April 1929, Paris
Den gesamten März und April hindurch tat ich nichts außer tanzen und nähen. Ich hatte überall Blasen. Meine Füße schmerzten, weil ich den ganzen Tag tanzte, und meine Finger waren rot und wund, weil ich die Nacht hindurch nähte. Es waren nur noch zwei Wochen bis zum Internationalen Tanzfestival im Bal Bullier in Montparnasse, und ich war vor Erwartung schon ganz kribbelig.
Ich hatte lange über meinen Auftritt nachgedacht. Babbo hatte sich gewünscht, dass ich einen Tanz über den Liffey aufführte. Ich wusste, dass dieser Fluss ein wichtiges Element in seinem »Work in Progress« war, aber aus irgendeinem Grund wollte ich ihn nicht zum zentralen Element meiner Choreographie machen. Schließlich hatte ich mich entschlossen, als Seejungfrau zu tanzen, und Babbo beschwichtigt, indem ich andeutete, ich wäre aus den wässrigen Tiefen seiner geliebten Dublin Bay aufgetaucht.
Ich entwarf und nähte ein Kostüm aus blauem, grünem und mit silbernen Pailletten besticktem Moiré, das mich von Lucia, der Tochter von James Joyce, in Lucia, den tanzenden Fisch und die sich schlängelnde Meerjungfrau verwandeln würde. Ich würde Schuppen und Flossen und Kiemen haben, aber auch lange seetanggleiche Haarsträhnen, die mir bis in die Taille fielen. Ich machte die Flossen aus Taubenfedern, die ich im Jardin du Luxembourg gesammelt und dann leuchtend meerblau eingefärbt hatte. Auf dem Kopf würde ich eine eng anliegende, mit Schuppen besetzte Kappe tragen, unter der ich mein Haar verbergen konnte.
Wann immer ich mir in den Finger stach oder aus Versehen so sehr am Faden zog, dass er sich mir in die Haut einschnitt, schloss ich die Augen und stellte mir vor, wie ich auf der Bühne glitzernd und schimmernd sprang und hüpfte und mich verdrehte und wirbelte. Ich stellte mir die begeisterten Rufe eines ekstatischen Publikums vor. Ich stellte mir vor, wie Becketts Augen mich ansahen, wild und erregend. Ich stellte mir Monsieur Borlin vor, der mit seinem Fächer wedelte und rief: »Meine begabteste Schülerin!« Und Babbo, dem vom Applaudieren die Hände schmerzten, dem der Hals trocken war von seinen Anfeuerungsrufen.
Mama erholte sich noch von ihrer Operation, und so saßen wir die meisten Abende in geselligem Schweigen beieinander, lauschten auf das Kratzen von Babbos Feder und das Auf und Ab von Giorgios Stimme, wenn er übte. Giorgio sollte in der Woche vor meinem Auftritt sein Debüt als Sänger geben, seinen ersten Soloabend. Mama und Babbo waren so aufgeregt wegen Giorgios Konzert, so ängstlich besorgt um seine Stimme, dass sie mich in Ruhe tanzen und nähen ließen. Wenn Mama nur von Mrs Fleischman wüsste, dachte ich. Aber ich hatte nicht die Absicht, Giorgios Geheimnis zu verraten.
Eines Sonntagmorgens, als ich im Wohnzimmer saß und an meiner Meerjungfrauenkappe nähte, sorgfältig die Nadel durch den steifen, schimmernden Stoff zog, kam Beckett, um Babbo auf einem Spaziergang im Bois de Boulogne zu begleiten.
»Kommen Sie auch mit?« Er ließ seinen langen, dünnen Körper neben mir auf das Sofa gleiten. Mama bürstete im Flur Babbos Mantel ab, und Babbo war auf der Suche nach seinem Schal und den Handschuhen.
»Ich kann nicht, Sam.« Ich zog heftig an der Nadel. »Ich habe so viel zu nähen, und ich muss noch tanzen. Ich habe heute Morgen noch überhaupt nicht geübt.«
»Oh.« Beckett schaute mich an. Nein – er starrte mich an, viel länger, als die Höflichkeit erlaubte, und mein Herz begann zu hüpfen, und das Blut unter meiner Haut geriet ins Rauschen.
»Im Bois de Boulogne ist es jetzt sicher wunderschön – die Narzissen und Krokusse und Weidenkätzchen. Nicht so schön wie in Irland natürlich, aber es wird Babbo trotzdem aufheitern. Wir waren hier in letzter Zeit ziemlich eingesperrt.« Ich schob die Nadel langsam durch den Stoff, war mir nur zu bewusst, dass Becketts Augen auf mir brannten. »Was haben Sie so gemacht, Sam?«
»Nicht viel«, antwortete er zurückhaltend. »Erzählen Sie mir von Ihrem Tanz. Mr Joyce sagt, Sie hätten sich geweigert, den Liffey zu tanzen.«
»Ich habe diesen Fluss nur einmal gesehen, und da war er so schmutzig und von einem ekligen schwebenden Nebel überzogen. Ich konnte nicht. Nicht einmal für Babbo. Ist er schrecklich enttäuscht?«
»Er nimmt es mit stoischer Gelassenheit. Worum geht es in Ihrem Tanz?«
»Das ist ein Geheimnis. Nur Babbo weiß es. Aber ich sage Ihnen eines: Eines meiner Beine wird völlig nackt sein.« Ich hob die Augen und erwiderte kühl seinen Blick. »Mehr verrate ich Ihnen nicht. Es wird eine Überraschung.«
»Nackt?«, wiederholte er.
»Nur mein Bein. Damit das andere wie ein Fischschwanz aussieht.« Ich wollte gerade noch einmal sagen, er müsse auf den großen Abend warten, als er die Hand ausstreckte und mit dem Finger seitlich über meine Wange und an meinem Kieferknochen entlangstrich, als wolle er dort eine Linie nachzeichnen. Das überraschte mich so, dass ich ein kleines Seufzen ausstieß, aber als ich mich zu ihm herumdrehte, hatte er seine Hand so hastig zurückgezogen, dass ich mich fragte, ob ich es nur geträumt hatte. Dann tauchte Babbo in der Tür auf, den Spazierstock in der Hand, und fragte, ob Beckett bereit wäre.
»Jawohl, Sir«, sagte der und sprang auf. Er ging auf die Tür zu, und erst dann drehte er sich um und schaute mich an. Da wusste ich, dass ich es nicht geträumt hatte. In seinen Augen lag ein hungriger, verlassener Blick wie in den Augen eines bettelnden Kindes. Er warf mir sein typisches halbes Lächeln zu und sagte: »Ich sehe Sie nächste Woche bei Giorgios Konzert.«
Ich nickte und versuchte, mich auf die Bewegung meiner Nadel zu konzentrieren. Aber sobald ich hörte, wie die Wohnungstür zufiel, warf ich meine Näharbeit auf den Boden und begann mit weit ausgestreckten Armen und in den Nacken geworfenem Kopf im Wohnzimmer herumzutanzen und zu wirbeln. Oh – diese Berührung! Seine rauen Fingerspitzen an meiner Wange! Die elektrisierende Spannung, die dabei zwischen uns war. Und schon bald würde ich ihm Tanzstunden geben, ihn in meinen Armen halten, spüren, wie sich sein Körper an meinem wiegte. Ich schlang mir die Arme um den Körper. Wilde Euphorie flutete über mich hinweg, genau wie bei meiner letzten Vorstellung. Plötzlich kam mir der Gedanke, dass in Beckett verliebt zu sein gar nicht so anders war als Tanzen – dieses atemlose Gefühl der Unbesiegbarkeit, das Gefühl, dass Zeit und Raum verschwanden.
»Lucia! Was um alles in der Welt machst du da? Du weißt doch, dass du in meinem guten Wohnzimmer nicht tanzen sollst!« Mama stand in der Tür, die Arme vor der Brust verschränkt. »Giorgio braucht Ruhe für seine Stimmübungen. Also hör sofort mit der Tanzerei auf! Und warum liegen in deinem Schlafzimmer überall alte Kartoffelscheiben herum?«
»O Mama«, antwortete ich atemlos. »Ich habe gerade einen Augenblick vollkommener Perfektion erlebt.«
»Andere Leute hier versuchen, sich von einer Operation zu erholen.« Sie blickte finster drein. »Genug ›vollkommene Perfektion‹ für heute. Jetzt räume die Kartoffeln aus deinem Zimmer, und sieh zu, dass du mit deiner Näherei vorankommst.«
»Die Kartoffeln sind für mein Auge.« Ich warf mich wieder aufs Sofa und fuhr mir mit den Fingern an der Wange entlang, genau da, wo Becketts Finger gewesen waren. »Kitten hat gesagt, ich soll kalte Kartoffelscheiben auf mein schielendes Auge legen. Das sei ein uraltes Hausmittel.«
»Was für ein Blödsinn!« Mama kam ins Wohnzimmer, hob meine Näharbeit vom Boden auf und reichte sie mir. »Und du hörst jetzt besser auf, an dein Auge zu denken. Wie können wir eine Operation für dich zahlen, wo wir doch um das Geld für die Augenoperationen deines Vaters betteln müssen?«
»Hast du nie einen Augenblick reinster Freude erlebt, Mama?«, fragte ich und strich mir erneut mit den Fingern über die Wange.
