Kapitel 19
Sie hatte Grace nachgesehen, bis der Wagen vom Hof gefahren war. Jennys Körper fühlte sich seltsam taub an. Leer. Dumpf. Wie konnte Grace einfach so gehen? Sie wusste, dass sie nicht zurückkommen würde, warum auch? Sie hatten Schluss gemacht und schon bald hätte Grace auch Eddy vergessen.
Jenny drückte den Rücken durch und erinnerte sich an die Massage, die Grace ihr verpasst hatte. Damals dachte sie, Grace sei zu keinerlei Gefühlen fähig. Und auch jetzt fragte sie sich, ob alles nur ein Spiel gewesen war. War Grace wirklich so abgebrüht und hatte sich einfach nur sehr gut verstellt? Nein, beantwortete sich Jenny ihre eigene, stumme Frage. Grace hatte eine warmherzige Seite, die sie aber unterdrückte. Warum sah sie nicht ein, dass ihr einsames Leben sie unglücklich machte?
»Jenny.«
Sie zuckte zusammen, als sie Bobbys Stimme hörte. Es war an der Zeit, wieder ein normales Leben zu führen. Grace zu vergessen und sich der Arbeit zu widmen. Arbeit half immer! Froh über die Ablenkung, eilte sie zu Bobby, um bei den Vorbereitungen für Eddys Party zu helfen. Doch so sehr sie sich bemühte, es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie nicht mehr täglich an Grace dachte.
Zwei Monate später erhielt Jenny eine kurze Textnachricht von Grace.
Petrow ist nach Europa geflüchtet, es ist jetzt Sache von Interpol. Aber wir konnten drei weitere Männer verhaften, die darin verwickelt waren und haben weitere Lager ausgehoben, in denen Mädchen auf ihren Abtransport warteten. Das Eis wird verdammt dünn für diese Bande und die Schlinge zieht sich immer mehr zu. Gruß, Grace.
»Noch unpersönlicher ging´s wohl nicht?«, murmelte Jenny.
Sie hatte sich weder an Eddys Geburtstag gemeldet, noch gab es irgendein anderes Lebenszeichen von ihr in den vergangenen Wochen. Jenny hatte das Thema Grace abgehakt. Endlich! Ein für allemal. Sollte sie jemals so etwas wie Hoffnung in sich getragen haben, dass Grace es sich anders überlegen könnte, begrub sie diese jetzt endgültig.
Beim Abendessen teilte sie den anderen mit, was sie erfahren hatte - genauso emotionslos, wie die Nachricht selbst. Eve und Bobby waren erleichtert, dass diese schreckliche Episode endlich hinter ihnen lag. Das Jugendprojekt wurde eingestellt, auch wenn Eve es nur schweren Herzens aufgab. Aber die Vorkommnisse hatte bei allen Spuren hinterlassen und Eve musste einsehen, dass sie nicht mehr alles stemmen konnte.
»Wir wollen übrigens etwas mit dir besprechen.« Eve und Bobby lächelten sich geheimnisvoll zu. »Es wird in Zukunft einige Veränderungen geben«, fuhr Bobby fort.
»Personell?« Jenny wischte sich den Mund an einer Serviette ab.
»Nicht nur. Wir haben beschlossen, uns zu verkleinern. Eve hat das durchgerechnet. Auch mit weniger Land und weniger Rindern, können wir gut leben, haben aber wesentlich mehr Zeit für die Familie. Eve wird weiterhin die Praxis betreiben, aber alles andere wird reduziert.«
»Oh«, machte Jenny.
»Wir haben bereits einen Käufer für die hintere Weide. Und dann ist da noch das da.« Bobby legte Jenny ein Schriftstück unter die Nase.
»Ich verstehe nicht ...« Jenny überflog das Geschreibsel. »Warum pachtet ihr neues Land, wenn ihr euch verkleinern wollt?«
»Brauchst du eine Brille? Guck doch mal genau hin.« Energisch tippte Bobby mit dem Zeigefinger auf das Papier.
Erst jetzt wurde Jenny klar, was sich da ansah. Dort stand ihr Name. Das war ein Pachtvertrag auf ihren Namen für das Grundstück am Fluss.
»Was um Himmels willen ...? Das kann doch nicht euer Ernst sein.« Sie grinste wie ein Honigkuchenpferd.
»Wir haben uns das so vorgestellt«, mischte sich Eve ein. »Du nimmst dein Erbe für Arbeiter, denn die wirst du brauchen. Und für Baumaterial für dein Haus, wobei du bestimmt Material von den Hütten verwenden kannst, denn so viele brauchen wir ja nicht mehr. Vom Verkauf der hinteren Weide kannst du dir zwei Stuten kaufen, das sollte für den Anfang reichen, damit du deine Zucht aufbauen kannst.«
Jenny ließ sich gegen die Stuhllehne sinken und suchte nach den passenden Worten.
»Ich werde euch jeden Cent zurückzahlen.«
»Wir sind Familie, Kleine. Und die Familie ist füreinander da. Ich hätte jetzt gerne eine Katze. Mit einer Katze auf dem Schoß wirken solche Aussagen viel besser.« Bobby grinste in die Runde. »Ihr wisst schon, der Pate.«
Jenny flog den beiden lachend und weinend gleichzeitig um den Hals.
»Ich danke euch. Ich danke euch von ganzem Herzen.«
Das Leben war schön und meinte es gut mit ihr - auch ohne Grace. Vor sechs Jahren war sie nach Bird Creek gekommen und hatte nichts als Ärger und Kummer gebracht. Doch jetzt hatte Jenny eine Familie und wusste, dass sie nie wieder allein sein würde. Wer brauchte schon eine Frau an seiner Seite, die sich nicht entscheiden konnte? Ab sofort begann ein neues Leben - IHR Leben und sie konnte es sich gestalten, wie sie wollte.
Als Jenny abends im Bett lag, las sie Graces Nachricht noch einmal. Und ein zweites Mal. Dann löschte sie ihren Namen und die Nummer aus ihrer Kontaktliste. Grace Lewis konnte in Houston verschimmeln, es war nicht mehr ihre Sache.