2. Kim
U nd? Wen haben wir dieses Jahr als Klassenlehrer?«
Meine Klassenkameraden drängen sich dicht um mich und versuchen, mir über die Schulter zu spähen. Vor fünf Minuten hat die Sekretärin meiner Mutter die Zettel ans schwarze Brett gehängt und seitdem ebbt die Flut an Schülern nicht ab.
Ich weiß, was ich wissen muss. Mit weit ausgestreckten Armen schiebe ich mich an den anderen Schülern vorbei. Meine Güte, was für ein Wahnsinn jedes Jahr. Warum konnte mir meine Mutter nicht wenigstens beim Frühstück mitteilen, mit welchem Klassenlehrer ich mich in diesem Schuljahr herumärgern muss?
Ich besuche die Zehn b. Das zweite Mal schon. Die neunte Klasse habe ich auch zweimal gemacht. Ich bin nicht stolz darauf. Ganz sicher nicht. Allerdings … gibt es Gründe für mein Scheitern. Ich habe Gründe. Der Hauptgrund ist meine Mutter, die mich mit ihren stumpfsinnigen Erwartungen in den Wahnsinn treibt. Ich will nicht in ihre Fußstapfen treten. Warum begreift sie das denn nicht?
Jeden Tag gibt es Streit. Weil meine Mutter unbedingt will, dass ich ein hervorragendes Abi schreibe. Und ich … möchte eigentlich nur in Ruhe gelassen werden.
Sie denkt, dass ich pubertiere, doch … so ist es nicht und wenn, dann nur ein bisschen.
»Und, Kim?«, ruft Jona, die wohl in diesem Jahr zu meiner besten Freundin werden wird, von Weitem.
»Wen haben wir?«
Ich schiebe mich zu ihr durch.
»Die Regan.«
»Na, ja. Hätte auch schlimmer kommen können.«
Sehe ich ganz genauso. Es gibt wirklich Schlimmere. Die Regan ist wenigstens nett anzuschauen. Eine sportliche Frau mit einem ziemlich hübschen Gesicht. Allerdings … mag ich sie nicht.
»Wir haben die auch in Englisch, Erdkäse und Sport.«
»Ach du … Scheiße. In drei Fächern gleich? Das ist doch zum Kotzen.«
Mittlerweile jammert Jona. Ich grinse sie an. Doch, für ihr Alter ist Jona schon ganz okay. Ein bisschen zu sehr Kind vielleicht noch, aber immerhin ganz nett.
Ich bin mit Abstand die Älteste in der Klasse. In ein paar Wochen werde ich achtzehn. Endlich erwachsen. Dann endlich kann ich über mich selbst entscheiden und niemand kann mich mehr zwingen, etwas zu tun, was ich nicht will. Ich will nicht mehr in diese Schule gehen. Punkt.
»Setzt du dich neben mich?«, fragt Jona, die ich Gott sei Dank vom Volleyball kenne.
Wir spielen zusammen in einer Mannschaft. Jona ist wirklich okay.
»Klar. Aber nur, wenn du dich ganz hinten hinsetzt. Hinten am Fenster. Das ist mein Platz.«
Ich brauche nämlich viel frische Luft. Damit ich nicht ständig einpenne. Bei dem, was die da vorne labern, muss man ja einpennen. Ich habe keinen Bock mehr auf die Schule. Ich will endlich raus. Raus in die Welt. Ich will die Welt sehen. Ein Jahr Australien oder so. Das wäre cool. Aber meine Mutter … will unbedingt, dass ich einen eins Komma null NC hinlege. Davon bin ich meilenweit entfernt. Sie soll froh sein, wenn ich die zehnte schaffe.
Nein. Natürlich bin ich nicht blöd. Ich habe nur keine Lust mehr, mich noch länger in irgendwelche Formen pressen zu lassen, die viel zu klein für mich sind.
Ich will endlich auf eigenen Füßen stehen und selbst entscheiden, was ich wann und wie machen will. Ein verdammtes Jahr noch. Dann werde ich es krachen lassen und zwar so richtig.