»Großer Gott. All die Tanzerei auf der Bühne hat dich eitel und egoistisch gemacht, Lucia.«
»Na, hast du?«, beharrte ich. »Du musst doch einmal eine einzige Sekunde vollkommener Seligkeit erlebt haben. Als du Babbo kennengelernt hast?« Ich langte nach einem Kissen und drückte es vielsagend an mich.
»Du hast ja keine Ahnung von der wirklichen Welt!« Zu meiner Überraschung funkelten Mamas Augen wütend. Sie riss mir das Kissen weg und begann mit der Hand daraufzuschlagen. »Du hast keine Ahnung von Männern! Du hast keine Ahnung, was ich tun musste, um diese Familie zusammenzuhalten! Und du hast die Stirn und kommst mir mit deinem Gerede von Seligkeit!«
Ich wich verletzt und sprachlos auf dem Sofa zurück.
»Ich habe gesehen, wie du wegen Mr Beckett Kuhaugen machst. Und da kannst du dir deine …« Sie legte eine Pause ein und spie die nächsten Worte förmlich aus. »Da kannst du deine Freude, deine Seligkeit und deine Vollkommenheit vergessen.« Sie hieb so wütend auf das Kissen ein, dass eine große Staubwolke herauswirbelte. »Männer sind Tiere mit gierigem Hunger. Daran erinnerst du dich besser, wenn du wieder mal von ›reiner Freude‹ faselst.«
»Warum bist du immer so gemein?«, schrie ich, während mir die Tränen in den Augenwinkeln standen.
»Ich habe verdammt hart gearbeitet, um dich anständig zu erziehen. Und jetzt sieh dich an! Stolzierst halbnackt vor deinem Vater herum – und öffentlich auf der Bühne. In Irland tanzen nur Schlampen ohne Korsett auf der Bühne und zeigen allen ihre Beine.« Sie boxte noch einmal auf das Kissen ein und warf es dann aufs Sofa. »Und all dies Gewäsch von Visionen! In Irland haben nur verrückte Nonnen Visionen. Also, entscheide dich – bist du eine Nonne oder eine Hure? Oder am Ende Jeanne d’Arc?«
»Babbo versteht mich. Nur weil du keinen Funken Kreativität hast, kein Genie. Du bist nichts als ein Zimmermädchen. Ich weiß nicht, warum er dich überhaupt geheiratet hat!« Ich sprang vom Sofa auf und schleuderte das Kissen in ihre Richtung. Wie konnte sie nur so gehässig sein! Ich rieb mir mit den Fingerknöcheln die Augen, während mir die Tränen über die Wangen strömten.
»Oh, ich hätte auch Tänzerin werden können! Wenn man mich nicht geschlagen, aus der Schule genommen und arbeiten geschickt hätte, wo ich dann dreckige Laken wechseln durfte!« Sie beugte sich von neuem nach dem Kissen, aber als sie das machte, entfuhr ihr ein Schmerzensschrei.
»Mama? Alles in Ordnung mit dir?« Ich eilte auf sie zu. Sie hatte sich vorsichtig auf der Sofakante niedergelassen.
»Ja, ja, Lucia. Alles in Ordnung. Das ist noch ein Schmerz von der Operation.« Sie hielt ihren Bauch umklammert, und ich fragte mich, ob ich mich entschuldigen sollte. So hatte ich noch nie mit ihr geredet.
»Tut mir leid, Mama.« Ich schaute auf meine Hände, und da kamen mir all ihre Worte wieder in den Kopf. Schlampe. Hure. So dachte sie also über mich. Sie hasste mich. Mein Tanzen – das, was mir am meisten bedeutete – war für sie nichts als eine Quelle der Schande. Ich wartete darauf, dass sie sich entschuldigen würde. Gewiss sollte sich doch eine Mutter dafür entschuldigen, so etwas gesagt zu haben?
Stille senkte sich über den Raum. Und dann hievte sie sich vom Sofa hoch und schlurfte aus dem Zimmer, sagte, sie würde sich jetzt hinlegen.
Ich dachte daran, wie Becketts Finger mein Gesicht berührt hatten, versuchte, den Augenblick heraufzubeschwören, als sich unsre Blicke trafen, diesen Augenblick vollkommener Perfektion. Aber es war zu spät. Mama hatte alles ruiniert.
*
Ich wollte nicht, dass Mamas zornige Worte in mir schwärten, während ich übte, und bemühte mich, zu vergessen, was sie gesagt hatte. Wahrscheinlich litt sie nach ihrer Operation immer noch unter Schmerzen. Und als mir das nicht überzeugend genug schien, redete ich mir ein, dass der Verlust ihrer Gebärmutter für sie ein Trauma gewesen sein musste. Schließlich gestand ich mir ein, dass sie eifersüchtig war. Doch was ich auch versuchte, ihre Worte stießen mir immer wieder auf, störten den Rhythmus meines Tanzes, brachten die harmonische Abfolge meiner Bewegungen durcheinander. Mich plagten weniger ihre Anschuldigungen gegen mich als ihre Anspielungen auf die Dinge, die sie hatte tun müssen, um unsere Familie zusammenzuhalten. Was hatte sie damit gemeint?
Ich konnte sehen, dass sie immer noch wütend auf mich war, denn sie schniefte jedes Mal verächtlich, wenn ich die Sprache auf meinen Auftritt brachte. Und wenn ich Beckett erwähnte, schaute sie finster und wandte sich ab. Aber sie sagte nichts – und ich wusste, dass sie das nur tat, um Giorgio nicht zu beunruhigen. Die Atmosphäre im Square de Robiac knisterte vor Spannung wegen seines Auftritts im Studio Scientifique de la Voix, wo er bei dem berühmten Professor Cunelli Gesang studiert hatte.
Als der Abend von Giorgios Debüt endlich gekommen war, waren seine Nerven völlig zerrüttet. Mama und ich schlichen auf Zehenspitzen um ihn herum, während er vor dem Spiegel stand und seine Tonleitern sang.
Während er seine Stimme aufwärmte, machte Babbo, der sich nach ein paar Drinks immer noch für jenen professionellen Tenor hielt, der er nie geworden war, nur allzu deutlich, was er von Giorgios Vortrag hielt. Jedes Mal, wenn Giorgio einen falschen Ton sang, stieß er einen unnötig lauten Seufzer aus. War er in Giorgios Sichtfeld, so schüttelte er mit theatralischer Übertreibung den Kopf. Als ich darüber nachdachte, wurde mir klar, dass Babbo seinem Sohn zwar kaum jemals irgendetwas verboten hatte. Doch stattdessen seufzte er, setzte eine Grabesmiene auf oder machte mit sorgfältig gewählten Worten seine Wünsche auf Umwegen, aber kaum weniger kategorisch deutlich. Manchmal saß er in steinernem, missbilligendem Schweigen da, und selbst seine Wortlosigkeit sprach Bände. Mit meinem Tanzen war es ganz anders. Wenn er mich beobachtete, strich er sich über seinen kleinen Bart oder spielte mit den Enden seines Schnurrbarts und tappte mit dem Fuß, manchmal summte er auch und klatschte den Rhythmus mit oder kritzelte ein paar Worte in sein Notizbuch.
Und jetzt wurde Giorgio jedes Mal, wenn Babbo seufzte, ganz steif. Was seine Stimme knarzen ließ wie einen alten Schaukelstuhl. Schließlich kam Mama herein und wies Babbo an, er solle sich ankleiden, seine geblümte Weste und das Jackett mit dem violetten Seidenfutter anziehen.
»Und du, Lucia, du kannst das neue Kleid tragen, das ich dir gekauft habe. Mr Beckett muss jeden Augenblick hier sein.« Mama nahm Babbo beim Arm und führte ihn aus dem Zimmer. Giorgio sackte sofort auf dem Sofa zusammen, wo er lang hingestreckt liegen blieb und sich ein Kissen aufs Gesicht drückte.
»Was ist, wenn meine Stimme nicht richtig anspricht? Wenn mein Hals eng wird? O Gott! Warum tue ich das?« Giorgio schob sich das Kissen vom Gesicht und schaute mich verzweifelt an. Dann schwang er seinen Körper herum, bis er aufrecht saß, fuhr sich mit den Händen durchs Haar, ehe ihm einfiel, dass Mama es bereits für die Aufführung mit Haaröl bearbeitet hatte. Er erschien mir so verletzlich und verängstigt, dass mich Mitleid erfasste. Er war wieder wie mein alter Giorgio, ehe er so besessen vom Geld wurde, besessen von Mrs Fleischman.
