15. Fiona
M it der Hand am Türgriff schaue ich nachdenklich in die Richtung, in der Kim verschwunden ist. Innerlich schüttle ich den Kopf über mich selbst. Wie konnte ich es nur zulassen, dass sie mich berührt? Und dann noch in der Schule? Ich muss von allen guten Geistern verlassen sein.
Sie hat gesagt, dass sie mich liebt. Sie sagt es nicht nur, sie zeigt es mir auch.
Aber das ist nicht mein einziges Problem. Nach dem Unterricht habe ich einen Termin mit ihrer Mutter, meiner Chefin. Bis vor ein paar Minuten wusste ich nicht, was meine Chefin von mir will, doch mittlerweile ahne ich, worauf das Gespräch hinauslaufen wird. Sie wird mich anflehen, Kim zu überreden, die Schule doch nicht zu verlassen. Ich seufze leise und schüttle den Kopf. In was habe ich mich da nur hinein manövriert? Es macht wenig Sinn, weiter darüber nachzudenken. Deswegen straffe ich die Schultern und drücke den Türgriff hinunter.
Mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen begegne ich meinen Schülerinnen.
Ein Teil meiner Klasse wird mich nach Irland begleiten. Ich weiß, dass die Mädchen aufgeregt sind und den Tag der Abreise kaum noch erwarten können.
Vor Kims Abgang habe ich den jungen Frauen einige Eckdaten unserer Reise erläutert. Nun sind sie an der Reihe und dürfen mich mit ihren Fragen bombardieren.
Wo bleibt eigentlich Kim?
Wie immer, wenn sie auf die Toilette geht, lässt sie sich richtig Zeit. Bestimmt hat sie einen kleinen Zwischenstopp beim Hausmeister eingelegt. Sie liebt seine Wiener-Würstchen. Ein Tag ohne Wiener? Geht für Kim nicht. Das hat sie mir mal erklärt, als ich sie zufällig beim herzhaften Biss in ihr Würstchen erwischt habe, als sie eigentlich im Mathe-Unterricht hätte sitzen sollen.
Es fällt mir nicht ganz leicht, meine Gedanken an Kim abzuschalten. Noch immer fühle ich ihre warme, weiche Hand auf meiner Wange. Mein Bauch kribbelt. Das darf nicht sein. Ich darf Kim nicht mein Herz schenken.
Irgendetwas sagt mir, dass es bereits zu spät ist. Mein Herz schlägt so schnell und so heftig, dass ich es am Hals spüre. Meine Ohren rauschen. Ich fühle mich schwach.
Ein Hoch auf meine Schülerinnen, die mit ihren Fragen dafür sorgen, dass ich mich zumindest ein bisschen dem Boden der Tatsachen nähere.
Ganze fünfzehn Minuten braucht Kim, bis sie ihren süßen kleinen Hintern wieder auf ihren Platz schaukelt. Zufrieden schaut sie aus. An ihren Mundwinkeln klebt ein bisschen Ketchup. Ich werfe ihr einen bitterbösen Blick zu. Sie grinst und leckt sich das Ketchup von den Lippen und aus den Mundwinkeln. Mein Herz bleibt stehen. Im nächsten Moment fängt es an zu rasen. Kim treibt mich in den Wahnsinn.
Ich runzle die Stirn und schaue Kim böse an, doch offensichtlich gibt es im Moment nichts, was ihre gute Laune zerstören könnte.
Mit Hängen und Würgen stehe ich den Rest der Doppelstunde durch. Beim Gongschlag atme diesmal vermutlich ich von allen am meisten auf. Mein Blick folgt meinen Schülerinnen, die eine nach der anderen den Klassenraum verlassen. Kim lässt sich Zeit. Kein Wunder. Sie hat ja schon gegessen.
»Komm in die Gänge!«, rufe ich ihr alles andere als erfreut zu.
Ich mag nicht mit ihr allein in einem Raum sein. Im Gegensatz zu ihr. Sie packt in aller Seelenruhe ihre Sachen ein, wirft den Rucksack über die Schulter und stolziert hoch erhobenen Hauptes im Schneckentempo an mir vorbei.