Wie immer am ersten Schultag sind die Gänge total überlaufen. Sämtliche Stimmen brüllen durcheinander. Freundinnen und Freunde, die sich sechs Wochen lang nicht gesehen haben, liegen sich in den Armen. Pärchen hängen knutschend im Treppenhaus herum und blockieren die Zugänge zu den oberen Stockwerken.
Das Klassenzimmer der Zehn b ist in einem Türmchen untergebracht. Das gefällt mir. Ich mag diese Turmzimmer. Sie bieten zwar nicht so viel Platz wie die anderen Klassenzimmer, dafür hat man einen super Blick ins Tal. Ich brauche unbedingt einen Fensterplatz.
Vor dem Klassenzimmer warten schon ziemlich viele Schülerinnen darauf, dass die Regan endlich kommt und aufsperrt. Ich muss mich nachher irgendwie an denen vorbeischieben.
»Mädchen!«, ruft eine erwachsene Stimme.
»Macht mal bitte Platz!«
Es gongt.
Na, da sind wir aber ein bisschen unpünktlich., denke ich voller Sarkasmus.
Ich setze ein Grinsen auf und lehne mich lässig an die Wand.
Die Regan schiebt sich durch die Traube aus aufgeregten Jugendlichen. Ich behalte mein Grinsen bei. Sie schließt die Tür auf und kann sich gerade noch so mit einem Sprung zur Seite retten. Im gleichen Moment schütteln die Regan und ich den Kopf.
»Die sind ja schlimmer als die Fünftklässler.«, höre ich sie leise sagen und muss ihr insgeheim recht geben.
Ich warte geduldig, bis alle anderen im Klassenraum sind. Dann erst trete ich selbst ein und muss natürlich feststellen, dass mein Platz ganz hinten am Fenster besetzt ist. Jona steht da und schaut mich grimmig an. Ich zucke mit den Schultern und gehe zielstrebig auf die letzte Reihe zu.
»Mach mal Platz!«, zische ich und funkle das kleine Mädchen, das meinen Stuhl eingenommen hat, an.
»Das ist mein Platz.«
»Wer sagt das?«, kontert sie schnippisch.
Ich bewundere ihren Mut.
Gemächlich beuge ich mich vor, hole einen wasserfesten Stift aus meiner Tasche und kritzle meinen Namen auf den Tisch.
»Siehst du? Da steht es. Schwarz auf braun. Mein Platz. Also, Kleine, schieb dich zur Seite.«
»Du bist eine blöde Kuh.«
Na, und wenn schon? Ich zucke mit den Schultern.
»Steh endlich auf. Ich muss am Fenster sitzen.«
»Ach ja? Und warum?«
»Weil ich Asthma habe.«, flunkere ich und grinse siegessicher.
Wenn nichts mehr zieht, das zieht immer. Sobald die Leute Asthma hören, springen sie auf und geben ihren Platz für die armem, kranke Mitschülerin frei. Und … siehe da. Es funktioniert auch dieses Mal.
Mit hochrotem Kopf steht die Kleine auf und räumt den Platz. Suchend schauen sie und ihre Busenfreundin, die natürlich nicht von ihrer Seite weicht, sich um. Ich deute nach vorne.
»Da. In der ersten Reihe sind noch zwei schöne Plätze für euch frei.«
Oh, was bin ich heute wieder nett. Ich schenke dem Mädchen ein strahlendes Lächeln.
»Das bekommst du zurück.«, giftet die Kleine und ich schaue sie mitleidig an.
»Oh, da bekomme ich es aber mit der Angst zu tun.«
»Na warte, du Fotze!«
»Leg dich nicht mit dir an.«
»Nur weil du die Tochter von der Bernhard bist.«
Na und? Ist das mein Problem? Muss schließlich auch ab und zu Vorteile haben, die Tochter der Direktorin zu sein.
