Kapitel 7

Dezember 1928, Paris

Beckett hatte winzige Macarons gekauft, zitronengelb, pistaziengrün und rosa, die er direkt aus der Schachtel servierte. Er bereitete Lapsang-Souchong-Tee und schenkte ihn in Tassen mit abgeschlagenen Ecken, über dünne Zitronenscheiben, die er mit einem Taschenmesser abschnitt. Wir saßen in seinem kleinen Wohnzimmer auf einem Sofa, dessen Sprungfedern bei jeder unserer Bewegungen ächzten und stöhnten. In der Ecke gab ein Ofen sporadisch Rauchwolken von sich, die das ganze Zimmer leicht verbrannt riechen ließen.

»Es ist recht kahl hier. Warum kaufen Sie sich nicht ein paar Kissen oder einen Teppich? Oder ein paar Gemälde?« Ich schaute mich wieder im Raum um und bemerkte die schlichten grauen Wände, von denen die Farbe blätterte, die jämmerlichen Regale, auf denen Beckett seine Bücher in alphabetischer Reihenfolge sortiert hatte, die beschlagenen Fenster.

»Das ist mal eine Idee.« Mr Becket fingerte am Kragen seines Hemdes herum, zerrte ihn immer wieder von seinem Hals weg.

»Hat Ihre Mutter nichts, was sie Ihnen leihen könnte? Sei es nur eine alte Decke auf dem Sofa, obwohl Kissen natürlich schöner wären. Sehen Sie, das ist beinahe durchgewetzt.« Ich deutete auf den fadenscheinigen Stoff, mit dem das Sofa bezogen war und durch den jeden Augenblick Büschel von Rosshaar und die Spiralen der Metallfedern hervorzubrechen drohten. »Und Sie brauchen ein paar Bilder, um Ihre Wände ein wenig aufzufrischen. Hier ist es wie in einer Mönchszelle.«

Beckett schwieg, während er sich wie ein Beobachter in seinem Zimmer umschaute, als hätte er es noch nie gesehen.

»Sie sagten doch, Ihre Eltern hätten ein großes Haus. Haben die nicht Bilder von Irland, die sie Ihnen schicken könnten? Wäre es nicht wunderschön, aufzuwachen und auf Irland zu schauen?« Ich seufzte verträumt. »Erzählen Sie mir von Ihrem Haus und Ihrem großen Garten und Ihren Hunden und Hühnern.« Ich hörte zu gern vom Zuhause, in dem Beckett seine Kindheit verbracht hatte. Die schiere Normalität begeisterte mich. Schon jetzt konnte ich mir vorstellen, wie ich dort den Hühnern Korn hinstreute und im Obstgarten Äpfel pflückte. »Erzählen Sie mir von Ihren Hunden. Welche Rasse war das?«

»Normalerweise hatten wir Kerry Blues.« Beckett schaute einen Augenblick lang wehmütig und hielt mir dann die Schachtel mit den Macarons hin.

»Wie hießen sie?«

»Wir hatten … äh … Bumble … und Badger … und Wolf … und, äh … Mac. Meine Mutter mag Hunde lieber als Menschen.« Er nahm seine Brille ab und wischte gedankenverloren mit dem Saum seines Pullovers daran herum.

»Und Ihr Vater hat das Haus gebaut, in dem Sie geboren sind? Ihre Eltern leben noch heute da? Sie haben immer nur in diesem Haus gelebt?«

Beckett nickte.

»Ich will alles darüber erfahren! Erzählen Sie mir mehr.« Ich stellte vorsichtig meine Teetasse auf die umgedrehte Holzkiste, die Beckett als Tisch verwendete, und machte es mir dann auf dem Sofa bequem, während unter mir die Sprungfedern quietschten.

»Ich habe es Ihnen schon erzählt.«

»Erzählen Sie es mir noch einmal. Erzählen Sie mir von den Wanderungen in den Bergen mit Ihrem Vater. Und erzählen Sie mir von Ihrer Mutter. Ich will alles über sie wissen.« Ich hätte beinahe hinzugefügt: »Weil sie eines Tages meine Schwiegermutter wird.« Doch dann begriff ich, dass das dreist klingen würde, und beherrschte mich gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie Beckett ein wenig zusammenzuckte.