Ich will schon erleichtert aufatmen, doch statt die Tür hinter sich zu schließen und sich zu entfernen, schließt sie die Tür vor sich, macht auf dem Absatz kehrt und kommt direkt auf mich zu.
»Endlich allein.«, murmelt sie.
»Kann ich kurz deinen Schlüssel haben? Ich würde gerne abschließen, damit uns niemand stört.«
Ich glaube, ich muss langsam Tacheles mit ihr reden. Mit dem Verhalten, das sie mir gegenüber an den Tag legt, überschreitet sie eindeutig eine Grenze. Meine Grenze.
»Ich möchte, dass du jetzt gehst.«, sage ich so streng wie möglich.
»Ich habe nur eine kurze Pause, bevor ich die nächste Klasse mit Wissen füttern muss. Und diese Pause brauche ich für mich.«
Ist das denn so schwer zu verstehen? Anscheinend schon. Kim macht keine Anstalten, sich zu entfernen. Statt zu gehen lächelt sie mich einfach nur an und hält meinem Blick stand.
»Fiona, ich will dich so sehr. Nur einen Kuss. Bitte. Erfülle mir wenigstens diesen Wunsch.«
Kim versucht, Selbstbewusstsein auszustrahlen, doch ich erkenne ihre Unsicherheit ganz genau. In ihren Gesichtszügen. In ihren Augen. Ihrer Körperhaltung. Sie hat Angst. Vor einer Abfuhr. Die ich ihr zweifelsohne geben muss.
Ihr Lächeln ist zuckersüß. Ihr Blick voller Sehnsucht. Ihre Lippen leuchten rötlich. Mein Verstand ist auf dem besten Weg, mich kläglich im Stich zu lassen.
Verdammt. Ich bin doch auch nur eine Frau. Eine Frau mit Gefühlen. Und mit Hormonen, die mir ganz eindeutig signalisieren, worauf es ihnen ankommt. Ein Kuss. Ist nur ein Kuss. Oder? Ich meine … was soll schon passieren?
Ich mache einen Schritt auf Kim zu, dann noch einen. Und noch einen. Schließlich stehe ich direkt vor ihr. Mit zitternden Beinen und klopfendem Herzen.
Vorsichtig lege ich beide Hände auf ihre Wangen, doch dann … ziehe ich mich zurück. Wenn, dann muss der Schritt von ihr ausgehen.
Kim schlingt beide Arme um mich und zieht mich in eine Umarmung. Ihre Lippen auf meinen sind so zuckersüß. So weich und so warm. Zärtlich zupfen Kims Lippen an meinen. Kim öffnet den Mund. Ich … auch. Ich kann nicht mehr denken. Für den Moment fühle ich mich an den Strand von Kreta zurückversetzt. Dieser Kuss ist wie der erste Kuss, den wir miteinander geteilt haben. Kims Zunge dringt in meinen Mund und beginnt mich zärtlich zu streicheln.
Im Moment fühle ich mich unbezwingbar. Mit Kims Zunge in meinem Mund. Was für ein Gefühl. Was für ein wundervolles und süßes Gefühl. Ich halte meine Augen geschlossen. Blende alles um mich herum aus. Es ist, als würde die Zeit stehen bleiben. Ich seufze. Kim stöhnt. Der Schulgong gibt eine Warnung ab. Noch fünf Minuten bis zum Ende der Pause. Ich löse mich widerwillig von Kim. Kim folgt mir und lässt die Unterbrechung unserer intimen Berührung nicht zu. Ihr Lächeln geht mir durch und durch. In ihren Augen lodert ein Feuer. Schlagartig wird mir bewusst, dass ich alles von ihr haben könnte. Ich müsste nur darum bitten und sie würde es mir geben.
Sie erhascht sich einen letzten Kuss und streift wie beiläufig meine Brust. Oh, mein Gott.
»Hör auf!«, schimpfe ich, doch mein sich hektisch hebender und senkender Brustkorb straft meiner Worte Lügen.
Kim lächelt wissend. Sie löst sich von mir, packt ihren Rucksack und geht zur Tür.