»Du wirst das gut machen.« Ich setzte mich neben ihn, nahm seine ölige Hand in meine und strich mit dem Daumen über die Murmeln seiner Fingerknöchel. Es wehte ein deutlicher Alkoholhauch in seinem Atem, was mich beunruhigte. Monsieur Borlin sagte uns immer wieder, wir sollten niemals vor einer Aufführung trinken, nicht den kleinsten Schluck, um unsere Nerven zu beruhigen. Doch dann dachte ich an Babbo, der immer wunderbar sang, nachdem er einige Flaschen Wein intus hatte.
»Nein, das werde ich nicht. Vater hat mir den letzten Nerv geraubt. Hilf mir, Lucia! Du hast schon so viel öfter auf der Bühne gestanden als ich.« Er schniefte und blinzelte, und einen schrecklichen Augenblick lang dachte ich, er würde zu weinen anfangen.
»Hol ganz tief Luft, ehe du auf die Bühne gehst, atme wieder aus, und stell dir vor, dass du mir allein vorsingst. Oder Mama.«
»Machst du das so?« Giorgios Stimme zitterte.
»Ja, so hat uns Monsieur Borlin beigebracht, unsere Nerven in den Griff zu bekommen. Er hat uns auch gesagt, wir sollten uns das Publikum nackt vorstellen.«
»Bäh!« Er schauderte.
»Das geht vielleicht einen Schritt zu weit. Also stell dir einfach Vater und Mutter nackt vor.«
Wir lachten, und einen kurzen Moment lang war es wieder wie früher, als wir die besten und engsten Freunde waren. Ehe Mrs Fleischman und all das andere eine Rolle spielten. Würde sie heute Abend anwesend sein?, fragte ich mich. Nein, sicher nicht. Sicher würde er es nicht riskieren, ausgerechnet heute Abend ihre Affäre ans Licht zu bringen? Nicht an seinem großen Abend. Oder vielleicht würde sie sich in die letzte Reihe schleichen und heimlich wieder verschwinden, ehe man auf sie aufmerksam geworden war. Der Gedanke an sie erinnerte mich wieder daran, dass Beckett kommen würde. Ich spürte einen köstlichen Schauder der Erregung über mein Rückgrat laufen.
»Die Wahrheit ist, dass ich nicht die Art von Sänger bin, die Babbo gern in mir sähe.« Giorgio entzog mir seine Hand und stand unbeholfen auf.
»Du wirst es schaffen«, wiederholte ich.
Er schüttelte den Kopf. »Du bist eine großartige Tänzerin, und ich bin ein zweitrangiger Sänger. Jeder Narr kann das sehen.« Er presste sich die Finger auf den Mund, als wolle er nicht mehr weiterreden. Und da roch ich wieder den Alkohol.
»Erinnere dich nur an meinen Ratschlag«, sagte ich. »Versprochen?«
*
Als wir alle auf den harten Holzstühlen in Professor Cunellis Studio saßen, war ich so überdreht, dass ich kaum stillhalten konnte. Ich versuchte, nur an die anspruchsvollen Schrittfolgen zu denken, die ich für das Finale meines Meerjungfrauentanzes choreographiert hatte, und ließ meine Füße unter dem Stuhl diese Sequenzen tanzen. Aber selbst das konnte mich nicht ablenken. Beckett spürte meine Zappeligkeit und drückte mir beruhigend den Unterarm.
»Keine Sorge, er hat eine wunderbare Stimme«, murmelte er.
»Herrgott noch mal, willst du wohl endlich stillsitzen, Lucia!«, zischte Mama. »Ich kann mich nicht konzentrieren, und dein Stuhl knarzt, wenn du so zappelst. Meine Güte, er singt doch nur. Mit deinem Getue lenkst du ihn noch ab.« Sie sah mich böse an, rückte dann ihren Hut zurecht und schaute im Saal herum, um zu überprüfen, wer alles da war. Ich folgte ihrem Blick und erwartete schon, Mrs Fleischman in ihrem Zobelmantel zu sehen. Aber keine Spur von ihr. Vielleicht hatte Giorgio sie gebeten, nicht zu kommen, entweder um seiner Nerven willen oder um bei einer stimmlichen Katastrophe vor ihr seine Würde zu wahren.
Bis Giorgio endlich auftrat, war ich beinahe außer mir vor Sorge, überzeugt, dass er sich hinter der Bühne in einen Rausch getrunken hatte. Als er die beiden Stücke von Händel ankündigte, die er singen würde, schoss meine Hand vor und packte Becketts Hand. Ich errötete, als ich bemerkte, was ich getan hatte, aber da war es schon zu spät, also drückte ich fest zu und betete, Giorgios Debüt würde fehlerfrei über die Bühne gehen. Meine Hand war feucht und verschwitzt, aber das war mir egal.
Giorgio räusperte sich, nickte dem Pianisten zu und setzte zum Singen an. Der erste Ton zitterte ein wenig, und er hörte auf. Der Pianist hörte auf. Meine Finger gruben sich in das weiche Kissen von Becketts Handfläche. Giorgio räusperte sich erneut. Er nickte dem Pianisten zu und machte den Mund auf. Aber anstatt zu singen, stieß er einen kleinen Jodler aus, dann einen keuchenden Husten. Babbo und Mama saßen beide da wie in Stein gemeißelt. Ich packte Becketts Hand noch fester und betete stumm für Giorgio. Professor Cunelli erschien mit einem Glas Wasser auf der Bühne. Giorgio trank es aus, reichte es dem Professor zurück und räusperte sich noch einmal. Er schaute ins Publikum, und zu meiner Überraschung sah ich eine Spur von einem Lächeln auf seinem Gesicht aufblitzen. Er schluckte, nickte dem Pianisten zu und begann von neuem. Und diesmal erklang nichts Schiefes, kein ärgerlicher Husten, nur wunderschöne tiefe Töne, einer nach dem anderen, erfüllten das Studio, bis die Luft pulsierte.
Als er geendet hatte und der Applaus abgeebbt war, zeigte mir Beckett seine Handfläche, die mit einer Linie roter Halbmonde gezeichnet war.
»Meine Fingernägel?«, fragte ich entsetzt.
Beckett lachte und nickte und zeigte dann auch Babbo seine Hand. Ich hörte das Wort »Stigmata«, während die beiden kicherten wie Schuljungen.
Erleichtert, dass Giorgios Auftritt ein Erfolg gewesen war, schob ich meinen Stuhl näher an den von Beckett heran. Er war zu sehr damit beschäftigt, mit Babbo zu kichern, als dass er es bemerkt hätte, also saß ich still da und genoss die Wärme seines Oberschenkels an meinem, die Härte seiner Muskeln. Seine körperliche Nähe hatte etwas Beruhigendes, Tröstendes. Seltsamerweise schwebten mir die Worte von Kittens Vater durch den Kopf. Nur verheiratete Frauen sind wirklich frei. Und ich überlegte, ob er damit wohl das meinte … dass die Liebe einem ein Gerüst für das Leben schenkt. Hätte Babbo ohne Mama seine Meisterwerke geschrieben? Aber wenn Kittens Vater das gemeint hatte, warum hatte er dann nicht gesagt: »Nur verheiratete Menschen sind wirklich frei«?
Giorgios Ankunft beendete all meine Grübeleien. Nach viel Schulterklopfen von Babbo und Umarmungen von Mama fragte sie ihn, warum er ins Publikum gelächelt hatte, nachdem er das Glas Wasser getrunken hatte.
»Lucia hat mir gesagt, ich solle mir das Publikum nackt vorstellen.« Er grinste, während er nach seinen Zigaretten angelte. »Also habe ich das gemacht. Und wenn einen das nicht in Schwung bringt, dann hilft sonst auch nichts.«
»Wo essen wir heute Abend, Jim?«, fragte Mama und trat vor uns aus Professor Cunellis Studio auf den Boulevard.
»Bei Fouquet’s.« Babbo drehte sich um und erhob seinen Stock in Richtung der Champs-Élysées, ließ ihn dann durch die Luft zischen wie ein Samuraischwert. »Um Giorgios Oration zu feiern.«
»Wie wäre es mit Peroration, Mr Joyce?«, schlug Beckett vor.
»Ich glaube, Rezitation wäre technisch gesehen präziser.« Babbo wandte sich Beckett zu und packte ihn mit Klauenfingern an der Schulter. »Beckett, Sie verstehen mich so vollkommen, dass ich mich schon frage, ob hier eine finstere Hexenkunst am Werk ist.«
»Welche Kunst sollte das sein, Sir?«, fragte Beckett mit gespielter Neugier.