»Sie mag Esel.« Er zögerte, als fiele ihm sonst nichts zu ihr ein. »Hunde und Esel.« Er schaute auf die Brille hinunter, die in seinem Schoß lag, und da fragte ich mich, ob er vielleicht nach Paris gegangen war, um von seiner Mutter, von Irland wegzukommen. Beinahe wie Babbo. Ich beschloss, ihn zum Thema Familie nicht weiter zu bedrängen.

»Erzählen Sie mir von Ihrem Garten. Von der Zitronenmelisse, die rings um die Veranda wächst, und von den Osterglocken und Rosen. Wir hatten nie einen Garten.« Ich seufzte noch einmal nachdenklich. »Was ist Ihre früheste Erinnerung, Sam? Etwa, wie Sie in Ihrem Körbchen im Schatten eines Apfelbaums liegen?«

»Nein«, antwortete er knapp. »Im Schoß meiner Mutter. Ich erinnere mich, in ihrem Schoß zu sein.« Das Sofa quietschte und stöhnte, als Mr Becket unbehaglich hin und her rutschte. Er setzte sich die Brille wieder auf, nahm dann erneut die Schachtel mit den Macarons und bot sie mir an.

»Wie war das? Im Mutterleib?« Ich nahm ein hellgrünes Macaron und begann an den Ecken zu knabbern, war mir bewusst, dass Beckett versuchte, sich bequem hinzusetzen, und wünschte mir, er könnte sich entspannen.

»Schrecklich. Dunkel und stickig.«

»Wirklich? Konnten Sie Geräusche von außen hören? Oder was riechen?« Ich lehnte mich vor, überlegte, ob Beckett wohl auch die Gabe des zweiten Gesichts hatte.

»Ich erinnere mich nicht an irgendwelche Gerüche. Aber ich habe Stimmen gehört. Habe meine Eltern reden hören, und die Geräusche von Geschirr und Besteck.« Seine Hände waren in seinem Schoß fest verschlungen.

»Wie außergewöhnlich. Was haben sie gesagt? Konnten Sie die Worte verstehen?«

»Nicht deutlich.« Er löste seine Fäuste und langte nach seinen Zigaretten. Er nahm eine aus der Packung und klopfte sie ein paarmal auf, ehe er sie sich zwischen die Lippen steckte, wo sie ein paar verträumte Sekunden baumelte.

»Das müssen Sie Babbo erzählen«, sagte ich schließlich. »Das wird ihn faszinieren.«

»Ich bin an einem Karfreitag geboren«, fügte Beckett hinzu. »An einem Freitag, dem dreizehnten, zufällig.« Er riss ein Streichholz an und hielt die bebende Flamme an seine Zigarette, inhalierte tief, während er das tat.

»Wirklich? Das erzählen Sie Babbo besser nicht. Er ist abergläubisch, und seine Mutter ist an einem dreizehnten gestorben.« Ich schaute Beckett an, als das ganze Gewicht seiner Worte mich überkam. Geboren am Karfreitag, an einem Freitag, dem dreizehnten, mit Erinnerungen daran, wie es im Schoß seiner Mutter gewesen war. Auch er trug die Last der Erwartungen und der Geschichte auf seinen Schultern. Auch er war in gewisser Weise etwas Besonderes, anders als die anderen, von Geburt an gezeichnet.

»Erzählen Sie mir von sich, Lucia.« Beckett blies einen Rauchschwall aus und hustete dann ein paar Sekunden lang. »Von all Ihren Reisen, vom Aufwachsen mit Ihrem Vater …«

»Ja, so viele Reisen und so viele Häuser, aber keines mit einer Veranda.« Ich lächelte mein schönstes Lächeln. Ich hatte nicht die Absicht, die Stimmung zu trüben, indem ich über meine Kindheitserinnerungen sprach, und warf den Kopf in den Nacken, als wollte ich meine Vergangenheit abschütteln. Aber Beckett war beharrlich, wollte wissen, welche Städte meinen Vater am meisten inspiriert hatten und wo ich zur Schule gegangen war.