»Ich wünsche dir noch einen schönen Tag.«, sagt sie und ist … schwupp … zur Türe raus.
Die nächsten Stunden erlebe ich wie im Traum. Sie schweben an mir vorbei wie Nebelschwaden in einer vom spärlichen Mondlicht erhellten dunklen Herbstnacht. Ich wandle wie auf rohen Eiern und bemühe mich, nicht allzu dämlich zu grinsen. Heute zeige ich mich besonders nachgiebig und ziehe die Stegreifaufgabe, die ich eigentlich in einer achten Klasse schreiben wollte, zurück. Morgen … ist auch noch ein Tag und die achte Klasse läuft mir schließlich nicht davon.
Viertel nach eins tappe ich gähnend durch den Flur auf das Lehrerzimmer zu, doch ich biege nicht wie sonst ab, sondern steuere direkt die Tür der Direktorin an.
Ich klopfe und bereits wenige Sekunden später höre ich ein lautes »Herein!«.
Bauch rein. Brust raus. Schultern gerade. Ich setze ein selbstbewusstes Lächeln auf und betrete das Büro der Schulleiterin. Monika Bernhard hebt den Kopf. Kims Mutter ist nicht besonders groß. Hinter dem Monitor sieht man lediglich ihr Haar und einen Teil der Stirn. Die ältere Frau erhebt sich und kommt auf mich zu. Ihr Lächeln ist ernst.
»Guten Tag, Frau Regan. Danke, dass Sie es einrichten konnten, sich mit mir zu treffen.«
Was hatte ich denn bitte für eine andere Wahl?, denke ich sarkastisch, behalte mein Lächeln aber bei. Die Bernhard braucht nicht zu merken, wie aufgewühlt ich wirklich bin.
»Sie haben sicher eine Vorstellung davon, worüber ich mit Ihnen reden möchte.«
Nöö, habe ich nicht. Ich bin total unwissend.
»Nehmen Sie bitte Platz.«
Meine Chefin deutet auf einen der zwei Sessel an einem niedrigen Tischchen und nimmt mir gegenüber auf dem anderen Sessel Platz. Wie aus dem Nichts taucht unsere Schulsekretärin auf und bringt Kaffee, Tassen, Milch, Zucker und einen Teller voller Kekse. Genauso unauffällig, wie sie den Raum betreten hat, verlässt sie ihn auch wieder und schließt die Tür so übervorsichtig leise, dass ich gerade deswegen zusammenzucke.
Dass ich mit Monika Bernhard alleine in dem Raum sitze, behagt mir nicht. Sie hat einen ähnlich durchdringenden Blick wie ihre Tochter.
»Es geht um Kim.«, fängt die Bernhard an.
»Meine Tochter.«
Denkt die, dass ich ein bisschen doof bin? Als ob ich nicht wüsste, über welche Kim sie mit mir reden will. Allzu groß ist die Auswahl abgesehen davon sowieso nicht.
»Kim hat mir gesagt, dass sie in jedem Fall die Schule nach diesem Schuljahr verlassen möchte.«
Ich zucke mit den Schultern und frage mich einmal mehr, was ich damit zu tun habe. Das ist eine Sache zwischen Mutter und Tochter. Dass ich in diesem Fall außen vor bin, ist doch wohl hoffentlich sonnenklar. In familiäre Auseinandersetzungen möchte ich mich nicht einmischen. So etwas kann nur in einem riesigen Desaster enden.
»Was halten Sie davon?«
Ich zucke mit den Schultern.
»Ich denke, dass Kim sich das ganz gut überlegt hat. Sie sagt, dass sie für ein Jahr Bufdi in einer Behinderteneinrichtung machen möchte.«
»Ach, sie hat mit Ihnen darüber gesprochen?«
Monika Bernhards Augenbraue zuckt gefährlich. Ihre ohnehin nicht besonders üppig ausgefallenen Lippen verwandeln sich in zwei schmale Schlitze. Nun ist höchste Vorsicht geboten.