»Hat elle gesündigt, vielleicht?« Und Babbo kicherte mit so ungezügeltem Vergnügen, dass ich unwillkürlich leise lachen musste, obwohl ich keine Ahnung hatte, wovon die beiden redeten.
»Herrgott noch mal, wollt ihr beiden nie mit dem Unsinn aufhören?« Mama hakte sich bei Babbo ein und lächelte, obwohl sie die Augen zum Himmel drehte.
Neben uns spiegelten sich die Lichter der Lastkähne und Fischerboote im schwarzen Wasser der Seine, bewegten und kräuselten sich in der Abendbrise. Blasse Nebelschleier hingen über dem Fluss, und am jenseitigen Ufer stand ein Entenpaar, die Köpfe verdreht und unter die fedrigen Flügel gesteckt. Ich dachte an meinen Meerjungfrauentanz, überlegte, wie ich mit meinem Schwanz peitschen und schlagen wollte. Vielleicht war das eine viel zu kraftvolle Bewegung. Vielleicht sollte ich mich eher wie der Nebel bewegen. Schweben und gleiten.
»Ein hypnotisierender Anblick, nicht wahr?« Beckett stand an meiner Schulter und folgte meinem Blick.
Ja, dachte ich. Genau so soll mein Tanz sein. Hypnotisierend.
*
Kitten kam ins Tanzstudio gerannt, lachte und keuchte und wedelte mir mit einem Stück Papier vor der Nase herum. Es waren nur noch wenige Tage bis zum Bal-Bullier-Wettbewerb, und ich probte Tag und Nacht.
»Es ist die endgültige Liste der Juroren, Lucia!«
Ich blieb stumm und wie angewurzelt stehen, wo ich war.
»Charles de Saint-Cyr und Émile Vuillermoz!«
Beide waren außerordentlich hochgeschätzte Tanzkritiker, und mir lief ein Schauder der Erregung durch den Körper.
»Aber warte, was noch kommt.« Kitten legte eine dramatische Pause ein und rasselte dann die Namen einiger der berühmtesten Künstler von Paris herunter. »Uday Shankar, Marie Kummer, Djennil Annik, der Musiker Tristan Klingsor. Und nun noch ein Name.« Sie stand wie eine Statue da, die Augen weit aufgerissen.
»Wer?«
»Madika! Die letzte Jurorin ist Madika!«
Mir wurden die Knie weich, als wären meine Beine zu schlaffen Stoffbändern geworden. Ich ließ mich auf den Boden sinken. Mein Herz stotterte – vor Nervosität und Vorfreude und Angst. »Madika«, wiederholte ich flüsternd. Ich konnte sie vor mir sehen, wie sie von der Wand meines Schlafzimmers zu mir herüberschaute. Flankiert von Anna Pawlowa auf der einen und Isadora Duncan auf der anderen Seite. »Sie ist alles, was ich sein möchte. Ich kann nicht glauben, dass sie meinen Auftritt ansehen wird. Du weißt doch, dass sie eine Ausbildung zur klassischen Ballerina gemacht und dann alles aufgegeben hat, um sich zur Tänzerin im Modern Dance umzuschulen?«
»Ja, ja – ich weiß alles über Madika«, antwortete Kitten ungeduldig. »Das ist deine große Chance, Lucia!«
Ich schüttelte besorgt den Kopf. »Ich bin nicht gut genug, Kitten. Was ist, wenn ich es nicht schaffe? Was ist, wenn sie meinen Tanz nicht leiden kann? Oder mein Kostüm? Oder alles?«
»Das wird nicht passieren, Süße.« Kitten drückte mir die Hand. »Du bist die Beste. Tanze einfach für Madika. Vergiss das Publikum, vergiss alles, tanze einfach nur für sie.«
»Sam kommt und jede Menge von Babbos Freunden. Und Stella Steyn. Ich will sie alle nicht enttäuschen.« Wellen der Angst fluteten über mich hinweg. »O Kitten, ich hatte ja keine Ahnung, dass die Juroren so gefeierte Künstler sein würden.« Ich vergrub das Gesicht in den Händen, plötzlich von Furcht überwältigt.
Kitten kniete sich neben mich und legte mir den Arm um die Schultern. »Du bist eine der besten Amateurtänzerinnen von Paris. Du schaffst das. Erinnerst du dich daran, was die Zeitungen über dich geschrieben haben? Erinnerst du dich, was du deinem Vater letztes Jahr gesagt hast? Dass du ihm gesagt hast, dein Name würde vor seinem in den Schlagzeilen der Zeitungen auftauchen? Nun, das liegt daran, dass du eine großartige Tänzerin und eine ebenso begabte Choreographin bist. Würde es dir helfen, wenn ich deinen ›geheimen‹ Tanz einmal anschaue? Es muss niemand davon erfahren. Welche Musik hast du gewählt?«
»Na gut. Ich werde mich besser fühlen, sobald ich tanze. Die Musik ist da drüben.«
Während Kitten zum Grammophon ging, kauerte ich mich auf den Boden, schloss die Augen und nahm meine verschlungene Anfangsposition ein. Vier lange tiefe Atemzüge. Der Sauerstoff strömte wie Meerwasser durch meinen Körper. Gliedmaßen und Atem wurden eins. Wasser umspülte mich, flutete rings um mich auf. Bei den ersten Takten von »Feu Follet« von Erik Satie war ich sogleich die quecksilbrige Königin der wässrigen Unterwelt, das Geistwesen der Meere, die Kaiserin der salzgrünen See.
Fünf Minuten später klatschte Kitten laut in die Hände und rief: »Encore! Zugabe!«
*
Das Bal Bullier war wie eine Höhle mit einer hohen Decke. Heiße, helle Lichter warfen ihre Strahlen direkt auf meinen glitzernden Körper, während ich zusammengekrümmt auf dem Bühnenboden lag und lauschte, wie hinter dem schweren Samtvorhang die Menschen im Publikum redeten und lachten. Ich hatte bereits zwei Auftritte hinter mir. Und jedes Mal wurde ich als eine der Gewinnerinnen angekündigt. Als ich meinen Preis entgegennahm und mich vor der Menge verbeugte, hörte ich Babbos Freudenschreie über den ganzen Saal hinweg und sah, dass Monsieur Borlin aus der Loge, in der er mit seinem Geliebten, Monsieur de Maré, saß, mit seinen weißen Handschuhen winkte. Aber ich hatte nicht das übliche Leuchten des Erfolgs empfunden, weil ich wusste, dass der schwierigste Wettbewerb mir noch bevorstand.
Jetzt waren also nur noch sechs von uns übrig, die in der letzten und anspruchsvollsten Runde gegeneinander antreten sollten. Dies war der Tanz, den ich Stunde um Stunde geprobt hatte. Mein Meerjungfrauentanz. Bisher hatten ihn nur Kitten und Monsieur Borlin gesehen. Kitten hatte mich natürlich überschwänglich gelobt. Aber Monsieur Borlin hatte an der Kante seines Fächers geknabbert und gesagt: »Sehr ehrgeizig, Miss Joyce. Wirklich, sehr gewagt und sehr mutig.« Nach diesen Worten überlegte ich, ob ich mir vielleicht zu viel vorgenommen hatte.
Als ich nun da lag, stellte ich mir vor, ich wäre eine Meerjungfrau. Ich sah, wie mein Schwanz hinter mir hin und her peitschte, spürte sein fleischiges Gewicht in den Wellen. Ich stellte mir vor, der Ozean nagte und schlürfte an meinen Schuppen, das Salz sammelte sich in meinem körnigen Haar, die Muscheln zerbarsten und knackten unter meinen Händen. Und ich atmete so langsam und stetig, wie ich nur konnte. Ich sperrte alle Gedanken an das Publikum, an die Juroren, an meine Mitbewerber aus. Ich war nicht mehr Lucia, die Tochter, die Schwester, die Botin. Ich war eine Meerjungfrau, die aus der windgepeitschten See emporgewachsen war.
Das Orchester hob an, und der Vorgang öffnete sich leise raschelnd. Langsam entfaltete ich mich, ehe ich in eine Reihe von Sprüngen explodierte, den Kopf in den Nacken geworfen, die Arme die Luft durchschneidend.
Die Bühnenlichter blendeten so sehr, dass ich, als ich ins Publikum schaute, nichts als Dunkelheit sah. Ein schwarzer Ozean wartete auf mich. Die Musik schwoll an, füllte den Saal, während ich über die Bühne wirbelte, das Kinn in die Höhe gereckt, den Rücken gebeugt, die Finger weit gespreizt. Ich war ein fliegender Fisch, der abtauchte und wieder aufstieg, ehe ich mich aufbäumte, Bogen schlug und durch die Luft wirbelte. Ich war eine Meerjungfrau, die sich aus dem Wasser erhob und wieder hineinstürzte. Ich war halb Meeresvogel und halb Aal, meine Arme flatterten und schlugen Wellen, mein Kopf war gesenkt, während ich über die Bühne sprang.