»Hier und da. In acht verschiedene Schulen, oder waren es neun? Oder zehn? Ich erinnere mich nicht mehr. Drei in Triest, zwei in Zürich, eine in Locarno, zwei weitere in Paris. Beinahe eine pro Jahr.« Ich biss in das nächste Macaron. Ich konnte mich noch allzu gut an die ersten Tage in den neuen Schulen in den neuen Städten erinnern, wie meine kleine Hand Giorgios Hand gepackt hielt, die geballte Ansammlung neuer Gesichter, die in unvertrauten Sprachen redeten, das hohle Gefühl im Magen.

»Das muss schwer gewesen sein«, sagte Beckett sanft. Er schaute mich eine Minute lang mit solcher Zärtlichkeit an, dass ich erwog, ihm alles zu sagen, all diese Erinnerungen mit ihm zu teilen, die da in mir lauerten. Aber stattdessen schluckte ich mein Macaron herunter, bürstete mir einen verirrten Krümel vom Kleid und schwieg.

»Welche Sprache mögen Sie am liebsten?« Er stand auf und legte im Ofen Kohlen nach, füllte so den Raum mit einer dicken Rauchwolke.

»Wenn wir vier unter uns sind, sprechen wir italienisch. Wenn Babbos irische Freunde zu Besuch kommen, sprechen wir englisch. Und Giorgio und ich reden deutsch, wenn wir nicht wollen, dass Babbos Freunde uns verstehen. Und natürlich sprechen wir französisch, wenn wir in Paris unterwegs sind. Aber ich mag Italienisch am liebsten. Babbo nennt es die Sprache der Liebe.« Ich sprach das Wort »Liebe« sehr laut aus, damit er es über das Rasseln der Kohlenschütte hören konnte.

Beckett schritt zum Sofa zurück, sein Gesicht war leicht gerötet – aber ob das von der Hitze des Ofens oder vom Gedanken an die Liebe kam, konnte ich nicht sagen. »Wirklich polyglott. Ich beneide Sie darum. Ich bringe mir selbst Deutsch bei, die Sprache der Philosophie. Spricht Ihr Vater fließend Deutsch?« Er setzte sich wieder, arrangierte sich zwischen dem hervorquellenden Rosshaar und den herausbrechenden Sprungfedern, wischte sich über das Gesicht.

»Ja«, antwortete ich. Doch ich war es leid, über Babbo zu sprechen, also fügte ich hinzu: »Heute ist der Festtag der heiligen Lucia, wussten Sie das?« Ich streckte die Hand aus, nahm ein blassrosafarbenes Macaron aus der Schachtel und biss so anmutig hinein, wie ich konnte.

»Der Festtag der heiligen Lucia?« Beckett schlug die langen dünnen Beine übereinander, löste sie gleich darauf wieder und erinnerte mich plötzlich an eine Grille oder einen Grashüpfer, nichts als Winkel und Linien.

»Eigentlich eine Ironie des Schicksals. Sie ist die Schutzheilige der Blinden, und Babbo ist beinahe blind. Auch Giorgio muss jetzt eine Brille tragen, ganz zu schweigen von meinem … meinem … Augenfehler.« Ich stockte und schaute weg. Warum hatte ich das gerade gesagt? Warum hatte ich die Aufmerksamkeit auf mein Schielen gelenkt? Ich hatte jetzt keine andere Wahl, als ihm alles darüber zu erzählen. Und wann immer er mich von nun an ansehen würde, würde er nichts anderes mehr sehen als meinen wandernden Augapfel.

»Wirklich?« Ich spürte, wie sich Becketts Blick in mich hineinbrannte.

»Sie haben es nicht bemerkt? Strabismus ist der medizinische Fachausdruck. Babbo sagt, ich kann es operieren lassen.« Ich wandte mein Gesicht ins Licht, das schräg durchs Fenster fiel, und deutete auf mein linkes Auge. »Ich habe es von meiner Mutter, aber bei ihr ist es sehr schwach ausgeprägt.«

Beckett stellte seine Teetasse ab, legte seine Zigarette sorgfältig auf die Kante des Aschenbechers und schaute mich unter seinen dichten Augenbrauen an, den Kopf wie ein Vogel zur Seite geneigt. »Ich hatte es nicht bemerkt, aber jetzt, da Sie es erwähnen …«

»Was meinen Sie, Sam? Sollte ich mich operieren lassen? So viele von Babbos Operationen haben nicht funktioniert. Und es ist schrecklich teuer.«

»Ich finde Sie …« Er legte eine Pause ein und nahm seine Teetasse wieder in die Hand. Ich hörte das Stottern der Tasse auf der Untertasse. »… wunderschön«, sagte er endlich.