»Kim hat mich vorhin angesprochen und mich um meine Meinung gefragt.«
Das stimmt so zwar nicht ganz, aber immerhin manövriere ich nicht allzu weit von der Wahrheit entfernt durch unruhige See. Die Wellen schlagen über mir zusammen und ich habe kein Surfbrett und auch keinen anderen Schutz. Und meine Chefin ist der Hai, der mich mit gefletschten Zähnen umkreist und nur auf den passenden Moment wartet, seine Zähne in mein Fleisch zu graben. So fühlt es sich im Moment jedenfalls an. Unauffällig schaue ich mich im Raum um. Die Gestaltung des Büros ist ziemlich kühl und nichtssagend. An der Wand hängen nur ein paar Bilder. Eines zeigt das Schulgebäude und den Lehrerstab von vor … bestimmt fünfzig Jahren. Auf einem anderen Bild ist eine aktuelle Aufnahme zu erkennen. Okay. Fast aktuell. Ich war, als das Foto gemacht worden ist, ganz neu an der Schule.
Ansonsten gibt es nichts, was in irgendeiner Weise Hinweis darauf gibt, wer seine Zeit in diesem Büro verbringt. Nichtssagend. In jeder Hinsicht.
Es riecht nicht mal irgendwie besonders. So wie jedes andere Zimmer in diesem Haus auch. Ein bisschen modrig, ein bisschen nach Käsefüßen und nassen Schwämmen. Und ein bisschen nach Parfum. Das wars dann aber auch schon.
Monika Bernhard setzt sich aufrecht hin. So, wie sie mich anschaut, kommt es mir so vor, als würde sie jedes einzelne Fältchen und jedes einzelne ergraute Haar zählen wollen.
»Sie sind also der Meinung, dass es richtig ist, wenn Kim die Schule verlässt?«
Was soll diese Fragerei? Es ist doch nicht meine Entscheidung. Kim ist achtzehn und somit offiziell in der Lage, selbst über sich und ihr Leben zu entscheiden.
»Das habe ich so niemals gesagt. Drehen Sie mir bitte nicht das Wort im Mund um. Kim hat einen Plan und das ist doch gut so. Viel schlimmer wäre es doch, wenn sie sich einfach so treiben lassen und darauf warten würde, dass der Staat für ihren Unterhalt aufkommt.«
Verausgabt hole ich tief Luft. Es fällt mir sichtlich schwer, ohne persönliche Wertung und Meinung über Kim zu sprechen und mich neutral zu geben.
Auf der einen Seite sitzt ihre Mutter mir gegenüber und erwartet, dass ich … keine Ahnung was mache. Andererseits gibt es da noch Kim. Und mich gibt es schließlich auch noch.
»Sind Sie der Meinung, dass es besser ist, wenn Kim die Schule verlässt, oder sehen Sie die Sache so wie ich? Kim ist intelligent. Sie könnte das Abitur ohne allzu große Anstrengungen schaffen.«
Da sind wir ausnahmsweise mal einer Meinung. Selbst, wenn ich eigentlich nicht möchte, muss ich meiner Chefin recht geben.
Kim ist ein heller Kopf. Und stinkend faul.
Genau da ist das Problem. Kim sieht keine Notwendigkeit darin, ihre Zeit mit Lernen und Schulaufgaben zu vergeuden, vor allem, wenn vor der Tür der Bär steppt.
Einen Moment schließe ich die Augen und gehe in mich. Was soll ich denn jetzt sagen? Was erwartet meine Chefin von mir?
»Also … ähm … «
Ich ärgere mich über mein Stocken.
»Ja?«
Okay. Noch einmal kurz sammeln und dann finden hoffentlich die richtigen Worte den Weg über meine Lippen.