Als die Musik ihr donnerndes Finale erreichte, sackte ich auf dem Boden zusammen und beendete den Auftritt, wie ich ihn angefangen hatte, plötzlich angespannt und ängstlich. Hatte es dem Publikum gefallen? Würden die Juroren die Athletik meines Tanzes zu schätzen wissen? Die komplexen Schrittfolgen? Die komplizierten, ständig sich ändernden Rhythmen? Ich wartete auf den Schlussakkord, und als der verklang, brach im Saal das Geräusch von klatschenden Händen und trampelnden Füßen los, und meine Sorgen lösten sich in nichts auf. Ich lag auf der Bühne, das Herz pochte mir in den Ohren, und ich wartete, dass der Applaus aufhören würde. Das tat er jedoch nicht. Ganze zwei Minuten lang (Babbo überprüfte es auf seiner Taschenuhr) applaudierte und schrie das Publikum und trampelte mit den Schuhsohlen auf die Bodendielen. Die Flossen aus Taubenfedern schnitten mir in die Haut, aber ich spürte es kaum, so mächtig war die Welle der Euphorie, die mich erfasste. Als Kitten aus den Kulissen nach mir rief, stolperte ich über die Bühne und fiel ihr in die Arme.
»Süße – du hast sie alle elektrisiert!«, rief sie. »Elektrisiert!«
*
Hinter der Bühne war die Luft in der stickigen Garderobe spannungsgeladen. Sechs von uns hatten es bis in die Finalrunde geschafft: eine Norwegerin, eine Griechin, drei französische Tänzerinnen und ich. Wir lächelten einander zögerlich an und nestelten an unseren Kostümen herum, an unserem Haar und an irgendwelchen Gegenständen auf den kleinen Schminktischen. Die norwegische Tänzerin dehnte demonstrativ ihre Muskeln, während die junge Griechin am Ende ihres Zopfes saugte. Niemand sprach. Wir konnten hören, wie die Zuschauer den Juroren zuriefen, sie sollten sich beeilen. Die Rufe und das Trampeln wurden lauter. Nun saugte die Griechin nicht mehr an ihrem Zopf, sondern nagte daran. Ich bot ihr ein Karamellbonbon aus meiner Tasche an, aber sie deutete nur auf ihren Magen und winkte ab. Die Orchestermusiker begannen ihre Instrumente zu stimmen, als bereiteten sie sich auf das nächste Konzert vor. Wir beäugten einander nervös. Was ging hier vor? Warum brauchten die Juroren so lange?
Schließlich hörten wir die Klänge eines Beethoven-Stücks. Das Publikum beruhigte sich, und wir tappten ungeduldig mit den Füßen und wünschten, die Juroren würden schnell machen. Je länger wir warteten, desto mehr wollte ich gewinnen. Noch nie war ich vom Ehrgeiz so verzehrt gewesen, und meine unverhohlene Sehnsucht verblüffte und verstörte mich. Mehr als alles andere verlangte es mich nach einem Wort des Lobes von Madika. Aber ich wollte noch etwas. Was war es? Anerkennung? Bestätigung? Und in dieser nervenzerrüttenden Sekunde kam mir die Erleuchtung. Ich wollte gewinnen, damit ich ewig weitertanzen konnte. Damit Babbo nie wieder die Buchbinderei erwähnte. Damit Beckett wusste, dass mein Platz auf der Bühne war. Damit Mama mich nie wieder eine Schlampe oder Hure nennen würde.
Eine Trompetenfanfare durchschnitt die Luft. Wir fuhren uns mit den Fingern durchs Haar, wischten uns den Schweiß vom Gesicht und strichen unsere Kostüme glatt. Die Griechin hielt sich die Ohren zu und sagte, sie könne die Garderobe auf keinen Fall verlassen. Ich nahm sie bei der Hand und führte sie in die Kulisse, wo wir warten sollten, während die Juroren ihre Entscheidung verkündeten.
Sie saßen in einer nichts Gutes verheißenden Reihe am Ende der Bühne. Ich konnte gerade eben Madika mit ihrem hoch auf dem Kopf aufgetürmten Haar und den großen goldenen Reifen in den Ohren ausmachen. Allein die Neigung ihres Halses war voller Anmut.
Der Vorsitzende der Jury stand auf. Das Publikum war so still, dass ich hören konnte, wie die Griechin wieder an ihrem Zopf saugte. Er schob ein paar Blätter Papier hin und her, hüstelte wichtigtuerisch und begann mit seiner Bekanntmachung. Mein Körper wappnete sich, als müsste ich gleich über sehr dünnes Eis laufen.
»Eine unmögliche Entscheidung, Messieurs et Mesdames. Aber wir sind zu einem Ergebnis gekommen.« Er legte eine Pause ein und schaute über das Publikum hinweg. »An dritter Stelle Agata Giannoulis aus Athen.«
Mein Herz machte einen Sprung. Würde ich Erste werden? Ich hatte längeren Applaus gehabt als Agata. Ich hatte längeren Applaus als alle anderen gehabt. Ich zog ihr den Zopf aus dem Mund und umarmte sie, während das Publikum verhalten klatschte.
»An zweiter Stelle …« Er hielt inne und schaute auf seine Papiere hinunter, als hätte er vergessen, welchen Namen er verkünden musste. Ich merkte, wie mir leise die Luft aus den Lungen wich. Die Menschen unten wurden wieder unruhig, und einige hatten angefangen, ihre Programmhefte in Richtung der Juroren zu schwenken.
»An zweiter Stelle«, wiederholte er, »ist Lucia Joyce aus Paris.«
Das Herz wurde mir schwer. Zweiter Platz, das bedeutete, kein Lob von Madika. Zweiter Platz, das bedeutete, dass ich nicht gut genug war. Es bedeutete, dass ich Monsieur Borlin enttäuscht hatte. Und Babbo. Und was war mit Beckett? Ich spürte, wie mich die Enttäuschung zermalmte. Mein Tanzmeister hatte recht gehabt. Meine Choreographie war zu ehrgeizig, zu kühn für jemanden, der so uninspiriert war wie ich. Agata sprang auf und ab und versuchte, mir die Arme um den Nacken zu legen. Ich hörte, wie der Juror den Namen der Gewinnerin verkündete, bekam ihn aber nicht mit. Eine der Französinnen sprang auf die Bühne, und ihr üppiges Haar peitschte mir in die Augen, als sie an mir vorüberflitzte.
Während sie knickste, verkündete der Juror ihren Namen noch einmal: Mademoiselle Janine Solane. Ich wartete, dass der Applaus aufbranden würde, dass man Blumen und Programmhefte auf die Bühne werfen würde. Nichts geschah. Janine wollte gerade zum zweiten Knicks ansetzen, als etwas sie innehalten ließ. Sie wandte sich verwirrt den Juroren zu. Ich spitzte die Ohren … Ich konnte meinen Namen hören. Wer rief da nach mir? Verwirrt wandte ich mich zu Agata um. Sie lächelte und deutete auf den Zuschauerraum. Ich verrenkte mir den Hals, um in die Dunkelheit hinauszuschauen. Die Menschenmenge war aufgesprungen, die Leute schrien, von allen Seiten hagelte es Zwischenrufe. Sie riefen meinen Namen. Was sonst schrien sie? Ich versuchte, die Worte zu erfassen. Und dann verstand ich sie: »Lucia! L’Irlandaise! Justice, Messieurs!«
Agata schob mich auf die Bühne. Ehe ich wusste, wie mir geschah, stand ich wieder unter den grellen Lichtern, verdutzt – und wie berauscht. Janine hatte sich auf der anderen Seite in die Kulissen zurückgezogen, und die Juroren standen hinter ihrem langen Tisch, zuckten die Achseln und gestikulierten.
Mein Meerjungfrauenschwanz hinderte mich an einem Knicks, also verneigte ich mich tief. Tulpenblüten und Narzissen regneten auf mich hernieder. Und im Publikum sah ich Babbo seinen Stock schwenken, und Monsieur Borlin lehnte sich gefährlich weit über die Kante seiner Loge und warf mir Handküsse zu. Und ich wünschte, dieser Augenblick möge ewig andauern.