Ich war so überrascht, dass ich das Macaron fallen ließ, das ich in der Hand hielt, und dann auf dem Boden danach tastete, um meine Verwirrung und Aufregung zu verbergen. Ich glaube nicht, dass Beckett die Absicht hatte, so offen zu mir zu sein, denn auch er wirkte ein wenig durcheinander und verschüttete die Hälfte seines Tees auf der Untertasse.

Ich spürte, wie mein Gesicht scharlachrot wurde und die Hitze in mir aufstieg. Ich war froh, dass mein Macaron fortgerollt war, froh über die Entschuldigung, mich hinknien zu können, unter das Sofa zu langen und so mein Erröten zu verbergen. Wunderschön. Beckett fand mich wunderschön. In meinem Kopf wirbelte plötzlich alles wild durcheinander, als rührte jemand mit einem Löffel in meinem Schädel, und rührte und rührte. Als ich die Hand ausstreckte und dabei in Staubflusen griff, merkte ich, dass er seine Arbeiten unter dem Sofa aufhob. Statt meines Macaron ertastete ich Stapel dicker Umschläge, die unter den hervorquellenden Sprungfedern eingeklemmt waren. Wunderschön schallte mir noch in den Ohren, aber der Staub unter dem Sofa lenkte mich ab, geriet mir in die Lungen und machte meinen Hals trocken und kratzig. Ich konnte hören, wie auch Beckett hustete und fragte, ob es mir gutginge, ich solle mir wegen des Macaron keine Sorgen machen. Ich erhob mich von den Knien, strich mir das Kleid glatt und bürstete mir den Staub von den Armen.

»Ich glaube, das Macaron ist immer noch irgendwo da drunter«, sagte ich mit einem verlegenen Lachen. »Ich wollte keine Unordnung in Ihrer – Ihrer Arbeit machen.«

»Wir wollen es für die Mäuse liegen lassen.« Er streckte mir die Schachtel mit den Macarons entgegen, hielt aber den Blick gesenkt. Ich sah, dass ihm die Farbe von den Wangenknochen wich, dass seine dichten Augenbrauen hochschossen wie die Flügel eines Vogels, dass seine Hakennase dem Schnabel einer Eule glich. Und sein schmaler Körper, so unbehaglich und unbeholfen, wie er da auf dem Sofa hin und her rutschte. Ich wünschte, er würde mich einfach in die Arme schließen und an sich ziehen. Ich schluckte schwer und bürstete noch einmal mein Kleid ab, als könne ich meine Sehnsucht und seine Unbehaglichkeit und unser beider Schüchternheit wegwischen. Warum konnte ich nicht einfach wie die Bohémiennes von Paris sein? Warum war ich nicht so verführerisch und kühn wie meine Tanzkolleginnen, wie Stella? Ich verfluchte meine Eltern dafür, dass sie mich in ihre irische Moral eingesperrt hatten. Und dann dämmerte mir, dass Beckett wohl mit demselben Konflikt haderte, und ich verspürte einen Anflug von Mitgefühl.

Ich schüttelte angesichts der Schachtel mit den Macarons, die er mir immer noch hinhielt, den Kopf. »Fahren Sie zu Weihnachten nach Irland, Sam?«

»Kurz.« Er stellte die Schachtel auf einen Bücherstapel, ehe er hinzufügte: »Und dann vielleicht zu meiner Tante und meinem Onkel nach Deutschland.«

»Ich hoffe, Sie bleiben nicht zu lange fort? Mama geht im Januar ins Krankenhaus. Der Arzt meint, sie habe vielleicht Krebs. Wir machen uns große Sorgen, und Babbo wird Ihre Hilfe brauchen.« Ich nahm meinen Mantel und meine Handschuhe von Becketts Schreibtisch und versuchte, meine Angst um Mama zu verdrängen. »Babbo lädt uns heute Abend zum Essen ein, um den Tag der heiligen Lucia zu feiern.«

»Oh.« Beckett hatte die Fassung wiedererlangt und beobachtete mich ruhig, ohne zu blinzeln, während ich mir die Handschuhe anzog.

