Mai 1931, London
»Aber du hast versprochen, dass niemand davon erfahren würde, Jim. Du hast es versprochen!« Mama linste durch die schmuddeligen Spitzengardinen auf die Schlange von Reportern, die draußen warteten. Manche hatten Decken und kleine Kissen mitgebracht, als planten sie, auf unserer Schwelle zu kampieren. Mama begann in unserem winzigen, übelriechenden Wohnzimmer in Campden Grove, Kensington, unruhig auf und ab zu gehen und die Hände zu ringen. Ab und zu bildete sich ein wässriger Schimmer auf ihren Augen, und ich dachte, sie würde vielleicht weinen – aber das tat sie nicht.
Die Türklingel hatte den ganzen Tag ununterbrochen geläutet. Der erste Journalist tauchte zwei Stunden, nachdem Babbo (in einem jämmerlichen Versuch der Geheimhaltung nur vierundzwanzig Stunden vor der Hochzeit) eine Heiratssondererlaubnis beantragt hatte, bei uns auf. Dann kamen sie, einer nach dem anderen, klingelten und klingelten, brüllten durch den Briefschlitz, warfen Kieselsteine ans Fenster. Als wir schließlich glaubten, sie seien für die Nacht nach Hause gegangen, bestand Babbo darauf, dass wir zum Abendessen ausgehen sollten, nur wir drei. Doch als wir um Mitternacht zurückkehrten, fanden wir einen Reporter direkt vor unserer Tür sitzen, eine Decke über seine spitzen Knie gebreitet. Wir mussten über ihn hinwegsteigen, während er eine Salve von Fragen auf uns abfeuerte.
»Was machen wir nur, Jim?«, flehte Mama. »Morgen wird in allen Zeitungen stehen, dass Nora Barnacle, siebenundvierzig und Mutter zweiter Bastarde, heiratet!«
»Nun, der Bastard bin ich«, knurrte ich. »Ich werde in allen Zeitungen als die uneheliche Joyce-Tochter vorkommen. Und dann muss ich in irgendeine Kunstschule gehen und in einem Raum voller Menschen sitzen, die ich nicht kenne – und die auf mich zeigen und flüstern und johlen. Das ist viel schlimmer. Und es ist nicht mal meine Schuld!«
»Wir sollten zusehen, dass wir genug Schlaf bekommen.« Babbo spielte nervös an seinem Ohrläppchen herum, seine Miene war unnahbar und nicht zu entziffern.
»Wie um alles in der Welt sollen wir schlafen, wenn wir wissen, dass wir von Reportern umzingelt sind? Und dann ist auch noch Hausschwamm im Schlafzimmer. So sollte man die Nacht vor einer Hochzeit nicht verbringen! Ich hätte niemals mit dir durchbrennen sollen. Es war so töricht, so dumm! Lass dir das eine Lehre sein, Lucia. Berühre einen Mann nicht mal, ehe er dir nicht einen Ring an den Finger gesteckt hat. Die Scheißkerle sind schlüpfrig wie die Aale, alle miteinander!«
»Ihr wisst, dass ich nicht mit zur Trauung komme?« Ich beobachtete die Gesichter meiner Eltern genau, hoffte, dass sie nicht versuchen würden, mich zu zwingen, wie sie es schon bei so vielen anderen Dingen getan hatten, die ich nicht tun wollte.
»Natürlich nicht, Lucia«, sagte Babbo sanft. »Geh einkaufen. Kauf dir was Schönes. Es ist keine große Sache, ein paar Zeilen in einigen weniger ersprießlichen Zeitungen, aber mehr nicht.«
»Oh, das glaubst du wirklich? Na, ich hoffe, du hast recht. Wir sind ja keine Filmstars oder so was. Und du – Jim, du denkst vielleicht, dass du eine Art Star bist, klar. Aber das bist du nicht – du bist wirklich nicht mal ein paar Zeilen in ein paar Käseblättern wert.«
»Babbo hat recht«, sagte ich unerschütterlich.