»Ich denke, dass es keine ganz schlechte Idee ist, wenn Kim die Schule nach diesem Schuljahr verlässt. Sie möchte unbedingt ihr eigenes Geld verdienen und auf eigenen Füßen stehen. Es schadet doch nichts, wenn sie sich ausprobiert.«
»Aber das könnte sie doch auch mit einem Ferienjob machen. Ich stehe ihr in keinster Weise im Weg.«
»Sie hat mir erzählt, dass Sie ihrem Plan zugestimmt haben.«
»Das ist es ja. Ich bin jetzt nicht mehr in der Position, in der ich sie für meine Ideen begeistern kann. Aber Sie … Sie sind in genau dieser Position. Und Sie fahren mit ihr nach Irland. Also haben Sie doch mehr als genug Zeit, mit Kim zu sprechen.«
»Wie stellen Sie sich das denn vor?«
»Sie müssen mit ihr reden. Sie sind meine einzige Hoffnung. Wenn SIE ihr sagen, dass sie auf der Schule bleiben soll, dann wird sie das tun. Kim himmelt sie an.«
Oh ja. Allerdings.
Ich unterdrücke ein Grinsen.
»Wenn jemand etwas bei Kim bewirken kann, dann sind Sie das. Denken Sie doch nur mal zurück. Die lächerlichen Frisuren, die sie am Anfang des Schuljahres getragen hat. Sie hat sich komplett verändert. Aus meinem aufmüpfigen Mädchen ist eine junge Frau geworden.«
Genau. So. Ist. Es.
Und diese junge Frau hat ihren eigenen Kopf, worauf meine Chefin eigentlich stolz sein könnte. Nein. Nicht könnte. Sie sollte stolz sein.
Kim ist toll. Außerdem hat sie einen konkreten Plan. Erst ein Jahr Bufdi und dann eine Ausbildung. Wenn ihr das Arbeiten doch nicht so behagt, kann sie immer noch das Abi nachholen und studieren. Wobei ich mir Kim nur so halb als Studentin vorstellen kann.
Kim hasst Theorie und tut sich besonders schwer, wenn es darum geht, stupide auswendig zu lernen. Dafür hat sie ein großes Herz und ist mitfühlend und einfühlsam. Fähigkeiten, die man mit keinem Schulabschluss der Welt erwerben kann.
Aber das brauche ich ihrer Mutter wohl eher nicht zu erzählen, da sich mit einem großen Herzen und Einfühlsamkeit nun mal schlecht Geld verdienen lässt.
Kim tut mir leid.
Monika Bernhard tut mir auch leid.
Ich tue mir selbst leid.
In was für eine blöde Situation bin ich da nur wieder hinein geraten? Ich würde jetzt gerne meinen Telefonjoker Julia anrufen. Julia hat für so gut wie jede Situation eine Idee und wenn nicht, dann hat sie wenigstens einen tröstenden Spruch auf Lager.
»Bitte nutzen Sie die Möglichkeit und reden Sie mit Kim.«, fleht Monika Bernhard.
»Okay. Aber versprechen kann ich nichts. Das muss Ihnen bewusst sein.«
Meine Chefin strahlt mich an. Sie steht auf und hält mir die Hand hin.
»Vielen Dank. Ich weiß Ihren Einsatz sehr zu schätzen. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Feierabend.«
Na, vielen Dank auch. Damit bin ich also entlassen. Still vor mich hin grummelnd latsche ich durch die inzwischen nahezu vollkommen leeren Flure und lege einen Stopp beim Hausmeister ein. Er reicht mir ein Brötchen. Und ein paar Wiener. Mit einem Seufzer, der tief aus meiner Brust kommt, lasse ich mich auf einem der Picknicktische im Außenbereich nieder und beiße herzhaft in die Würstchen. Gott sei Dank. Endlich Feierabend.
Nächste Woche geht es los. Nach Irland. In meine Heimat. Diese Aussicht beschert mir sehr gemischte Gefühle.
Wir werden gar nicht weit von meiner Familie entfernt sein. Und doch habe ich bis jetzt noch niemandem etwas gesagt.
Ich will nicht, dass sie sich falschen Hoffnungen hingeben. Das Programm ist ziemlich voll. Keine Ahnung, ob ich die Möglichkeit, meine Eltern, Geschwister und Großeltern zu sehen, überhaupt bekomme.
Wenn alles dumm läuft, kann ich ihnen bestenfalls eine Ansichtskarte schicken. Meine Gedanken nehmen eine zynische Richtung ein. Klar freue ich mich auf Irland. Irgendwie. Aber irgendwie eben auch nicht. Warum meine Gefühle so widersprüchlich sind? Hallo? Ich werde viel Zeit mit Kim verbringen. Müssen.