Ich grinse das Mädchen an und schiebe mich an ihr vorbei. Als Erstes schmeiße ich meine Tasche auf den Tisch. Dann reiße ich das Fenster auf, um den muffigen Geruch aus dem Raum zu vertreiben. Danach lasse ich mich auf den Stuhl fallen, kippe mich mit dem Stuhl an die Wand und lege die Füße auf den Tisch. Ah, so lässt es sich aushalten.
Jona setzt sich grinsend neben mich.
»Nicht schlecht. Gar nicht schlecht.«, murmelt sie und legt ihre Sachen ordentlich auf den Tisch.
Wie langweilig. Trotzdem bin ich froh, dass sie da ist. Wenigstens ein bekanntes Gesicht. Die Tür schließt sich. Die Regan kommt in den Raum und baut sich neben ihrem Tisch auf. Ich gähne herzhaft. Sie soll ruhig gleich wissen, woran sie bei mir ist.
»Guten Morgen, meine Damen.«, sagt sie und blickt in die Runde.
Ihr Blick heftet sich auf mich.
Ich bin hellwach.
»Mein Name ist Fiona Regan. In diesem Jahr werden wir miteinander das Vergnügen in Englisch, Erdkunde und Sport haben. Außerdem werde ich eure Klassenlehrerin sein. Wenn ihr also Sorgen oder Probleme habt, kommt bitte auf mich zu.«
Das kleine Mädchen, auf dessen Stuhl ich sitze, dreht sich zu mir um. Sie wirft mir einen missmutigen Blick zu. Ich grinse zufrieden. Von hier aus habe ich in jeder Hinsicht einen perfekten Überblick. Genau so muss das sein.
Die Regan läuft durch die Reihen und verteilt weiße Schilder.
»Ihr schreibt bitte eure Namen auf die Schilder und stellt sie auf euren Platz.«
Als sie bei mir ankommt, fragt sie:
»Wie heißt du?«
»Miststück!«, schallt es von der vordersten Reihe.
Die Besitzerin dieser quäkenden Stimme dreht sich zu mir um und hebt hinter dem Rücken von der Regan die Faust.
»Dich mache ich fertig.«, formen ihre Lippen.
Ich recke den Kopf eine Spur höher.
»Kim.«, antworte ich.
»Gut, Kim. Setz dich bitte ordentlich hin.«
Aye, Aye, Ma´am. Wird gemacht, Ma´am. Ich schenke meiner Lehrerin ein offenes Lächeln. Die Regan lächelt nicht. Sie schaut mich ernst an.
»Denken Sie daran, Kim, wenn Sie wollen, dass Sie ernst genommen werden, müssen Sie zeigen, dass Sie dazugelernt haben.«
Was soll ich denn bitte dazugelernt haben? So ein Blödsinn. Ich bin immer noch die Gleiche. Egal, ob ich mittlerweile kurz vor dem achtzehnten Geburtstag stehe.
Ich möchte etwas erwidern, doch mir fällt absolut nichts ein, was einen Seltenheitswert hat. Normalerweise bin ich nicht auf den Mund gefallen. Aber diesmal … bleiben mir die Worte schlicht im Halse stecken.
Meine Fresse, riecht die Frau gut. So ein lässig luftiger Duft umgibt sie. Ein Duft, der augenblicklich meine Sinne beflügelt. Wahnsinn. So was ist mir noch nie passiert. Was sie wohl für ein Parfum trägt? Bestimmt ein teures. Gut möglich, dass ein sehr besonderer Parfum-Entwickler diesen Duft speziell für sie entwickelt hat. Vorstellbar wäre es immerhin.
Die Regan drückt mir mein Schildchen in die Hand. Ich greife nach meinem Schlampermäppchen und krame ein paar Stifte heraus. Den kurzen Moment, in dem die Regan durch die Reihen zurück nach vorne geht, nutze ich, um sie mir in Ruhe anzuschauen. Sie hat einen schönen Arsch. Und was für einen. Rund und prall. Wie ein kleines Äpfelchen. Die Regan beflügelt meine Phantasie.
Endlich ist es mal ein Vorteil, dass ich in einer bekloppten reinen Mädchenklasse gelandet bin. Außer mir wird niemand die Regan anstarren. Weil niemand empfindet so für Frauen wie ich. Tschagga.
»Wenn ihr dann alle eure Namen aufgeschrieben habt … «
Ich pinsle die drei Buchstaben meines Namens fein säuberlich und absolut unleserlich auf das Kärtchen. Dann nehme ich bunte Stifte und fange an zu malen. Ich liebe es. In der Mitte, direkt unter meinem Namen schaut mir Pikachu entgegen. Oben rechts linst ein Dratini hervor. Und unten links hockt ein Evoli. Ich liebe Pokemon. Apropos. Es wird Zeit, dass ich mal schaue, was sich während der letzten halben Stunde in meiner Sammlung getan hat. Gemächlich bücke ich mich und hole mein Handy aus der Tasche. Ich lege es mir auf den Oberschenkel und scrolle mit der rechten Hand durch die Liste. Scheiße. Ziemlicher Mist hier. Nicht mal ein schillerndes Pokemon. Blöd.
Dafür ist der Klassenraum perfekt. Ich komme ganz bequem an den nächsten Pokestop. Hervorragend.
Während die Regan irgendwas von Schüleraustausch in Irland schwafelt, drehe ich in aller Ruhe dreimal den Pokestop. Perfekt.
Allerdings behalte ich sie die ganze Zeit im Auge. Für ihr Alter sieht die Regan echt gut aus. Ihre Gesichtszüge sind … irgendwie markant. Aber auch weiblich feminin. Ihr sonst ziemlich leuchtend rotes Haar scheint während der Ferien heller geworden zu sein. Hübsch. Wirklich hübsch.
Gedankenverloren male ich ein Herz auf mein Schildchen.
»Bist du verknallt?«, fragt Jona und deutet auf das Herz.
Sie kichert leise. Um ihr zu demonstrieren, dass ihr kindisches Gehabe mich nervt, atme ich mehrmals geräuschvoll ein und aus.
»Das ist ein Libiskus.«, erkläre ich eine Spur zu eilig.
»Du weißt schon, Pokemon.«
»Du zockst Pokemon? Cool. Dabei schaust du gar nicht aus wie ein Nerd.«
Nur weil ich Pokemon zocke, bin ich doch kein Nerd. Also wirklich. Ich bin cool. Ziemlich cool sogar. Gleich heute Nachmittag werde ich mir die Haare färben. Dann kann jeder sehen, wie cool ich wirklich bin.
»Hast du heute Nachmittag schon was vor?«, frage ich meine neue Sitznachbarin.
»Muss wahrscheinlich Hefte kaufen. Warum?«
»Passt perfekt. Ich muss auch in die Stadt. Meine Haare schreien nach Farbe.«
Um meine geflüsterten Worte zu unterstreichen, fahre ich mir durchs Haar. Straßenköterblond. Ich hasse es. Aber meine Mutter hat mir bis jetzt immer verboten, Farbe in meine Haarpracht zu zaubern. Doch … nun bin ich schon fast achtzehn und darf ganz offiziell färben. Und genau das werde ich heute machen. Erst aufhellen und dann geht die Post ab. Ich freue mich diebisch.
»Neue Haarfarbe? Cool. Was hast du vor?«
Da ich das selbst noch nicht so genau weiß, zucke ich lediglich mit den Schultern. Das Gespräch mit Jona ist beendet. Ich muss meine Gedanken beieinander halten, wenn ich morgen einen ordentlichen Auftritt hinlegen will. Nerd wird nie wieder jemand zu mir sagen. Ich bin kein Nerd, auch wenn ich eine ziemlich nerdige Brille trage. Daran muss ich auch noch etwas ändern, aber im Moment fehlt mir dazu das nötige Kleingeld und wie ich meine Mutter kenne, wird sie es bestimmt nicht locker machen. Sie ist der Meinung, dass die komische Brille mir hervorragend steht. Ich bin da allerdings anderer Meinung. Brav schaue ich aus mit dem Ding auf der Nase. Irgendwie bin ich ja auch brav. Wenn ich will. Aber ich will nicht mehr.
Mit zwei Fingern ziehe ich die Brille von der Nase und lege sie auf den Tisch. Besonders viel erkenne ich jetzt nicht mehr, aber das ist nicht wichtig. Ich bin cool. Darauf kommt es an. Dass die Regan nur noch wie ein nebulöser Geist vor der Tafel hin und her tanzt, muss ich dann wohl in Kauf nehmen.
Nach kurzer Zeit fangen meine Augen an zu brennen und mein Kopf schmerzt. Doch auch das nehme ich in Kauf. Solange ich cool aussehe.
Während die Regan etwas von Heften und Arbeitsbüchern erzählt, bücke ich mich nach meiner Tasche auf dem Boden und hole meinen Geldbeutel heraus. Mit etwas Glück reichen die Flocken, die von meinem Taschengeld übrig geblieben sind, noch aus, um mir nicht nur Farbe, sondern auch noch eine coole Sonnenbrille zu kaufen.
»Welche Farbe willst du denn haben?«, fragt Jona und ich rolle genervt mit den Augen.
Warum unterbricht die Kleine eigentlich immer meine Gedanken?
»Ich denke, pink wäre ganz cool. Und lila. Vielleicht auch noch aqua. Oder so was in der Art.«
»Du bist bekloppt.«
Jupp. Das bin ich. Aber lieber hält sie mich für bekloppt als für nerdig und somit langweilig.
Aqua in der Mitte lila rechts und pink links? Das wäre doch eine ganz gute Idee. Auf jeden Fall auffallend. Eigentlich falle ich ja nicht so gerne auf und halte mich eher im Hintergrund, aber im Moment ist mir danach, mal was ganz anderes zu machen. Etwas, das eigentlich nicht meinem Naturell entspricht.
»Wer noch Hefte vom letzten Schuljahr hat, kann die gerne weiterverwenden.«, höre ich die Regan sagen.
Verdammt! Ich halte die Kopfschmerzen nicht länger aus. Dass ich die Brille wieder aufsetzen muss, finde ich nicht besonders lustig. Kopfschmerzen sind aber noch blöder. Grrrr. Scheiß Brille.
Mit geschlossenen Augen schiebe ich die Brille wieder auf die Nase und öffne erst das rechte und dann das linke Auge. Ich schrecke zurück. Die Regan steht genau vor mir. Und schaut mich direkt an. Vorsichtig hebe ich den Kopf und begegne ihrem Blick. Ich pflanze ein Lächeln in mein Gesicht.
»Tut mir leid, wenn ich Sie stören muss.«, murmelt sie.
Oh ja. Mir tut es auch leid. Die Regan hat graublaue Augen, die missmutig funkeln. Mit der Spitze ihres Zeigefingers tippt sie immer wieder auf mein Namensschild.
»In Kunst scheinen Sie ja ganz gut zu sein.«, brummt sie.
»Aber an Ihrer Schrift müssen Sie unbedingt noch arbeiten.«
»Frau Regan, warum duzen Sie uns und Kim siezen Sie?«
Die Regan fährt herum.
»Weil Kim schon siebzehn ist.«
»Was?!?«, jault eine Mitschülerin von mir und fängt an zu gackern.
»Pass auf, dass dir keiner abgeht!«, knurre ich und gifte die Regan aus zusammengekniffenen Augen an.
Wie kann sie mich nur vor der ganzen Klasse bloßstellen?
»Das du wäre schon in Ordnung, denke ich.«, murmle ich.
»Okay. Dann eben du. Wenn dann alles geklärt ist, können wir vielleicht mit den Dingen weitermachen, die wirklich wichtig sind.«
Seit wann ist hier irgendetwas wirklich wichtig? Mann, geh endlich wieder weiter. Du nervst.
Als die Regan endlich wieder an der Tafel ist, atme ich vor Erleichterung tief durch. Gott sei Dank. Ich hatte schon Angst, dass sie den Rest der Klassenleiterstunde vor meinem Tisch verbringt. Das würde ich nicht aushalten. Ich habe mich doch extra in die hinterste Reihe verzogen, damit die Lehrer mich in Ruhe lassen. Ich schaue Richtung Tafel und begegne direkt dem Blick von der Regan. Die Gute hat echt schöne Augen. Und eine geile Figur. Für ihr Alter ist sie echt gut in Form. So weit ich das unter ihrem locker sitzenden Oberteil erkennen kann, hat sie ziemlich kleine Brüste.
Mein Herz schlägt schneller. Verdammt. Was ist denn bitte mit mir los? Ich fasse es nicht. Die Regan ist Lehrerin und damit Feindbild erster Güte. Und mein beklopptes Herz schlägt einfach schneller. Wie sie wohl nackt aussieht? Vor Entsetzen schlage ich die Hand vor den Mund und versuche, meine wild gewordene Libido wieder unter Kontrolle zu bringen. Einen Scheiß tut die Libido. Die Bilder, die in meinem Kopf entstehen, haben mit beruhigen ja mal so gar nichts zu tun. Es kommt mir so vor, als würde ein Stimmchen in meinem Kopf mich hämisch auslachen und mir präsentieren, dass ich drauf und dran bin, die Kontrolle zu verlieren. Na, bis zur nächsten Sportstunde wird es nicht lange dauern. Und dann … werde ich die Regan wohl auch nackt zu sehen bekommen. Hui.
»Erde an Kim!«, posaunt Jona und klatscht mir mit der Hand auf den Oberschenkel.
Meine Haut kribbelt.
»Bist du bescheuert? Mich so dolle zu schlagen?«
»Mann, du pennst mit offenen Augen. Oder himmelst du etwa die Regan an?«
»Bullshit. Ich stehe doch nicht auf alte Schachteln.«
»Aber auf Mädchen stehst du? Stimmts?«
Wieder mal rolle ich mit den Augen und frage mich ernsthaft, warum ich mich ausgerechnet neben die nervigste aller Mitschülerinnen setzen musste. Jeder in der Schule weiß doch, dass ich auf Mädchen stehe und dass meine Mutter diesen Umstand nicht besonders gut findet. Das ist kein Geheimnis. Schon lange nicht mehr. Spätestens seit einer Knutschaktion vor ungefähr einem Jahr … Ich grinse schief.
»Ruhe jetzt, da hinten!«, schimpft die Regan.
Ich schicke ein Grinsen in ihre Richtung.
Gott, bin ich froh, wenn dieser Tag vorbei ist. So was von nervig.
U nd du bist sicher, dass deine Mutter nichts dagegen hat?«, fragt Jona während ich mit meinen drei Dosen verschiedener Farben und dem Zeugs zum Haarebleichen an der Kasse stehe und warte, dass ich endlich an die Reihe komme.
»Wen juckt es? Dann nimmt sie mich wenigstens mal wahr.«
»Das meinst du doch nicht so. Deine Mutter ist doch klasse.«
Na, du musst es ja wissen. Du lebst ja auch mit ihr zusammen. Meine Gedanken sind nicht besonders nett. Eigentlich kann Jona gar nichts dafür. Sie weiß es nur nicht besser. Es kotzt mich halt einfach an, dass meine Mutter bei manchen Menschen eine Art Götterstatus inne hat. Dabei ist es doch nichts besonderes, Direktorin eines Gymnasiums zu sein. Ich meine … Eigentlich wollte meine Mutter Chemikerin werden. Aber sie hat keinen Job gefunden. Also hat sie ein paar Semester Pädagogik angehängt und ist Lehrerin geworden.
Ich gebe ja zu, dass sie vermutlich eine ganz gute Chemielehrerin ist. Aber … sie ist halt auch meine Mutter. Die so gut wie nie Zeit hat. Ständig will jemand was von ihr. Mein Bruder Yannick und ich … mussten schon früh lernen, uns selbst durchzubeißen. Dass Yannick mittlerweile in der Stufe über mir ist, hat mich am Anfang mal kurz genervt. Mittlerweile … ist es mir schlicht egal. Ich kümmere mich um mich selbst. Alles andere juckt mich nicht mehr. Sollen doch alle machen, was sie wollen.
Ich will bunte Farbe ins Haar.
Meine voll gepackte Tasche wölbt sich ziemlich auffällig. Ich drücke sie an mich.
»Hey Mutsch. Ich bin wieder dahaaaa!«, rufe ich und versuche, mich an der offenen Küchentür vorbeizuschieben.
Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit kommt sie raus.
»Na, Schatz, wie war dein erster Schultag?«, fragt sie.
»Passt schon.«, gebe ich eine Spur zu wortkarg zurück.
»Warst du noch in der Stadt?«, fragt sie und deutet auf meine Tasche.
»Oh. Ach ja. Ich musste noch Hefte holen.«
»Leg mir den Zettel auf den Tisch, dann bekommst du nachher das Geld zurück.«
Meine Mutter, die taffe Direktorin, macht einen Schritt auf mich zu. Ihre Umarmung ist sachte und vorsichtig.
»Diesmal wird es doch klappen, oder?«
»Logo.«, erwidere ich und kneife ein Auge zu.
»Na hoffentlich. Du musst anfangen, an deine Zukunft zu denken.«
»Das tue ich doch. Aber als Hairstylistin braucht man nicht zwingend das Abi.«
»Hairstylistin. Du und deine Fürze. Willst du wirklich mit über fünfzig noch in einem Salon stehen und älteren Herren die Platte polieren?«
»Das lass mal meine Sorge sein.«
Meine Stimme ist lauter geworden. Ich zittere und bebe. Meine Mutter zittert auch. Mit beiden Händen packt sie mich an den Schultern und zwingt mich dazu, sie anzuschauen.
»Bitte, Kim. Gib dir wenigstens in diesem Jahr Mühe. Wenn du danach die Schule verlassen möchtest, können wir darüber verhandeln. Okay?«
Na, das klingt doch mal nach einem guten Plan. Ich schenke meiner Mutter ein versöhnliches Lächeln, wohl wissend, dass die Stimmung spätestens morgen kippen wird. Denn spätestens dann sieht sie mich mit meinen neuen Haaren.
Endlich ihren Fängen entkommen, verziehe ich mich ins Bad und fange an, mich mit den Farben und dem Zeugs zum Bleichen auseinanderzusetzen. Und dann … lege ich los.
»Bist du verrückt geworden?«, höre ich meine Mutter hinter meinem Rücken schreien.
Grinsend drehe ich mich zu ihr um.
»Toll geworden, oder?«
»Wer hat dir denn bitte ins Hirn geschissen? Du bist doch von allen guten Geistern verlassen. Dir kann man echt nicht mehr helfen.«
Meine Mutter macht auf dem Absatz kehrt. Die Badtür kracht ins Schloss. Meine Mutter stampft so laut die Treppe hinunter, dass das Geländer in der Verankerung quietscht. Ich balle die Hand zur Faust. So. Den Rest des Abends habe ich meine Ruhe. Wie ich die Sache sehe, wird sie mich auch morgen und in den nächsten Tagen in Ruhe lassen. Bestimmt hockt sie jetzt auf ihrem Bett und beweint ihr Schicksal. Ein Sohn, der offensichtlich schwul ist und eine lesbische Tochter, die neuerdings etwas Farbe in ihr Leben bringen möchte. Also, ich freue mich auf morgen. Und auf die blöden Gesichter meiner Klassenkameradinnen.