Erst später las ich meine Beurteilung durch den vorsitzenden Juror in der Presse: »Die einzige Teilnehmerin, die das Zeug zu einer professionellen Tänzerin hat … subtil und barbarisch zugleich … eine bemerkenswerte Künstlerin.«
*
In der Garderobe war es heiß und stickig. Kostüme lagen zerknittert am Boden, Schals und Perücken waren unachtsam über Stuhllehnen geworfen. Jetzt, da wir uns umzogen, wurde der Geruch nach Schweiß und Fettcreme und ledernen Tanzschuhen und ungewaschenen Füßen immer stärker. Die Tänzerinnen schrubbten sich Make-up aus dem Gesicht, bürsteten ihr Haar aus, suchten nach Kleidungsstücken, als sich plötzlich Stille herabsenkte. Ich schaute auf und sah, wie sich Madika einen Weg durch die achtlos abgelegten Kostüme bahnte, die überall verstreut waren. Alle Augen ruhten auf ihr, als sie geradewegs an Janine Solane, der Siegerin des Internationalen Tanzfestivals, vorüberging und an meinem Schminktisch stehen blieb. Sie war ganz in Schwarz gekleidet, bis auf mehrere lange Perlenschnüre, die zusammengefasst waren und in einer Quaste aus Hunderten von winzigen Saatperlen ausliefen, die an ihrer Taille hing.
»Ein echter Triumph, Miss Joyce. Sie hätten natürlich gewinnen müssen. Das Publikum hat das vollkommen zu Recht deutlich gemacht.« Sie sprach mit starkem Akzent Englisch, machte jedoch keine Anstalten, ihre Stimme zu senken. »Im Augenblick ist der negroide Tanz die Mode, und wir alle müssen zugeben, dass wir Opfer der Mode sind, nicht?«
»D-danke«, stammelte ich, überwältigt von der Anwesenheit meines Idols, meiner Heldin.
»Vielleicht ein wenig zu akrobatisch. Ansonsten technisch einwandfrei. Sie sind vielleicht genau wie ich dem klassischen Ballett entflohen?« Ihre dunklen Augen betrachteten mich abschätzend, musterten meine Füße, dann meine Beine, Arme und Brust.
»Nein, Madame. Ich habe im Jaques-Dalcroze-Institut mit dem Tanzen angefangen und dann bei Raymond Duncan trainiert.« Meine Stimme verebbte, als ich sah, wie das Licht in Madikas Augen matt wurde.
»Bei dem«, sagte sie verächtlich. »Seine Schwester Isadora, die war natürlich das eigentliche Genie. Er hat wohl einiges für den rhythmischen Tanz getan. Wo haben Sie sonst noch getanzt?«
»Ich trainiere jetzt bei Monsieur Borlin und Elizabeth Duncan, Madame. Und ich habe einige Workshops bei Margaret Morris gemacht.« Ich überlegte, ob ich ihr von meiner Tanztruppe erzählen sollte, aber Madika begann wieder zu reden.
»Sie sind ein Naturtalent. Vielleicht ein Genie. Sie müssen unbedingt nächstes Jahr wieder beim Tanzfestival teilnehmen.« Sie zögerte, nestelte an ihren Perlen. »Ich werde Sie ausbilden. Zugegeben, ich bin überrascht, dass Sie keine klassische Ballettausbildung haben. Die gilt allgemein als gute Grundlage. Geben Sie mir Ihren linken Fuß.« Zu meiner Überraschung kniete sie sich hin, verdrehte meinen Fuß und schaute sich das Gewölbe an.
Dann stand sie auf und nickte energisch. »Manchmal vergessen wir Modernisten, was wir dem klassischen Ballett schulden. Ich selbst fliehe die Tradition, aber ich kann nicht leugnen, dass sie großen Nutzen hat, weil sie eine gute körperliche Grundlage bildet. Machen Sie sich keine Sorgen. Wenn Sie sich bei mir ausbilden lassen, gewinnen Sie nächstes Jahr den Wettbewerb. Melden Sie sich.« Sie gab mir eine Karte in die Hand und war fort, ließ mich mit offenem Mund da stehen.
*
Babbo war außer sich vor Aufregung – und Wut. Er führte uns zur Feier des Tages zum Abendessen in die Closerie des Lilas, gegenüber vom Bal Bullier. Mama war nicht gekommen. Eine Stunde vor meinem Auftritt hatte sie über Bauchschmerzen geklagt und sich ins Bett zurückgezogen. Babbo sagte, sie »muss sich nach ihrer jüngsten Nervenkrise erst wieder erholen«. Er bezog sich natürlich auf Giorgios Debüt, das im Square de Robiac zu einem Übermaß an nervlicher Anspannung geführt und Mama völlig ausgelaugt hatte. Zunächst hatte mich ihr Fernbleiben verletzt, später hatte ich mich jedoch gefragt, ob Mamas Abwesenheit – das Fehlen ihrer vorwurfsvollen Augen im Publikum – meinem Tanz nicht sogar gutgetan hatte.
Da saßen wir also, acht Personen um einen Tisch, der voller Platten mit Austernschalen und sauber abgenagten Hühnerknochen war. Wir tranken ein Glas Champagner nach dem anderen, während Babbo über die Entscheidung der Jury schimpfte und immer wieder die Zwischenrufe des Publikums zitierte. Jedes Mal, wenn er: »Nous réclamons l’Irlandaise!« sagte, wir wollen die Irin, lachte er leise vor sich hin. Weil Mama nicht da war und kein waches Auge auf die Flaschen hielt, trank Babbo rasch und kippte den Champagner wie Wasser herunter.
Madikas Worte waren mir von der Garderobe in das Restaurant gefolgt, wo ich sie Beckett wiederholte. Genau wie Babbo saß er mit stolz geschwellter Brust da und freute sich für mich. Aber etwas an dem, was Madika gesagt hatte, irritierte mich. Ihre blitzschnelle Überprüfung meines Fußes hatte mich verstört. So hinterließen ihre schmeichelhaften Worte einen leicht säuerlichen Nachgeschmack, und das warf einen kleinen Schatten auf meinen triumphalen Abend.
»Sie hätten gewinnen müssen«, sagte Beckett zum zehnten Mal. »Sie waren großartig. Alle fanden das.«
»Danke, Sam.« Ich merkte, wie mein Gesicht strahlte und mir schon allmählich vom vielen Lächeln der Kiefer schmerzte.
»Sie waren außergewöhnlich. Also, werden Sie sich von der Verrückten ausbilden lassen?«
»Sie heißt Madika. Und sie ist mein Idol.« Ich hieb spielerisch nach Becketts Unterarm. »Natürlich lasse ich mich von ihr ausbilden. Sie ist eine phantastische Tänzerin.«
»Müssen Sie dazu Paris verlassen?« Das Lächeln verging mir. Mir war nicht in den Kopf gekommen, dass ich vielleicht fortmusste, um bei Madika zu trainieren. Wie konnte ich jetzt von Paris fortgehen? Wie konnte ich von Beckett fort?
»Na ja, ich meine, sie ist Ungarin, oder nicht?« Beckett griff nach seinem Champagnerglas, und dabei streifte seine Hand die meine. Wie ein Blitz fuhr es durch meinen Körper, und unwillkürlich zuckte ich zurück, als hätte mich etwas gestochen. Beckett warf mir einen schrägen Blick zu, und ich fragte mich, wie viel Champagner er getrunken hatte. So gesprächig war er sonst nicht.
»Ja, sie ist Ungarin, aber sie arbeitet hier. Paris ist das Zentrum der Welt des Tanzes. Hier wird eine ganz neue Philosophie der Bewegung, des Rhythmus geschmiedet. Und ich möchte ein Teil davon sein.« Die Worte sprudelten nur so aus mir heraus, klangen genauso wie die von Babbos begeisterten Anhängern mit all ihrer Leidenschaft und Glut. »Nicht wahr?«, rief ich Kitten zu, die am anderen Ende des Tisches ins Gespräch mit Stella vertieft war.
»Wir irischen Mädels schaffen alles«, rief Stella und wedelte mit ihrer Federboa über dem Kopf herum.
»Vive l’Irlandaise!« Kitten zwinkerte mir zu und erhob das Glas.
»La plus belle Irlandaise.« Die schönste Irin. Beckett schaute mich über den Rand seines Glases hinweg an. Ich rückte näher zu ihm hin, war mir seines Beins an meinem bewusst, seiner Hüfte an meiner, seines Arms an meinem. Er hatte an diesem Abend außer mit Babbo und mir mit kaum jemandem gesprochen. Sein Blick war den ganzen Abend über kaum von mir gewichen. Aber dann zupfte mich Babbo am Ärmel und deutete auf seine Uhr. »Deine Mutter – die verehrenswerte … und gebieterische … Mrs Joyce – ist allein zu Hause und wartet auf uns«, sagte er, und seine Stimme war schwer vom Alkohol. Er stand auf und schob seinen Stuhl zurück, und Beckett tat es ihm nach.
»Sie hätte mitkommen sollen«, sagte ich gereizt.
»Sie ist noch nicht vollständig genesen«, tadelte mich Babbo und rülpste leise. Ich wollte nicht ärgerlich oder bitter sein. Es war mein Abend, also wandte ich mich an Beckett, und wir schauten einander in die Augen.