»Soldaten haben ihr die Augen ausgestochen, aber nachdem sie sie umgebracht hatten, hatte sie anstelle der durchbohrten wunderbarerweise vollkommene, neue Augen.« Ich fragte mich, ob ich ihm sagen sollte, dass die heilige Lucia hellsichtig gewesen war, dass sie die Zukunft in ihren Träumen erblickt hatte – und dass auch ich manchmal die Zukunft in meinen Träumen sah. Nein. Jetzt war nicht die richtige Zeit dafür, beschloss ich.

»Ah ja, jetzt erinnere ich mich wieder. Sie hat sich geweigert, ihrem Ehemann zu gehorchen.« Beckett ging auf die Tür zu und hielt sie mir auf. Der Geruch von gebratenen Zwiebeln wehte den Korridor entlang, und ich konnte im gemeinsamen Badezimmer nebenan Wasser laufen und die Toilettenspülung rauschen hören.

Ich senkte die Stimme. »Und sie haben sie in ein Bordell gebracht, wo sie geschändet wurde. Fürchterlich.«

Beckett schaute eine Sekunde zur Seite. Wie empfindsam er war. Aber wie könnte es anders sein? Er kam aus Irland, wo man über derlei Dinge nie sprach. »Babbo hat mich auch nach Lucia di Lammermoor, der Oper von Donizetti, benannt«, fügte ich hinzu, um das Thema zu wechseln.

»Was ist mit ihr geschehen?« Beckett ging voraus auf den Korridor und auf die großen Holztüren zu, die auf die Rue d’Ulm hinausführten. Die Luft im Korridor war kälter, und hinter dem Aroma gebratener Zwiebeln roch ich Feuchte und Schimmel.

»Sie wird wahnsinnig und bringt sich um.« Ich zog den Mantel fester um mich, bereit, der abendlichen Winterluft entgegenzutreten. »Von ihrem Bruder verraten. Dann bringt sich auch noch ihr Geliebter um, damit sie im Himmel vereint sein können. Es ist sehr traurig, aber die Musik ist wunderbar. Es ist eine meiner Lieblingsopern.«

»Dann halte ich Ausschau danach.« Beckett nickte der Concierge zu, die in eine Decke gehüllt dasaß und Zeitung las. Dann drückte er die schwere Holztür auf, die auf die Straße führte, und ich spürte die scharfe Kälte auf dem Gesicht.

»Sie müssen mit uns hingehen. Ich finde heraus, wann sie das nächste Mal im Palais Garnier aufgeführt wird.«

Ich reckte mich und küsste ihn auf beide Wangen. Während ich das tat, atmete ich seinen Duft ein und ließ die Wärme seiner Wangen eine Weile auf meinen Lippen verweilen. Und währenddessen hörte ich in Gedanken seine Stimme sagen: »Ich finde Sie wunderschön«, immer und immer wieder.

Auf dem ganzen Heimweg hörte ich nichts – nicht das Rasseln der Straßenbahnen, nicht das Schmettern der Autohupen, nicht die Orchester, die in den Konzerthallen ihre Instrumente stimmten, nicht das Rufen der Zeitungsverkäufer – nichts außer dem Klang seiner Worte, immer und immer wieder. Mein geheimer Verehrer, nun doch …

*

Eine Woche später geschah etwas Wunderbares. Ich war in Monsieur Borlins Studio, dem Raum mit den merkwürdigen Bullaugenfenstern, durch die man Sacré-Cœur sah, und mit den unebenen Fußbodendielen, die ächzten, wenn man darüberlief. Unser Unterricht war zu Ende, aber Monsieur Borlin wusste, dass Mama es nicht mochte, wenn ich zu Hause tanzte, also erlaubte er mir, wenn er keine weiteren Kurse hatte, noch dazubleiben und zu proben.

