liefert. So viel Geld ... das hätte er in drei Jahren nicht verdient. Er wollte hier raus, was ich gut verstehen kann. Meine Mutter liegt oben und braucht Medikamente, die ich ihr aber nicht beschaffen kann. Denken Sie allen Ernstes, ich wollte, dass Jack so ein Leben führt? Nein, ich wollte, dass er die Kohle nimmt und abhaut. Sich ein besseres Leben aufbaut. Sie können von mir halten, was Sie wollen, Lady, aber ich liebe meinen Sohn. Für mich ist es zu spät, aber Jack ist noch jung und hat noch alles vor sich.«
»Tja, jetzt hat er wohl einen langen Knastaufenthalt vor sich.« Grace erhob sich. »Wo ist er, Mister Brown?«
Mister Brown sah zwischen Grace und Jenny hin und her, dann seufzte er.
»Bei seiner Tante in Tulsa. Er war am Freitagabend im All in
und dort wird geredet, Agent. Er wusste, wer Sie sind und hat die Flatter gemacht.«
Grace nickte kaum merklich, dann zückte Sie ihr Telefon und rief, nachdem sie sich Namen und Adresse von Jacks Tante hatte geben lassen, das Policedepartment in Tulsa an.
»Mister Brown, ich verhafte Sie wegen Beihilfe zum Menschenhandel. Sie haben das Recht zu schweigen. Alles, was Sie sagen, kann und wird vor Gericht gegen Sie verwendet. Sie haben das Recht auf einen Anwalt, wenn Sie sich keinen leisten können, wird Ihnen
dieser vom Staat gestellt.«
Sie half dem, nach dem Geständnis in sich gesackten Mann, vom Stuhl auf und führte ihn ab.