Während Babbo sich auf den Weg zur Bar machte und den Kellnern wahllos Münzen in die Hand drückte, griff Beckett nach meiner Hand. Schwindlig vor Champagner, taumelte ich ihm entgegen. Wir stießen an Stühle und Tischecken, Kellner und Gäste drückten sich an uns vorbei. Ich hörte, wie Leute nach mehr Wein schrien, lautstark ihre Rechnung forderten, einander Abschiedsgrüße zuriefen, hörte, wie Stühle und Tische scharrten und klirrend leere Flaschen fortgeräumt wurden – und aus weiter Ferne die klagenden Töne eines Akkordeons.
Beckett nahm mein Gesicht zwischen seine Hände und näherte sich meinem Mund mit dem seinen. Aber blitzschnell hatte er sich auch schon wieder zurückgezogen und hustete und zwinkerte und gestikulierte.
»Ja, Babbo wartet«, stimmte ich ihm besänftigend zu. »Aber er wird nichts mitbekommen. Er redet mit den Kellnern und ist ohnehin halbblind.« Ich streckte den Arm nach Beckett aus und wollte ihn gerade wieder zu mir herziehen, als seine Worte durch den Lärm ringsum zu mir durchdrangen.
»Hinter Ihnen«, krächzte er und deutete über meine Schulter. »Der Herr da – er möchte Sie sprechen.«
Ich drehte mich zu dem Tisch, wo Babbos Gäste immer noch tranken und lachten. Und da stand Émile Fernandez und beobachtete mich.
»Verzeih mir, Lucia, ich wollte dir nur gratulieren.« Émile fuhr sich mit der Zunge rasch über die Oberlippe. »Ich habe noch nie so erlesenen Tanz gesehen.« Er zog den Hut vor mir und wandte sich abrupt zur Tür. Ich schaute ihm nach, wie er sich zwischen den vielen Tischen hindurchschlängelte, an Babbo vorbeidrückte und dann in der Nacht verschwand.
»Es tut mir leid«, sagte Beckett und blickte verlegen auf seine Schuhe. »Wollten Sie mit ihm allein sein?«
»Es ist nur ein alter Freund.« Ich nahm meine Handschuhe vom Tisch und zog sie über. Mein Hochgefühl war nun von Gewissensbissen getrübt. Der arme Émile! Wie traurig er ausgesehen hatte. Ich überlegte, ob ich Beckett wieder an mich ziehen oder vielleicht an seine Brust sinken sollte. Aber dieser Augenblick war vorüber. Babbo wedelte von der Tür her mit seinem Spazierstock, und Émiles betrübtes Gesicht tauchte wieder vor meinem inneren Auge auf.
Als wir zur Tür kamen, berührte mich Beckett sanft am Arm und sagte: »Ich freue mich auf unsere Tanzstunden. Gute Nacht, tanzende Meerjungfrau.« Und wieder war ich verloren, völlig verloren.
*
Am nächsten Morgen erwachte ich spät, und mein Kopf war benommen vom Champagner des Vorabends. Sofort tönten mir wieder der Applaus und die Rufe der Zuschauermenge in den Ohren, und ich lächelte und räkelte mich genussvoll unter der Bettdecke. Ich erinnerte mich an mein Gespräch mit Beckett beim Abendessen, daran, wie sich seine Hand auf meiner angefühlt hatte, an seinen Versuch, mich zu küssen, und den Abschied von ihm – der liebevoll und vertraut gewesen war. Ich erinnerte mich an Madikas Worte, ihren Vorschlag, mich auf das nächste Internationale Tanzfestival vorzubereiten. Und dann erinnerte ich mich an ihre Frage nach meiner klassischen Ballettausbildung, und es war, als wäre eine kleine dunkle Wolke an einem strahlenden Sommerhimmel aufgetaucht.
Wenige Minuten später hatte sich die Wolke verzogen, und meine Zukunft lag auf einmal klar und deutlich vor mir. Natürlich! Warum hatte ich das nicht begriffen? Hatte sie nicht gesagt, dass es wäre, als baue man auf unsicherem Fundament? Na ja, vielleicht nicht ganz. Aber das hatte sie damit ganz sicher andeuten wollen. Das Fundament war nicht gelegt. Und ohne dieses Fundament wäre ich nichts. Ich wäre wenig mehr als ein wurzelloser Baum im Wind.
Und sobald das Bild eines wurzellosen Baums vor meinem inneren Auge erschien, blitzte auch ein Traum der letzten Zeit wieder vor mir auf. Ein Kastanienbaum unter einem unruhigen Himmel. Die Äste peitschen schwer durch die Luft. Die knorrigen Wurzeln hatten sich über einem Grab ohne Namen ausgebreitet. Ich klammerte mich an diese Erinnerung. War dies ein Omen? Ein Zeichen, dass ich tiefere Wurzeln brauchte? Ich hatte den Traum damals abgetan. Es war nur ein winziger Splitter von einem Bild gewesen, so flüchtig und unverständlich und ohne die Lebendigkeit und strahlenden Farben, die ich sonst mit meinen hellseherischen Träumen in Verbindung brachte. Aber nun wurde mir klar, dass dieser Traumfetzen mir etwas sagen wollte. Dass ich ohne tief im Boden verankerte Wurzeln sterben könnte? War es das? War dieses gespenstische Bild ein Zeichen, dass ich Schaden nehmen könnte, wenn meine Kunst nicht im klassischen Ballett verankert war?
Ich sprang aus dem Bett, warf meine Tanztunika über, fuhr mir mit der Bürste durchs Haar und rannte durch die Wohnung, die fünf Treppen hinunter, auf den Square de Robiac hinaus und die Rue de Grenelle entlang. Vorüber an den Concierges, die auf Knien die Hauseingänge schrubbten, vorüber an Metzgern und Bäckern, die ihre Markisen ausfuhren, vorüber an dem fetten Fischverkäufer, der glitschige Aale aus Holzkisten wuchtete, vorüber an den Kellnern mit ihren weißen Schürzen, die Stühle auf den Gehsteig stellten, vorüber an dem muffigen Laden, in dem ich meine ersten Tanzschuhe gekauft hatte, rannte ich den ganzen Weg bis zur Seine. Radfahrer klingelten warnend, Hupen ertönten, Autos wichen mir aus, ein Gendarm im Cape trillerte mit der Pfeife, Taubenschwärme stoben auf. Doch ich rannte weiter. Am Ufer der Seine entlang, vorüber an den Buchverkäufern, die ihre Stände aufbauten, vorüber an den Blumenkarren, wo die Luft schwer vom Duft der Hyazinthen war, vorüber an den Vögeln in Käfigen, wo die eingesperrten Papageien mit den Flügeln schlugen und kreischten.
Ich rannte, bis ich zur Rue de Sèvres kam, wo ich stehen blieb, um mein Kleid glattzustreichen und mir den Schweiß vom Gesicht zu wischen. Ich wusste, wo ihre Tanzakademie war, und obwohl es noch zu früh für den Unterricht war, hatte ich doch genug über Madame Jegorowa gehört, um zu vermuten, dass sie dort sein würde, sich auf ihre Schüler vorbereitete, das Studio aufräumte, mit dem Taschentuch hier und da die Spiegel wischte. Ich drückte die Tür auf, stieg mehrere Treppen hinauf, und dort ganz oben war ihr Studio. Das war es! Der beste Ort in ganz Frankreich, um sich zur Ballerina ausbilden zu lassen. Und da war sie, Madame Jegorowa, stand vor einem Spiegel und band ihr Haar in einem straffen Knoten zusammen.
*
»Du machst was?« Kitten konnte ihre Fassungslosigkeit kaum verhehlen.
»Ich lasse mich zur Ballerina ausbilden«, wiederholte ich und schob ihr eine Tasse Tee hin.
»Also gehst du nicht zu Madika?«
»Nein – erst muss ich die Grundlagen beherrschen. Und Madika hat mich überhaupt erst drauf aufmerksam gemacht.« Mir schien alles völlig klar, und ich konnte gar nicht verstehen, warum Kitten so begriffsstutzig war.
»Aber genau das tut Zelda Fitzgerald, und du musst doch gehört haben, was man über sie sagt. Meinst du nicht, du bist zu alt?« Kitten ließ ein Stück Würfelzucker in ihren Tee fallen und rührte um, während sie mich unter ihren Wimpern hervor anschaute.
»Natürlich bin ich nicht zu alt! Ich bin viel jünger als Mrs Fitzgerald. Madame Jegorowa hat bei den Ballets Russes und mit Diaghilew und Nijinsky getanzt – sie weiß, was sie tut.«
»Ja, das weiß ich auch.« Kittens Stimme war ein wenig scharf. »Sie weiß, was sie tut, aber weißt du es auch? Alle sagen, dass du ein Talent zum Tanzen hast, aber zum rhythmischen Tanz, zum Modern Dance. Das ist etwas ganz anderes.« Kitten verzog ihren Mund zu einem dünnen Strich und schüttelte den Kopf, als hätte ich den Verstand verloren.