Ich arbeitete an meinem Regenbogentanz, versuchte herauszufinden, wie ich einige der komplizierteren Sequenzen aufeinander abstimmen könnte. Ich hatte Babbo den Ablauf am Abend zuvor beschrieben, und er hatte sich einige der gewagteren Figuren von mir zeigen lassen und sich lautstark darüber ausgelassen, wie innovativ und voller Elan sie seien. Bis Mama auftauchte und darauf bestand, dass ich mir mehr anzog und mich wie eine Dame verhielt. Aber als ich jetzt an der Stange lehnte, hallten einige von Babbos Worten über die Schlaufen und ihre Verbindung zum Licht in meinem Kopf wider. Durch das Bullauge oben fiel ein magerer Strahl Dezemberlicht in einem bebenden Streifen auf den Fußboden. Ich glitt darauf zu, warf schwungvoll die Arme in die Höhe und beugte meinen Oberköper zu einem vollkommenen Halbkreis.

»Ah, Miss Joyce, schön, dass ich Sie noch erwische. Ich dachte, Sie wären vielleicht schon gegangen.« Monsieur Borlin stand im Eingang, strich sich mit den behandschuhten Fingern die Weste glatt und schaute mich durch sein Monokel an.

Ich richtete mich auf und legte die Arme an die Seite. Irgendetwas an seiner Miene machte mich stutzig. Diese Art von Geplauder kannte ich von ihm sonst nicht.

»Setzen Sie sich.« Er zog einen Fächer mit Muschelrand aus der Brusttasche und deutete auf den goldenen Korbstuhl neben dem Klavier.

»Aber das ist Ihr Stuhl, Monsieur.« Ich bewegte mich unsicher darauf zu. Niemand außer ihm saß je auf dem goldenen Korbstuhl.

»Ich werde noch den ganzen Abend im Théâtre des Champs-Elysées sitzen.«

Ich hockte mich auf die Kante seines Stuhls und fragte mich, was er mir wohl mitteilen würde. Was konnte so furchtbar sein, dass ich mich hinsetzen musste? Es ging mir durch den Kopf, dass er mich womöglich aus dem Unterricht verweisen würde. Er war berüchtigt dafür, Schüler hinauszuwerfen, die entweder kein Talent oder keine Disziplin an den Tag legten. Ich spürte, wie meine Muskeln sich versteiften.

»Ich habe mir erlaubt, Sie für das Internationale Tanzfestival im April anzumelden. Das ist kurzfristig, aber ich zweifle nicht daran, dass Sie der Herausforderung gewachsen sind.«

»Was?« Ich runzelte die Stirn. Mich? Hatte ich mich verhört?

»Ich will offen sprechen. Sie sind meine begabteste Schülerin. Der Tanz unserer Zeit ist das Alphabet des Unbeschreiblichen, und Sie verstehen das, Miss Joyce.« Er schlug seinen Fächer auf und wedelte damit vor seinem Gesicht herum, während ich seine Worte überdachte.

»Was muss ich dafür tun?«

»Sie tanzen zwei Soli, für die Sie auch die Choreographie, die Kostüme und das Bühnenbild entwerfen. Sie haben genug Talent, diesen Wettbewerb zu gewinnen, Miss Joyce.« Er ließ seinen Fächer zuschnappen und begann damit in der Luft zu malen. »Tänzer sind die Pioniere einer neuen Morgendämmerung der Künste. Ich sehe das in Ihnen verkörpert. Wie Sie sich so frei, so ausdrucksstark und doch mit äußerster Kontrolle bewegen. Wie gelingt Ihnen das?«

»Ich komme von der Gymnastik«, antwortete ich lahm und wünschte mir, ich hätte eine würdigere Geschichte vorzuweisen.

»Das kann ich sehen. Gelegentlich scheint Ihr Tanz eher von Akrobatik als von Ballett geprägt zu sein. Aber das habe ich nicht gemeint. Tanzen heißt, mit dem Körper zu schreiben, und Sie tun das ganz instinktiv. Ich spüre in Ihnen, Miss Joyce, eine rohe Emotion, die das Potential zum Außergewöhnlichen hat. Es ist eine Gabe, Miss Joyce.« Er steckte den Fächer wieder in die Tasche und kniff sein Monokelauge zusammen.

»Vielen Dank, Monsieur.« Ich wollte in einen Triumphgesang ausbrechen, aber meine Stimme war kaum mehr als ein benommenes Stottern. Ich wollte den Raum in Riesensprüngen umkreisen, aus dem Studio tanzen und zu Sacré-Cœur hinauf, wo ganz Paris mich sehen würde, wie ich mich drehte und wirbelte. Ich wollte zum Mond und den Sternen hinaufrufen: »Ich habe Talent! Monsieur Borlin sagt, ich habe Talent.«

»Noch drei Monate, dann werden Sie im Wettbewerb gegen die besten Tänzer von überall auf dem Globus antreten. Die Juroren sind noch nicht bestätigt, aber seien Sie versichert, dass es die herausragendsten Tänzer der Welt sein werden.« Er schniefte ein paarmal leise und brach dann auf. »Schließen Sie ab, wenn Sie gehen, Miss Joyce, und legen Sie den Schlüssel an die übliche Stelle.«

Sobald Monsieur gegangen war, vollführte ich den höchsten Grätschsprung, den ich konnte. Immer und immer wieder sprang ich. Ich musste gleich anfangen, meine Choreographien zu planen, aber mein Kopf war zu verwirrt und mein Herz zu voll – und ich wollte nur tanzen. Ich schlug Rad quer durch das Studio, drei, vier, fünf Mal. Und dann wieder zurück. Plötzlich war mir meine Tunika zu schwer, zu warm. Meine Tanzschuhe aus Segeltuch fühlten sich zu einschränkend, zu eng an. Ich kickte sie von den Füßen und warf meine Tunika ab, so dass ich barfuß war und nur noch meine kurze Tanzunterhose und mein Unterhemd trug. Die kühle Luft im Studio leckte mir an Armen und Beinen. Der Ofen war ausgegangen, aber mir war glühend heiß, und einen verrückten Augenblick lang dachte ich darüber nach, all meine Kleider auszuziehen und nackt zu tanzen.

Stattdessen flog ich im Flickflack durch den Raum. Und als meine Füße über meinen Kopf flogen, hörte ich ein Husten. Verdattert landete ich ungeschickt und stolperte gegen die Stange. Ich spürte, wie mir die Hitze über den Nacken kroch, und wünschte, ich hätte meine Tunika anbehalten. Zweifellos hatte Monsieur Borlin seinen Fächer verloren. Oder sein Monokel war heruntergefallen. Aber es war nicht Monsieur Borlin. Es war Beckett.

»Ich warte draußen.« Seine Stimme klang, als hätte er die Kehle voller glühender Kohlen. »Ihr Vater meinte, Sie wären hier. Und ich bin gerade vorbeigekommen.«

Ich wand mich innerlich, als ich an meinen voluminösen Tanzunterhosen herunterschaute, aber Beckett hatte sich diskret zurückgezogen, und ich konnte im Korridor die Dielenbretter knarren hören.

»Bitte machen Sie sich keine Sorgen«, rief ich, als ich mir die Tunika über den Kopf zog und mein Kleid von der Stange nahm. »Ich tanze normalerweise nicht in der Unterwäsche, aber mir war heiß, und ich habe gerade wunderbare Neuigkeiten erhalten.«

»Oh?« Beckett räusperte sich erneut.

»Mein Tanzlehrer hat mich für Europas größten Wettbewerb im zeitgenössischen Tanz angemeldet. Ich bin nervös und aufgeregt, aber voller Glück – und Angst, alles zugleich.«

»Gratuliere«, rief er durch den Türrahmen.

»Er meinte, dass ich wirklich Talent habe.« Selbst jetzt hörte ich meine Stimme beben, als ich Monsieur Borlins Worte wiederholte. Hatte er das wirklich gesagt?

»Mr Joyce erzählt mir das schon immer. Ich … ich wollte es einmal selbst sehen.«

»Ich bin jetzt angezogen. Sie können hereinkommen.« Ich schüttelte den Saum meines Kleides aus und strich mir das Haar aus dem Gesicht. »Möchten Sie ein Stück von meinem Regenbogentanz sehen? Er ist noch nicht fertig, aber ich entwerfe ihn für Babbo.«

»Könnte ich?« Beckett kam langsam hinter der Tür hervor.

Ich nickte, überlegte, ob ich mein Kleid ausziehen und in der Tunika tanzen sollte. Aber ich hörte Mamas Worte in meinem Ohr und entschied mich dagegen.

»Stellen Sie sich die Musik vor und dass ich eine von sechs Tänzerinnen bin. Und stellen Sie sich vor, dass ich eine Art Regenbogenkostüm trage.« Ich stand in der ersten Position da, ließ mein rechtes Bein nach hinten gleiten und begann dann die Anfangssequenz. Scherte durch das Studio. Kreiselte und glitt über den Boden. Schwang mich in die Höhe, um wieder hinabzuschießen. Ein vergänglicher Bogen aus Farben, der waberte und sich auflöste. Aufblitzen eingefangenen Lichts. Bebende Schlaufen aus Bewegungen. Ein vom Wind umspülter Regenbogen, dessen Farbbänder zitterten und dahinschmolzen. Ich kauerte mich und verdrehte mich. Regennadeln, spitz und hart. Ich streckte mich und spreizte die Finger, weiche Strahlen warmen Sonnenlichts. Ich war eine wehende Bahn aus leuchtenden Farben. Ich war die goldhäutige Weberin des Windes. Sonnengesprenkelte Herrscherin des Kosmos.

»Weiter bin ich noch nicht gekommen.« Ich wartete auf Becketts Urteil, plötzlich nervös und unsicher. Was war nur über mich gekommen? Monsieur Borlins Lob war mir zu Kopf gestiegen!

»Unglaublich«, sagte er wie betäubt. »Ich hatte ja keine Ahnung … Mr Joyce hat gesagt, Sie wären gut, aber …« Er hielt inne und schüttelte den Kopf, als fehlten ihm die Worte.

Ich machte eine Pause, war mir nicht sicher, was ich sagen sollte. Doch dann ging mein Mund wie von allein auf, und ich platzte mit etwas so Kühnem, Kokettem heraus, als hätte eine Pariser Bohémienne von meinen Stimmbändern Besitz ergriffen. »Ich würde Ihnen sehr gern das Tanzen beibringen, Sam.«

Einen wortlosen Augenblick lang starrte ich auf die Bodendielen und wartete, dass er erröten und höflich ablehnen würde. Aber das tat er nicht. Zu meiner Überraschung sagte er: »Das wäre schön. Sehr sogar.« Er warf mir einen seiner langen, intensiven Blicke zu – als sähe er geradewegs in mich hinein, bis zu meinem pochenden Herzen, der in meinen Lungen gefangenen Luft, dem heißen Blut, das in meinen Adern tobte.

Ich versuchte, meine Stimme zu mäßigen, damit er nicht merkte, wie freudig erregt ich war. »Wir sollten mit dem Charleston anfangen. Jedermann in Paris tanzt Charleston.«

»Nun gut. Dann soll es der Charleston sein.« Er warf mir ein halbes Lächeln zu und deutete auf die Fenster. Regenpfeile schlugen fauchend auf das Glas. »Ich sollte besser gehen. Ich bin auf dem Weg zum Montmartre.«

»Ich kann Sie aber erst nach meinem Tanzwettbewerb unterrichten. Können Sie so lange warten?«

»Ich denke schon.« Und da war ein ängstlicher Ton in seiner Stimme, den ich nicht deuten konnte.

Wir verabschiedeten uns vor dem Studio voneinander. Als ich das Ende der Straße erreicht hatte, schaute ich mich um, wollte noch einen letzten Blick auf ihn werfen. Er stieg die Stufen zu Sacré-Cœur hinauf, sein Haar breitete sich im Wind wie ein verwuschelter Heiligenschein um ihn aus. Sofort wandten sich meine Gedanken wieder dem Tanz zu, Monsieur Borlins Worten, dem Festival, dem Charleston mit Beckett. Wie sollte ich das alles schaffen?