Dafür hat Kims Mutter schon gesorgt, in dem sie Kim in der gleichen Frühstückspension wie mich untergebracht hat. Da Kim die Schule nach den Sommerferien verlassen wird, bekommt sie keine Austauschschülerin und übernachtet deswegen automatisch in einer Pension. Sie fährt also nur mit, weil ihre Mutter es so will. Frau Direktorin ist zwar in der Regel recht fair, wenn es um ihre eigenen Kinder geht, versteht sie jedoch nur ziemlich wenig Spaß. Oder eher gar keinen.
Wüsste Monika Bernhard, wie sehr ihre Tochter sich zu mir hingezogen fühlt, hätte sie einen Teufel getan und sie weit, weit weg von mir untergebracht. Ich kann mir gut vorstellen, dass sie Kim in diesem Fall gerne auf den Mars geschickt hätte. Oder mich. One Way Ticket. Versteht sich von selbst.
Wenn sie dann auch noch wüsste, dass auch ich auf dem besten Weg bin, mich … zu … verlieb … Oh Mann, es reicht schon aus, dass ich nur kurz an Kim denke. Schon veranstaltet mein Herz seltsame Verrenkungen.
Ich weiß, dass es nicht sein darf. Aber ich kann mich kaum noch dagegen wehren. Meine immer heißer auflodernden Gefühle haben offensichtlich nicht vor, sich von mir bändigen zu lassen. Sie entgleiten nahezu vollständig meiner Kontrolle.
Wäre Kim noch immer die kleine arrogante und verwöhnte Arschloch-Diva, als die sie sich am Anfang präsentiert hat, wäre es einfach. Aber... so ist es eben nicht. Schon lange nicht mehr.
Kim entwickelt sich immer mehr zu einer faszinierenden jungen Frau. Dass sie, vermutlich auch wegen mir, die Schule verlassen will, behagt mir zwar auch nicht, doch irgendwie … kann ich sie sogar ein bisschen verstehen. Gerade, wenn man wie Kim die Dinge hinterfragt und nicht alles als gegeben hinnimmt, dann kann die Schulzeit zum wahrsten Spießrutenlauf werden.
Kim kennt sich selbst ziemlich gut. Wieder eine Eigenschaft, die es mir schwer macht, sie einfach nur als Schülerin zu sehen. Außerdem küsst sie gut. Atemberaubend gut. Jeder Kuss von ihr war wie eine Erlaubnis, einen tiefen Blick in ihre Seele zu riskieren.
Kim steckt so voller Emotionen, sowohl in negativer, als auch in positiver Hinsicht. Mann, Mann, Mann, was macht die junge Frau nur mit mir? Wie konnte es ihr gelingen, sich einfach so in mein Herz zu schleichen? Wie konnte es ihr gelingen, dass ich mich nach ihr zu sehnen beginne und unserer Zeit in Irland mit gewisser Aufregung entgegen fiebere?
Die Stimme, die immer wieder Du darfst nicht sagt, wird immer leiser. Ich weiß, dass ich nicht darf. Und trotzdem … Verdammt! Ich bin auf dem besten Weg einen Direktflug in die Hölle zu buchen. Das Schlimmste ist, dass es mich nicht mal stört.
Mein Leben war immer so schön sortiert. Ich bin keine Frau, die die Dinge dem Zufall überlässt. Es einfach laufen zu lassen, macht mir Angst. Doch Kim schafft es mit ihrer Leichtigkeit und Offenheit sogar diese Angst zu zerstreuen. Sie sorgt dafür, dass ich mich von einer ganz anderen Seite kennenlerne. Von einer Seite, die mir fremd ist. Mir ist klar, dass ich aufpassen muss. Höllisch aufpassen sogar. Kim ist ein … so wundervoller und besonderer Mensch. Ich will nicht, dass sie verletzt wird. Am Allerwenigsten von mir.
Was soll ich nur tun?
Wie stelle ich es an?
Wie hart bin ich mit Kolleginnen und Kollegen ins Gericht gegangen, wenn sie dem Reiz ihrer Schülerinnen oder Schüler erlegen sind und eine versteckte Affäre mit ihnen begonnen haben. Eine Affäre, die früher oder später doch noch aufgedeckt wurde.
Ich konnte nie nachvollziehen, wie es passieren kann, dass Lehrkräfte sich in Schülerinnen oder Schüler verlieben. Bis vor kurzem. Mittlerweile muss ich am eigenen Leib erfahren, dass auch wir nur Menschen sind. Menschen, die Fehler haben und Fehler machen. Aber auch Menschen, die ein Herz und Gefühle besitzen.
Natürlich haben wir eine Vorbildfunktion. Das ist es ja gerade, womit ich mich zusätzlich herum quäle. Ich darf mich Kim nicht öffnen. Noch nicht.
Ich muss mit ihr reden. Heute noch.
Eine Spur zu hektisch tippe ich eine Nachricht an Julia in mein Handy in der Hoffnung, dass sie Kims Nummer über Lena herausbekommt.
In diesem besonderen Fall ist es durchaus von Vorteil, dass Lena so hartnäckig war und Julia für sich gewonnen hat.
Nach ein paar Minuten, in denen ich mein Handy pausenlos anstarre, klingelt das Telefon.
Julia. Ich grinse sanft.
»Hey Süße.«, flötet sie.
An ihrer Stimme erkenne ich, dass sie lächelt. Außerdem ist meine beste Freundin und engste Vertraute mehr als nur ein bisschen aufgeregt. Auch das lässt sich aus ihrer Stimme heraushören. Ich lausche Julias Worten.
»Lena kommt heute Abend zu mir zum Essen. Komm doch auch dazu.«
Ich springe auf.
»Autsch!«, knurre ich und reibe mir das Knie.
Knie und Tischkanten verstehen sich nun mal nicht so besonders gut. Verdammt. Morgen habe ich bestimmt einen blauen Fleck. Einen neuen blauen Fleck.
»Na klar. Ich eigne mich ja auch so gut als fünftes Rad am Wagen.«, knurre ich gereizt.
»Lena hat Kim auch eingeladen.«
Ich greife mir an den Kopf. Stechender Schmerz zieht mir vom Nacken über den Hinterkopf bis zur Stirn. Ich fühle mich ausgelaugt.
»Seid ihr von allen guten Geistern verlassen?«, brumme ich mit einem Hauch Ärger in der Stimme.
»Ich will schon selbst bestimmen, wann ich …«
»Beruhige dich. Wir wollten dir ganz bestimmt nichts Böses. Wir dachten nur, dass ein zwangloses Zusammensein eine gute Idee wäre. Vor allem, weil du nächste Woche mit Kim nach Irland fährst.«
»Ich fahre nicht mit Kim.«
Ich bin auf hundertachtzig.
»Mann, Fiona. Hörst du dich selbst reden?«
Oh ja. Das tue ich. Ich klinge wie ein zickiger Teenager, dessen Hormone Samba tanzen. Im Moment mag ich mich selbst nicht besonders und frage mich einmal mehr, was eine so einfühlsame und attraktive und vor allem blutjunge Frau wie Kim nur von mir will. Warum hat sie ausgerechnet an mir einen Narren gefressen?
»Du wehrst dich mit Händen und Füßen.«, sagt Julia nach außen hin völlig gelassen.
Ich bin nicht gelassen.
»Und ich dachte, du bist meine Freundin und verstehst mich.«, jammere ich.
»Das tue ich doch auch. Aber … hey … Kim ist ein paar Jahre jünger als du. Na und? Wo ist das Problem? Sie ist ziemlich reif für ihr Alter. Und sie will dich. Sie zeigt es dir mit jedem Wort, das sie sagt, mit jedem Blick, mit jeder Geste und mit allem, was sie entscheidet und umsetzt.«
Ich atme ein paar Mal tief durch. Meine Beine fühlen sich so elendig schwach an. Das ist nicht lustig. Alles in mir schreit danach, mich wieder hinzusetzen, doch ich habe keine Ruhe. Also beginne ich zu laufen. Ich laufe einfach los. Verlasse das Schulgelände und schlage den Weg Richtung Wald ein. Endlich mal ein Vorteil, dass unsere Schule am Waldrand liegt. Wenn man Ruhe sucht, geht man einfach in den Wald. In diesen Wald verirren sich bestenfalls ein paar Leute mit ihren Hunden. Oder vielleicht Pilzsammler. Sonst ist dieser Ort herrlich ruhig und einsam. Genau das Richtige für mich.
Julia redet und redet und redet und erzählt mir von Kims Vorzügen. Sie tut gerade so, als würde ich die nicht selbst kennen.
Dass sie ausblendet, wie ausweglos unsere Situation ist, regt mich langsam immer mehr auf.
Mit »Kim ist meine Schülerin und ich bin ihre Lehrerin.«, erkläre ich das Offensichtliche, das Julia anscheinend nicht sehen will.
»Das ist mir schon klar. Du betonst es ja oft genug.«
Julia lacht leise. Mir ist nicht nach lachen zumute.
Was ist mit Julia passiert? Wo ist meine rational denkende Freundin abgeblieben?
Gerade jetzt brauche ich sie so sehr, aber seit sie ihre Gefühle für Lena entdeckt hat, ist mit ihr nicht mehr viel anzufangen.
Sie läuft mit Grinsegesicht durch die Welt und tut so, als würde der Himmel voller rosa Herzchenwolken hängen. Aber so leicht, wie sie es darstellt, ist es eben nicht.
Kim ist nun mal jung. Blutjung sogar.
Wenn sie vierzig ist, gehe ich schon hart auf die sechzig zu. Das muss Julia doch auch erkennen. Und Kim.
Ich will nicht daran denken, was passiert, wenn Kim aus dem Film, der sich wo auch immer bei ihr abspielt, aufwacht und merkt, dass ich eben nicht blutjung bin, sondern eine alte Schachtel. Als ich in ihrem Alter war, galten Frauen jenseits der zwanzig bereits als scheintot. Zum achtzehnten haben wir uns früher Karten mit Einladungen zum Seniorenkaffee geschenkt. So viel hat sich in diesem Punkt vermutlich nicht verändert.
Wenn ich mir die Erlaubnis geben sollte, mich irgendwann auf Kim einzulassen, dann laufe ich jeden Tag Gefahr, dass sie aufwacht und merkt, wie alt ich schon bin. Und dann wird sie mich verlassen. Für eine Frau in ihrem Alter.
»Was ist dann?«, keife ich eine Spur zu laut.
»Das kann dir immer passieren. Liebe ist immer ein bisschen wie ein Tanz auf einem viel zu dünnen Seil in schwindelerregender Höhe. Du kannst fallen. Aber du kannst auch … Du weißt schon, was ich meine.«
Julia ringt um Worte. Dass sie sich so für Kim einsetzt, dass ihr zwischenzeitlich sogar die Puste ausgeht, rührt mich irgendwie an. Auf der anderen Seite wäre es mir lieb, wenn sie mir den Kopf waschen und mir sagen würde, was für eine bekloppte Pute ich bin und das ich kurz davor stehe, meine mühsam erarbeitete Karriere in den Sand zu setzen.
»Schatz, darf ich ganz ehrlich sein?«, fragt sie unvermittelt.
»Ich bitte darum.«, gebe ich zurück, obwohl ich mir nicht mal ansatzweise sicher bin, ob ich wirklich bereit bin, mir das Ergebnis von Julias hochgeistigen Ergüssen anzuhören.
Ich liebe Julia. Wirklich. Vermutlich sogar mehr als meine eigene Schwester. Sie ist meine engste Vertraute. Im Moment bin ich allerdings leicht angeschlagen. Deswegen bin ich auch so viel unsicherer als im Normalfall.
»Bist du dir ganz sicher, dass du hören willst, was ich zu sagen habe?«
»Ja.«, knurre ich.
»Ich denke schon.«
»Gut, Süße. Dann hör mir mal gut zu. