November 1929, Paris
Als Beckett schließlich nach Paris zurückkehrte, war es Ende November, und die Tage waren nass und kalt geworden. Während seiner Abwesenheit hatte Babbo eine fanatische Vorliebe für einen irischen Opernsänger namens John O’Sullivan entwickelt. Der war ein älterer, missmutiger Mann, verbittert darüber, dass man ihm nach so vielen Jahren der Tourneen durch die Opernhäuser der Welt nun keine Anerkennung mehr zollte. Aber er war in Paris, um »Wilhelm Tell« zu singen, und Babbo war wild entschlossen, dass alle ihn sehen und seine »geniale« Stimme preisen sollten.
Mich hatte man dazu bestimmt, Einladungen an all unsere Bekannten zu schreiben. Vielleicht war »Einladung« nicht ganz das richtige Wort, denn während ich mit dem Stift in der Hand an Babbos Schreibtisch saß, schien es mir eher, als schriebe ich Bettelbriefe – all unsere Freunde, Babbos sämtliche Schmeichler, jeden, den wir in Paris kannten, jeden Journalisten, den Babbo je getroffen hatte, anbettelte, anflehte, beschwatzte, sich Karten für »Wilhelm Tell« zu besorgen. Als ich Babbo fragte, warum wir so viel Zeit und Mühe auf die Karriere von John O’Sullivan verwandten, antwortete er, dass er damit auch Giorgios Karriere fördern wollte.
Babbo ging in dem düsteren Zimmer auf und ab und diktierte mir: »John O’Sullivan – nein, lass das O weg, schreib einfach John Sullivan, der Musik zuliebe – hat die großartigste Gesangsstimme, die ich je gehört habe.« Er legte eine Pause ein, nahm die Brille ab und rieb sich die geschwollenen Augen.
»Das soll ich schreiben? Die großartigste Gesangsstimme, die du je gehört hast?«
»Lucia, bitte stell nicht in Frage, was ich schreibe. Da verliere ich den Faden.« Babbo schüttelte ungeduldig den Kopf und setzte die Brille wieder auf. »Ich glaube nicht – schreibst du das auf, Lucia? –, dass es je einen großartigeren Tenor als ihn gegeben haben kann, und was die Zukunft betrifft, so bezweifle ich, dass menschliche Ohren …« Er unterbrach sich, suchte nach den richtigen Worten. »… je wieder eine solche Stimme hören werden, bis der Erzengel Michael im allerletzten Akt der Menschheit seine große Arie singt.«
Ich schrieb seine Worte brav in meiner elegantesten Schrift nieder, gab sorgfältig den »g« eine lange Schlaufe und fügte bei den »s« einen kleinen Schnörkel ein. Babbo neigte den Kopf, stützte die Stirn auf die ringgeschmückte Hand. Dann hob er den Kopf und deutete mit einem gelblichen Finger auf mich.
»Bist du bereit für den nächsten Absatz?«
Ich nickte, konzentriert darauf, jeden Buchstaben perfekt zu schreiben, die Worte, wo ich konnte, mit Schnörkeln und Kringeln zu verschönern.
Er begann wieder auf und ab zu gehen, tastete sich mit ausgestreckten Händen um die beiden Sessel herum, um Zusammenstöße zu vermeiden. »›Wilhelm Tell‹ beschäftigt sich mit demselben Thema wie ›Ulysses‹ – der Suche eines Vaters nach einem Sohn und der Suche des Sohnes nach seinem Vater. Bitte machen Sie uns die Freude, uns nach der Vorstellung zusammen mit John Sullivan bei einem Champagner-Diner Gesellschaft zu leisten. Da … ich denke, das sollte reichen.«
Drei Stunden später schmerzte meine Hand. Ebenso mein Rücken, weil ich über Babbos Schreibtisch gebeugt gesessen hatte. Zwei Blasen blähten sich auf wie Ballons, eine oben an meinem Zeigefinger, die andere seitlich am Daumen. Ich schaute auf den Stapel von Umschlägen vor mir – weit über vierzig. Als ich meinen Rücken aufrichtete und den Hals und die Schultern reckte, hörte ich Babbo am Telefon über John Sullivan reden, und seine Stimme schwoll vor Erregung an.
»Sie müssen kommen. Er erreicht das hohe C mit spielender Leichtigkeit. Kein anderer Tenor auf der ganzen Welt kann das.« Es trat eine lange Pause ein, und dann redete Babbo wieder los, pries, lobte und flehte. Seine Begeisterung sprudelte aus ihm hervor wie Champagner aus einer Flasche. Aber ich konnte sie nicht teilen. Stattdessen erfüllte sie mich mit Unruhe, denn ich begriff, dass dies rein gar nichts mit Giorgios Karriere zu tun haben konnte. Warum hatte man mich nicht gebeten, im April vierzig Einladungen zu Giorgios Debüt zu schreiben? Ich dachte an Sullivan – den missmutigen, alten Sullivan, der zum Abendessen zu uns gekommen war und nur französisch gesprochen und alle herumkommandiert und mit seiner Frau gestritten hatte. Der Gedanke an Giorgio, der pflichtschuldig Babbos ungelebtes Leben als Opernsänger an seiner Stelle lebte, gab mir einen Stich. Giorgio, der für lumpige fünfhundert Franc im Monat im Chor der amerikanischen Kathedrale an der Avenue George V sang. Ich legte mich aufs Sofa und begutachtete meinen blasigen Finger. Babbo telefonierte immer noch, seine Stimme drang bruchstückhaft zu mir. »John Sullivan … Ja, John Sullivan. Sie müssen kommen und auch etwas drüber schreiben. Man hat ihn völlig übersehen … Ja, regelrecht verfolgt … genau.«
Und dann traf mich die Erkenntnis. Warum hatte niemand vierzig Einladungen geschrieben, ins Bal Bullier zu kommen und mich tanzen zu sehen? Oder ins Théâtre des Champs-Élysées? Oder ins Théâtre du Vieux-Colombier? Warum hatte Babbo da nicht sein Heer von Schmeichlern abgeordnet, mir lautstark zu applaudieren? Zugaben von mir zu fordern? Artikel zu schreiben, in denen mein Tanz gepriesen wurde? Wo waren die Reporter und Fotografen gewesen, die er für John Sullivan so übereifrig umwarb? Warum zog Babbo mir den streitsüchtigen John Sullivan vor?
Und ohne Vorwarnung, ehe ich noch die Zeit hatte, ihn zu unterdrücken, stieg in mir ein Schwall von Wut auf, schlug über mir zusammen.
Ich versuchte, meine Wut zu zähmen, vermochte es jedoch nicht. Seither habe ich diesen Augenblick Hunderte von Malen, Tausende von Malen durchlebt. Obwohl ich in Babbos Arbeitszimmer allein war, spürte ich die Anwesenheit einer anderen Person. Einer gewalttätigen und verzweifelten Person. Als hätte der Schatten, der sich gewöhnlich hinter mir erstreckte, ein teuflisches Eigenleben angenommen und sich in meinen Körper hineingeschlichen. Ich schloss die Augen und versuchte, ihn durch meine Willenskraft zu vertreiben. Aber er kehrte immer zurück, dunkel und hässlich.
Ich zog mich vom Sofa hoch, schloss die Augen und begann in Babbos Arbeitszimmer im Kreis herumzugehen, in dem Versuch, dieses Ding loszuwerden. Ich verschlang und drehte mich, kauerte mich zusammen und schnellte hoch, und als Babbo hereinkam, wirbelte ich herum wie ein türkischer Derwisch, mit wilden Augen und pochendem Herzen. Die Regale spuckten Bücher und Papiere. Bilder und Fotos hingen schief an den Haken. Die elektrische Lampe schwang schwindlig von der Decke.
»Lucia!« Babbo stand in der Tür, starr vor Schreck. Ich drehte mich weiter, brachte eine leere Weinflasche und einen Aschenbecher zu Fall. Aschewolken wirbelten vom Boden auf, als ich den Aschenbecher mit einem Tritt wegbeförderte. Papiere schlitterten in alle Ecken. Bücher stürzten.
»Was – was machst du da?« Er glotzte mich an.
Die wütende Person in mir verblasste allmählich, schrumpfte und wurde immer kleiner, wie ein Geier, der am Horizont verschwindet. Aber sie blieb hocken, nicht ganz außer Sichtweite. Also tanzte ich weiter, wirbelte mit Hingabe, nahm Babbo nicht wahr, nahm die Papiere und Bücher unter meinen Füßen nicht wahr, nahm die leere Weinflasche nicht wahr, die in gefährlichen Spiralen über den Boden schlitterte. Meine Arme waren ausgestreckt, meine Finger gespreizt, die Handflächen zum Himmel gereckt. Ich warf den Kopf in den Nacken, wölbte mein Rückgrat und zog meine Kreise um die Bücher und Papiere und Zigarettenstummel, die inzwischen überall im Arbeitszimmer verstreut waren.
Babbo hatte sich nicht von der Tür fortbewegt, doch plötzlich schoss er blitzschnell ins Zimmer und schnappte die sich drehende Flasche unter meinen Füßen. Dann zog er sich zur Tür zurück, wo er stehen blieb, die Flasche umklammerte und mich anstarrte. Er machte keinerlei Anstalten, seine Texte, seine kostbaren, mit Buntstift beschriebenen Blätter zu retten.
»Lucia?« Es lag ein Beben in seiner Stimme. Ich glitt inzwischen elegant durchs Zimmer, beugte mich anmutig, um den Stühlen, dem Schreibtisch, den verstreuten Papieren, den überall auf dem Boden ausgebreiteten Büchern aus dem Weg zu gehen. Babbo bewegte sich geschickt, vorsichtig, seine klauengleichen Hände besänftigend in meine Richtung ausgestreckt.
»Es ist schon gut, ich tanze nur.« Ich machte einen so tiefen Knicks, dass mein Knie den Teppich streifte.
Babbo, die Arme noch ausgestreckt, eine Hand noch um die Weinflasche geklammert, starrte mich an. Er sah verwirrt aus, als wisse er nicht, wer ich war. »Ist … ist das die Art von Tanz, die du in … in der Margaret-Morris-Schule lernst?«
Ich keuchte leise, als ich mich bückte, um seine Papiere einzusammeln. »Wir machen da sehr viel Improvisation. Es tut mir leid wegen deiner Texte. Ich versuche, alles wieder in Ordnung zu bringen.«
»Das ist nicht wichtig. Ich kann das selbst aufräumen.« Er ging auf die Knie, legte die Weinflasche ab und streckte die Hände aus, um nach den Büchern zu tasten, die ich umgestoßen hatte. Langsam begann er sie wieder zu Stapeln zu ordnen, schaute angestrengt durch seine Brillengläser.
»Was ist mit den Einladungen, die du geschrieben hast, Lucia? Sind die noch in Ordnung?«
Ich schaute auf Babbos Schreibtisch. Die Einladungen in ihren dicken cremeweißen Umschlägen lagen noch da, ordentlich aufgestapelt, adressiert und bereit zum Versand.
»Ja«, erwiderte ich knapp.
»Gut. Die müssen so schnell wie möglich verschickt werden. Ich darf John O’Sullivan nicht im Stich lassen. Ah, John Sullivan. Ich glaube, ich habe recht, wenn ich darauf bestehe, dass er das O weglässt. Das geht einem viel leichter von der Zunge, und es ist für die Zeitungsleute auch einfacher zu buchstabieren. Wärst du so nett und würdest sie zum Briefkasten bringen, mia bambina?«
*
Babbo erwähnte meinen wilden Tanz nie. Nicht einmal Mama gegenüber. Seine Besessenheit von John Sullivan nahm noch zu, bis er von nichts und niemand anderem reden konnte. Selbst seinen Schmeichlern gaben seine Bemühungen um die Förderung von John Sullivan Rätsel auf. Beckett war nicht nur verwirrt, sondern empört darüber, dass Sullivan es an jeglicher Dankbarkeit fehlen ließ. Zusammen hockten Beckett und ich am Square de Robiac im Flur und beschwerten uns über Sullivan und darüber, wie viel von unserer Zeit er in Anspruch nahm. Manchmal machten wir Witze über Sullivan, und ich fand heraus, dass Beckett, der sonst stets gemessen und ernst auftrat, einen beißenden Humor besaß. Mama verbot jegliche Erwähnung von John Sullivans Namen, so dass Babbo sich zusammenriss, um vor ihr über ihn zu schweigen. Aber bei allen anderen zeigte er keinerlei Zurückhaltung.
Ein Gutes brachte Babbos Besessenheit: eine neue Vertrautheit zwischen mir und Beckett. Aus unserer gemeinsamen Abneigung gegen den streitsüchtigen ergrauenden Tenor wurde eine private Anti-John-Sullivan-Allianz, ein weiteres Band zwischen mir und Beckett. Eines Abends, vierzehn Tage nach seiner Rückkehr aus Irland, hatte Babbo uns vergattert, wieder einmal eine Oper mit John Sullivan anzuschauen. Nach der Hälfte, als wir beide nur mühsam das Gähnen unterdrückten, rutschte Beckett auf seinem Stuhl hin und her, schob seinen Oberschenkel fest gegen meinen. Ich spürte seine Wärme, sie übertrug sich auf mich, und ich rückte näher an ihn heran, bis es sich anfühlte, als verschmölzen unsere Körper miteinander. Ich konnte seinen unverwechselbaren Duft riechen – Tabak und Schreibmaschinenfarbband und Seife. Dann spürte ich, wie seine Finger gegen meine strichen. Seine Hand, seine wunderschöne Hand, flatterte auf mein Knie und blieb im Dunklen da liegen. Es war fünf Monate her, seit wir uns beinahe auf dem Wohnzimmerboden geliebt hätten, und ich erinnerte mich immer noch lebhaft daran, wie sein Mund geschmeckt, wie sich seine Haut angefühlt, wie er sich an mich gedrückt hatte. Aber ich erinnerte mich auch an Mamas Worte: Erst die Hochzeit und dann die Schweinereien. Ich entschied, dass ich dieses eine Mal ihren Rat befolgen würde.
Also nahm ich nach ein paar Minuten seine Hand und legte sie sanft wieder auf sein Knie zurück. Und dann saß ich da und starrte auf seine Hände – die Fingernägel, die Knöchel, die Sehnen und Venen, die unter seiner Haut entlangliefen. Ich schaute erst wieder hoch, als Sullivan für seine letzte Verbeugung auf die Bühne getänzelt und Babbo wieder einmal in begeisterten Applaus ausgebrochen war.
»Sam?«, flüsterte ich, während ich lahm klatschte.
»Ja?« Beckett hatte sich auf seinem Stuhl zurückgezogen, so dass wir nicht mehr wie siamesische Zwillinge aneinander hingen.
»Ich habe einen Termin für meine Augenoperation. Ich werde das Jahr 1930 mit neuen Augen beginnen. Kein Schielen mehr. Kein Silberblick mehr.«
»Oh.« Beckett klatschte weiter halbherzig, während John Sullivan wie ein aufgeblasener Gockel über die Bühne stolzierte.
»Bis dahin sind alle romantischen Augenblicke gestrichen, Sam.« Ich linste in sein Gesicht, suchte nach Zeichen der Verletzung oder Enttäuschung. Aber ehe ich seine Miene entziffern konnte, spürte ich die Spitze von Babbos Spazierstock, die mich an der Schulter stieß.
»Erstaunlich! Unvergleichlich! Der Mann ist ein vollkommenes Genie. Beckett, haben Sie die hohen Cs gezählt?«
»Nein, Mr Joyce.«
»Essen Sie mit uns, Beckett? Wir nehmen Sullivan mit ins Café de la Paix, zu Champagner und kaltem Huhn.« Babbo schwang sich mit einer kunstvollen Bewegung den Opernumhang über die Schultern.
»Heute Abend kann ich nicht, Sir. Ich muss packen. Ich reise morgen nach Deutschland ab, zu einem Besuch bei meiner Tante und meinem Onkel.«
Als wir uns von unseren Sitzen erhoben, schaute ich noch einmal auf Becketts unergründliches, ernstes Gesicht. Hatte er meine Ablehnung missverstanden? Hatte ich ihn mit meiner neuen Strategie verletzt? Ich beobachtete ihn, wie er sich den Schal um den Hals schlang und Babbo aus dem Opernhaus folgte. Und ich erinnerte mich daran, dass Beckett mein Schicksal war und ich schon bald die Freiheit haben würde, mein Leben lang zu lieben und zu tanzen.