»Ach, schau dich nur an. Immer loyal, hängst an jedem Wort deines Vaters. Sogar jetzt noch, wo du weißt, dass du ein Bastard bist.« Mama lachte schrill und warf den Kopf in den Nacken.
»Wenn ich ein Bastard bin, dann nur, weil du mich dazu gemacht hast!«, schrie ich. »Wenn du ein bisschen netter gewesen wärst, hätte er dich vielleicht geheiratet!«
»Komm, komm Lucia. Ich habe dir schon gesagt, dass wir in Triest eine Art Hochzeit gefeiert haben. Als wir mit dem Schiff angekommen waren.« Babbo nestelte am obersten Knopf seines Hemdes herum und vermied jeden Blickkontakt.
»Kannst du um Himmels willen mit dieser Geschichte aufhören. Jemandem in einem verlausten Hotelzimmer einen unechten Goldring an den Finger zu stecken, das würden die wenigsten Leute als Hochzeit bezeichnen!« Mama funkelte Babbo wütend an, und das Weiße in ihren Augen leuchtete im Dämmerlicht.
»Aber, aber.« Babbo seufzte. »Morgen sind wir alle ehelich und rechtmäßig verheiratet und legal. Gute Nacht, Lucia.« Er nahm Mama bei der Hand, und sie verließen mich. Ich hatte mich auf dem fleckigen blauen Sessel zusammengerollt und lauschte dem Rascheln der Mäuse und der Uhr, die eins schlug – ein einziger, einsamer Ton, der in der feuchten, leeren Wohnung widerhallte, in der wir bald unser Leben als respektable, legitime Familie beginnen würden.
*
Am nächsten Morgen weckte mich in aller Frühe das Rumpeln der Londoner U-Bahn, die in unmittelbarer Nähe unserer Wohnung fuhr. Mama war schon auf den Beinen, kleidete sich für ihren »Hochzeitstag« an. Sie hatte sich eine teure Kombination nach der neuesten Mode gekauft – mit einem schwingenden Rock, der ihre Knie kaum bedeckte, und einem eng anliegenden Mantel mit den Ärmeln nach dem letzten Schrei. Obwohl es ein warmer Sommertag war, bestand sie darauf, ihren Lieblingsfuchspelz um den Hals zu tragen und einen Glockenhut aufzusetzen, den sie sich tief ins Gesicht zog. »Damit mich niemand sehen kann«, sagte sie mit einem dünnlippigen Lächeln.
Später kam der Rechtsanwalt. Er erzählte uns, die Geschichte wäre lang und breit im Daily Mirror zu lesen, und Scharen von Fleet-Street-Fotografen stünden nicht nur vor dem Standesamt von Kensington, sondern den ganzen Campden Grove auf und ab.
»Ich kann uns an den Zeitungsleuten vorbeischleusen, aber wenn Sie keine Hintertür haben, würde ich nicht dazu raten, dass Miss Joyce das Haus verlässt«, sagte er. Also erklärte ich mich einverstanden, zu Hause zu bleiben, belagert und eingesperrt.
»Zeichne. Das beruhigt die Nerven«, sagte Mama, als sie sich zum dritten Mal die Nase puderte.
»Machen Sie sich auf das Schlimmste gefasst«, fügte der Rechtsanwalt hinzu. »Alle Sonntagszeitungen werden da sein, und die haben eine Menge Seiten zu füllen.« Und dann reichte er Babbo sein zusammengerolltes Exemplar des Daily Mirror und sagte, er solle sich Seite drei anschauen.
»O Jim, lies vor«, piepste Mama.
»Ein Londoner Standesamt hat eine Meldung über die bevorstehende Trauung von Mr James Augustine Aloysius Joyce, neunundvierzig Jahre, wohnhaft Campden Grove, Kensington, veröffentlicht.« Babbo hielt inne und ließ den Blick über uns schweifen, als stünde er auf einer Bühne und wir wären ein erwartungsvolles Publikum. »Der Name der Braut wurde als Nora Joseph Barnacle, siebenundvierzig Jahre, wohnhaft an der gleichen Adresse, angegeben. Mr Joyce ist der Autor von ›Ulysses‹. Laut Eintrag in ›Who’s Who‹ hat er Miss Nora Barnacle aus Galway 1904 geheiratet.« Er zögerte, und seine Lippen zuckten ein wenig, als müsse er ein Lächeln unterdrücken. »Mr Joyce’ Rechtsanwalt erklärte gestern: ›Aus testamentarischen Gründen wurde es für angebracht erachtet, dass die Partner nach englischem Gesetz verheiratet sein sollten.‹«
»Was um alles in der Welt heißt testamentarisch?«, fragte Mama.
»Ah.« Babbo legte eine Pause ein und zog seine Fliege zurecht. »Das war meine Idee. Es hat nichts zu bedeuten, klingt aber gut, findest du nicht?« Das hörte sich so selbstzufrieden und arrogant an, dass mir einen Augenblick lang der Gedanke durch den Kopf schoss, er genieße all das sehr – die juristischen Streitereien und die Wortgefechte, die Aufmerksamkeit und das öffentliche Aufsehen.
»Mr Joyce meinte, es klinge vage, aber wichtig und juristisch bedeutsam genug, um die Meute von der Spur abzubringen. Mal sehen, ob es funktioniert.« Es schien nicht so, als wäre sich der Rechtsanwalt da sicher, aber Mama nickte vehement, und Babbo lächelte vor sich hin.
»Mir gefällt besonders die Zeile über den Namen der Braut«, meinte Mama kichernd. »Miss Nora Barnacle aus Galway – in der Daily Mail gleich neben den Filmstars!«
»Zeit, fürbass zu schreiten, meine hübsche Braut.« Babbo grinste Mama an und klemmte sich sorgfältig den Spazierstock unter den Arm. Ich beobachtete die beiden mit Donnermiene, als sie sich für die Schlacht mit den Zeitungsleuten und Fotografen bereit machten. Aber keiner von beiden schenkte mir Beachtung, als sie die Wohnung verließen. Mama rückte ihren Hut zurecht und stopfte ein paar Haarsträhnen darunter, Babbo schritt aufrecht und probierte verschiedene schiefe Haltungen seines Kopfes aus.
*
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, hörte ich meine Eltern lachen und kichern. Ich fand sie im Wohnzimmer, wo sie von Zeitungen umringt saßen.
»Wie missmutig du auf diesem Bild aussiehst, Jim.« Meine Mutter lachte leise, während sie ein Exemplar des Evening Standard in der Luft schwenkte. »Und schau dir nur an, wie wohlgeformt meine Beine da aussehen! Ich bin so froh, dass ich diesen Rock gekauft habe. Ich dachte erst, er wäre vielleicht doch zu kurz. Du weißt schon, zu kurz für eine Trauung.« Sie kicherte wie ein junges Mädchen.
»Sieh dir das an, Nora. Hier nennen sie dich Nora Barnacle, Jungfer.« Babbo schob ein Exemplar des Sunday Express zu meiner Mutter hin, und seine Augen leuchteten vor Vergnügen.
»Du ungezogener Junge!« Meine Mutter drohte ihm mit dem Zeigefinger. »Du glaubst wohl, dass du jetzt mehr Bücher verkaufen kannst, wette ich.«
Babbo sagte nichts, strahlte jedoch weiter.
»Oder denkst du an die Zeit, als ich einmal Nora Barnacle, Jungfer aus Galway, war, du ungezogener Bursche! Jetzt bin ich schlicht und ergreifend Mrs Joyce, und du kannst nichts mehr daran ändern.« Sie lächelte einfältig und streckte begierig die Hand nach der Zeitung aus.
»Freu dich, Mrs Joyce, nicht mehr freudlos und saftlos, sondern freudvoll saftvoll Mrs Joyce.« Babbo lachte leise vor sich hin, und seine Schultern bebten.
»Oh, ich bin mir wie eine Närrin vorgekommen«, quietschte meine Mutter.
»Und hast du das Telegramm von Giorgio gesehen?« Babbo reichte ihr einen dünnen Umschlag. »In Paris sagen alle, die Hochzeit sei nichts als eine Werbeaktion, um meine Bücher bekannter zu machen!« Er klatschte sich fröhlich auf den Oberschenkel. »Wir heiratisieren mein Werk, Nora, meine Flora.«
Als ich so in der Tür stand, stumm und unbemerkt, verspürte ich nichts als Abscheu und Bitterkeit über ihre lächerliche Freude an sich selbst. Die Wut stieg in mir hoch. Wie rasch ihr Schamgefühl doch verebbt war.
Ich ging zurück in mein Zimmer und knallte mit aller Kraft, die ich aufbringen konnte, die Tür zu.
*
Unter der Bettdecke war es warm, dunkel und tröstlich. Ich fühlte mich wie ein Samenkorn, das tief in der dunklen Erde schlummerte. Oder wie ein warziger, vernarbter Trüffel, der zusammengekrümmt und stumm inmitten von verrottendem Buchenlaub liegt.
Während ich so dalag, konnte ich spüren, wie in mir etwas zögerlich zum Leben erwachte. Ich versuchte, es mir als einen Schössling vorzustellen, der sich darauf vorbereitete, aus einem Samenkorn oder einer Zwiebel hervorzubrechen. Aber in der Nacht fühlte es sich anders an. Ich empfand etwas, das ich nicht verstand und nicht benennen konnte, es kratzte und nagte an mir. Und unter meiner Daunendecke mit den rosafarbenen Rosenknospen atmete ich und atmete und atmete.
*
Ich stand auf dem muffigen und düsteren Flur in Campden Grove und wartete, dass es an der Tür klingeln würde. Beckett war in London und kam, um mit uns zum Abendessen auszugehen. Babbo hatte mich freundlich gefragt, ob es mir etwas ausmachen würde, wenn er sich zu uns gesellte. Ich war zunächst unschlüssig, fand dann aber, es könnte mir helfen, ihn zu sehen, ihm vor Augen zu führen, was er durch seine Dummheit verloren hatte. Und ich hatte in London keine Freunde, niemand, mit dem ich mich unterhalten oder Erinnerungen austauschen konnte.
Als es läutete, öffnete ich die Tür, und da stand er. Beckett – die blaugrünen Augen hinter der Nickelbrille, die Hakennase, das hagere Gesicht, das immer noch aussah, als hätte man es aus Stein gemeißelt. Als er mich sah, trat er überrascht einen Schritt zurück, als hätte er mich nicht erwartet, als hätte man ihn mit einem Trick hergelockt. Doch dann fasste er sich und sagte, wie wunderbar es wäre, mich zu sehen.
»Haben Sie nicht erwartet, mich hier anzutreffen?«, fragte ich mit stockender Stimme. Plötzlich hatte ich das Gefühl, als verdichtete sich die Luft rings um mich herum, bedrängte mich hart, drückte auf meine Lungen.
»O doch, Mr Joyce hat gesagt, Sie würden sich zu uns gesellen, und ich war darüber sehr erfreut.« Becketts Finger wanderten zu einer Pustel an seinem Nacken, dann zu seinem Haar und wieder zu der Pustel zurück. »Aber Sie sehen – Sie sehen anders aus. Sie wirken müde, Lucia. Das ist alles.«
Ich atmete erleichtert auf und gab dann ein kurzes Lachen von mir, das freudig, ja sogar ein wenig kokett hätte sein sollen. Aber es klang eher wie das Bellen eines Hundes.
»Es ist für uns alle eine schwere Zeit«, sagte ich. Ich musste daran denken, wie sehr sich meine Eltern über die Zeitungsberichte zu ihrer Hochzeit gefreut hatten, wie entrüstet Babbo gewesen war, dass die Times nicht darüber berichtet hatte und die New York Times die Nachricht in ihrer Spalte Hochzeiten, Todesfälle und Geburten versteckt hatte. Also fügte ich hinzu: »Wenigstens für einige von uns ist es schwierig.«
»Ich denke, Sie freuen sich darauf, bald Tante zu werden?« Becketts Stimme war steif und förmlich, als würden wir uns kaum kennen.
»Ach das«, sagte ich achtlos. »Ich denke schon. Babbo freut sich, dass die Familie fortgeführt wird. Hoffen wir, dass es ein Junge wird, nicht wahr?« Ich versuchte ein trillerndes Lachen, unterbrach mich aber, als ich sah, dass Beckett mich irritiert anschaute. »Jedenfalls, willkommen im Campden Grave. Eher ein Grab als ein Hain, finden Sie nicht? Kommen Sie und trinken Sie etwas, und dann gehen wir aus. Ich möchte all Ihre Neuigkeiten hören.« Ich hielt meine Stimme fröhlich und atmete bei jeder Gelegenheit tief ein. Ich war mir gar nicht sicher, ob ich seine Neuigkeiten hören wollte oder nicht. Ihn wiederzusehen wühlte mich zu sehr auf. Plötzlich verlangte es mich danach, mich in meinem Bett zu verstecken, tief unter der Decke. Warum war er gekommen? Warum hatte ich mich bereit erklärt, mit ihm essen zu gehen?
Stattdessen sagte ich: »Wir gehen bei Slater’s essen. Das ist gleich um die Ecke.«
»Wunderbar«, antwortete Beckett.
Ich bemerkte, dass ich weder seinen Mantel oder Hut genommen noch ihn in die Wohnung gebeten hatte. Wir standen nach wie vor in dem dämmrig beleuchteten Flur mit seiner fleckigen Tapete, die sich vor Feuchtigkeit wölbte und wellte, und mit seinem Gestank nach gekochtem Kohl und Hausschwamm.
Und dann erschallte laut Babbos Stimme: »Beckett, sind Sie das? Kommen Sie rein, kommen Sie rein und nehmen Sie einen Drink.«
*
Bei den Drinks und später beim Abendessen diskutierten Babbo und Beckett über ihre Arbeit. Meine Mutter schwatzte begeistert von dem hervorragend gebratenen Huhn, das sie jeden Tag gleich um die Ecke kaufte, und von ihrer Hochzeit und von dem Baby, das Giorgio und Helen erwarteten. Ich schob ein Kalbskotelett auf dem Teller hin und her und versuchte zu verbergen, wie niedergeschlagen und verzweifelt ich mich fühlte. Ich gab mir Mühe, an den richtigen Stellen zu lachen und in den angemessenen Augenblicken ernst und traurig zu schauen. Aber ich schien ein schlechtes Timing dabei zu haben. Als Babbo von seinem Ringen um das »Work in Progress« berichtete, lachte ich manisch, und als meine Mutter versuchte, die Stimmung etwas aufzuhellen, indem sie Witze über die Engländer erzählte, kamen aus meiner Kehle merkwürdige Wimmergeräusche.
»Willst du nicht was essen, Lucia?« Meine Mutter pikte mit ihrer Gabel auf meinen Teller, auf dem ein Haufen zermatschtes Essen lag.
»Ich habe keinen Hunger«, erwiderte ich. »Ich hatte heute ein üppiges Mittagessen.« Sie wusste natürlich, dass ich gar nicht zu Mittag gegessen hatte, aber wie konnte ich die Übelkeit erklären, die wie eine zusammengerollte Schlange in meiner Magengrube lauerte?
Beckett fragte mich höflich, wie es Stella und Kitten gehe und ob es mir in London gefalle. Ich antwortete ihm, ich hätte keine Ahnung, wie es Kitten und Stella ging, weil Stella zum Studium am Bauhaus nach Deutschland gegangen war und meine Adresse hier nicht hatte und weil Kitten sehr verärgert gewesen war, als ich unseren Traum von einer Tanzschule zerstört hatte, und weil sie außerdem meine Adresse auch nicht hatte. Ich konnte hören, wie meine Stimme laut wurde, und ich konnte sehen, dass meine Mutter mich wütend anfunkelte, aber ich sprach weiter. Er hatte ja gefragt.
»Nein, es gefällt mir nicht in London. Die Wohnung ist schauderhaft. Ich habe keine Freunde in der Kunsthochschule. Sie reden nicht mit mir, weil ich ein Bastard bin. Ich habe hier kein eigenes Leben. Ich hasse es hier! Ich möchte nach Paris zurück – so bald wie möglich. Ich hasse die Engländer. Die sind alle Esel. In London kann ich ihnen nicht entkommen. Sie sind überall, starren mich ständig an. Sie wissen, dass ich ein gottverdammter Bastard bin.« Die Worte purzelten und stolperten mir von der Zunge, jedes lauter als das vorherige. Ich runzelte die Stirn, war verwundert darüber, wie mein Kehlkopf völlig von allein sprach – nein, brüllte.
Die Leute am Nebentisch starrten mich an. Babbo starrte mich an. Meine Mutter ebenso. Beckett schaute auf seinen Teller und konzentrierte sich darauf, sein Steak zu schneiden. Und dann begann Babbo italienisch zu sprechen, sagte mir, es würde alles gut werden, ich könne nach Hause gehen, wann immer ich wollte, ich könnte in Paris bei Giorgio wohnen. Danach sagte ich nicht mehr viel. Und Beckett stellte mir vernünftigerweise keine weiteren Fragen.
Als wir das Restaurant verließen, sprach ich wieder einigermaßen normal. Babbo fragte Beckett, ob er in der nächsten Woche vor seiner Rückkehr nach Dublin noch einmal mit uns zu Abend essen würde. Nur ich sah den Blick in Becketts Augen, den Blick eines in die Ecke gedrängten Mannes. Nur ich sah das Flehen und Schmeicheln in Babbos Augen. Nur ich wusste, dass Beckett meinem Vater nichts abschlagen konnte.
»Sagen Sie einfach meinem Vater, dass Sie nicht mitkommen möchten, Beckett. Kommen Sie schon – sagen Sie es einfach! Sagen Sie ihm die Wahrheit! Sie wollen nicht mit mir zusammen sein. Sie wollen nicht mit einem schielenden Bankert essen gehen. Es ist mir egal! Sagen Sie es einfach!« Und Beckett schaute mich überrascht an, dann überzog Röte seine Wangen, und er wandte rasch den Blick ab.
»Ach, komm schon, Lucia.« Babbo legte mir seine Spinnenhände auf die Schultern und drehte mich in Richtung Campden Grove. Und als ich nach unten schaute, sah ich, dass das Pflaster des Bürgersteigs in der Kensington High Street mit kleinen Häufchen Hundescheiße übersät war. Als ich nach oben in den dunkler werdenden Himmel schaute, schien er unstet und zittrig, als könne er jeden Augenblick einstürzen. Und als ich den Kopf herumdrehte, war da Beckett, der die Kensington High Street hinaufging, die Schultern gebeugt und krumm. O Beckett. Mein Beckett …
*
In jener Nacht wusste ich, dass etwas Dunkles und Ungeheuerliches in mir war, dort lauerte, wartete, den richtigen Zeitpunkt abpasste. Ich konnte es nicht erklären oder beschreiben, aber es machte mir Angst. Manchmal sprang es mir in den Hals und lenkte mich. Ich erzählte meiner Mutter nichts davon. Und Babbo konnte ich damit nicht belästigen. Er musste ja sein großes Werk vollenden. Nichts durfte zwischen ihn und das »Work in Progress« kommen. Und ich war müde. So müde. Ich konnte nicht mehr tanzen. Hatte keine Energie. Und meine Mutter sagte, die Wohnung wäre dafür zu klein. Ich musste schon schwer atmen, wenn ich nur die Treppe hinaufging, schon allein, Luft in meine Lungen zu saugen, erschöpfte mich. Also konzentrierte ich mich auf mein Zeichnen – auf mein Zeichnen und meine Atmung.