Ich erklärte Kitten, dass ich wie ein wunderbares Gebäude ohne Fundament war. Und dann deutete ich aus dem Fenster und auf den Eiffelturm, als wolle ich mein Argument unterstreichen.
»Blödsinn!« Kitten warf den Kopf in den Nacken. »Weißt du, wie schrecklich schwer du bei ihr arbeiten musst? Hast du überhaupt eine Vorstellung davon, wie viele Stunden und Stunden sie dich trainieren lassen wird?«
Ich war ein wenig erstaunt von Kittens heftiger Reaktion. Sie rührte noch immer im Tee, kratzte mit dem Löffel am Boden im Kreis herum, als könne sie dort etwas finden, das ihre Worte bestätigen würde. »Was meinen deine Eltern dazu?«
»Oh, denen ist es egal. Die haben im Augenblick andere Sorgen. Babbo bringt nächstens ein Buch mit Essays heraus, und Mama plant irgendeine große Reise für ihn, und sonst bedient sie Giorgio von hinten und vorn. Ich glaube, sie sind froh, dass sie mich aus dem Weg haben. Jedenfalls ist es jetzt zu spät – ich habe Madika bereits gesagt, dass ich dieses Jahr nicht bei ihr trainieren werde. Und sie hält das für eine gute Idee. Sie hat mir angeboten, mich zu übernehmen, nachdem ich ein Jahr Ballett gemacht habe.«
»Hattest du wieder einen von deinen Kassandra-Augenblicken? Bist du deswegen so überzeugt, dass dies der richtige Weg für dich ist?«
»Nein«, antwortete ich und spielte mit meiner Halskette. Ich wollte mit Kitten nicht über meinen seltsamen Traum vom Baum und dem Grab sprechen, solange sie so ablehnend gestimmt war. Sie würde ihn wahrscheinlich völlig anders auslegen. Vielleicht würde sie sogar sagen, dass er ein Zeichen für meinen drohenden Tod sei, falls ich mich dem Ballett widmete.
»Ich jedenfalls glaube, dass du einen Fehler machst. Tut mir leid, aber so ist es.« Kitten nahm den Teelöffel aus der Tasse und legte ihn vorsichtig auf die Untertasse. Nach ein paar Minuten ungemütlichen Schweigens fuhr sie fort: »Aber ich bin deine Freundin und unterstütze dich, ganz gleich, was du anstellst. Was ist mit der Tanztruppe – wirst du weiter mit uns tanzen?«
»Wenn es geht, aber versprechen kann ich nichts. Madame Jegorowa hat mir sehr deutlich gesagt, was sie von mir erwartet.« Meine Stimme verebbte, als ich mich an das Treffen mit Madame erinnerte, an ihre dunklen Glitzeraugen, die wie polierte Kiesel aussahen, an ihr Haar, dass so straff zurückgenommen war, dass ich die gespannte Kopfhaut sehen konnte. Madame hatte »mindestens sechs Stunden am Tag, jeden Tag, hier in meinem Studio« verlangt. Ich war davor nicht zurückgeschreckt. Ich tanzte seit sechs Jahren, jeden Tag, oft Stunde um Stunde. Madames Kieselaugen blitzten, als sie von »der Notwendigkeit« sprach, »den Körper zu unterwerfen«, und meinte, ich müsste bereit sein, »meinen Körper über seine Grenzen hinaus zu fordern«. Das Wort »Disziplin« hatte sie mindestens fünfmal erwähnt. Ich entschied mich, Kitten nichts von alldem zu erzählen.
»Hast du Zelda Fitzgerald dort gesehen?«, fragte Kitten. »Kennst du sie?« Mrs Fitzgerald war berühmt-berüchtigt für ihren amerikanischen Glamour und ihre stürmische Ehe mit dem amerikanischen Schriftsteller F. Scott Fitzgerald. Es gab in ihrem Leben immer etwas, das Anlass zu Klatsch lieferte, und Kitten, selbst Amerikanerin, kannte immer die neuesten Gerüchte über sie.
»Madame meinte, Mrs Fitzgerald trainiere bei ihr.« Ich zögerte, versuchte mich daran zu erinnern, was ich von den Fitzgeralds wusste. »Ich glaube, meine Eltern waren mal bei ihnen zum Abendessen eingeladen. Ja, da wollte sich Mr Fitzgerald aus dem Fenster stürzen. Ich denke, sie sind wohl beide ein bisschen verrückt. Aber ich habe keines seiner Bücher gelesen. Jedenfalls ist sie viel älter als ich, aber Madame schien ohnehin nicht zu glauben, dass das ein Problem ist.« Ich nahm einen großen Schluck Tee, machte mich bereit für eine weitere Runde vernichtender Kommentare von Kitten.
»Anscheinend tanzt sie acht Stunden am Tag und ist völlig besessen davon. Mama meinte, sie wäre drüben in Alabama eine einmalig gute Kinderballerina gewesen.« Kitten schaute mich an. »Hast du je Ballett getanzt?«
»Du weißt genau, dass ich das nicht habe«, antwortete ich. »Du hast gerade gesagt, du würdest mich unterstützen, egal, was ich mache.«
»Ich denke einfach, dass du eher eine Turnerin, eine Akrobatin bist. Tut mir leid, Süße.« Kitten zog mich an sich und umarmte mich. »Ich weiß, dass du wunderbar sein wirst, was immer du dir in den Kopf gesetzt hast. Ich bin nur nicht so mutig wie du, so abenteuerlustig.« Sie seufzte tief und fügte dann hinzu: »Wo wir gerade von Abenteuern reden, wie geht es mit deinem Liebesabenteuer?«
»O Kitten.« Ich nahm ihre Hand in meine. »Beckett hat mir das Selbstbewusstsein gegeben, das hier zu wagen.«
»Er meint, du solltest dich zur Ballerina ausbilden lassen?« Kitten zog ihre Augenbrauen in die Höhe.
»Nein! Aber meine Liebe zu ihm und seine Liebe zu mir geben mir die Kraft dazu. Ich habe das Gefühl, ich könnte es mit allem aufnehmen. Weil ich weiß, dass er für mich da ist, dass jemandem wirklich an mir gelegen ist. Ich kann es nicht erklären. Du musst dich einfach selbst verlieben, Kitten.« Ich drückte ihre Hand und wünschte mir, ich könnte besser formulieren, wünschte, ich könnte ausdrücken, wie die Aussicht auf meine Freiheit, die so nahe schien, mich antrieb, mir Mut und Kühnheit verlieh.
»Du bist ein Glückspilz.« Kitten drehte sich um und schaute betrübt aus dem Wohnzimmerfenster. »Dein Vater ist ein weltberühmter Schriftsteller, ein großer, attraktiver Mann ist in dich verliebt, und jetzt will dich Madika zu einer gefeierten Tänzerin machen.«
»Es ist nicht alles wunderbar.« Ich hielt inne und schluckte. »Giorgio hat eine Affäre mit einer verheirateten Frau angefangen, die alt genug ist, um seine Mutter zu sein. Keiner weiß davon. Aber du solltest es wissen. Es tut mir so leid, Kitten.«
»Ich habe verstanden, dass er sich nicht für mich interessiert. Ein Mädchen weiß so was.« Sie drückte mir die Hand. »Aber du stehst ihm so nah wie immer?«
»Nein«, antwortete ich und biss mir auf die Lippe. »Ich glaube, er hat mir nicht verziehen, dass ich Émile nicht heiraten werde. Und ich mag die Frau nicht, mit der er zusammen ist.« Ich senkte meine Stimme. »Sie hat versucht, Babbo zu verführen, als sie für ihn gearbeitet hat. Hier, vor Mamas Nase.«
»Dein Vater würde das niemals tun! Er kann ohne deine Mutter nicht leben. Und wie ist sie so, Giorgios neue Flamme?«
»Alt. Ihr Gesicht sieht aus wie ein zu lange gebackener Apfel. Aber sie ist sehr reich. Ihr Vater hat in Amerika Millionen mit Töpfen und Pfannen verdient, und jetzt gibt sie all das Geld für Giorgio aus. Das bringt Mama um.« Ich schüttelte niedergeschlagen den Kopf. »Sie hasst geschiedene Frauen, und sie ist doch völlig vernarrt in Giorgio.«
»Mach dir jedenfalls um mich keine Sorgen. Ich habe ein paar Kandidaten, die nur darauf warten, mich auszuführen.« Sie stand auf und schüttelte ihren Rock aus, ehe sie hinzufügte: »Aber um dich sorge ich mich. Ich will nicht, dass du dich in ein frühes Grab tanzt, wie meine Mutter sagen würde.«
»Ich habe mich entschieden.« Ich hob mich auf die Zehenspitzen und drehte mit ausgestreckten Armen eine Pirouette. »Ich will eine solide Grundlage.«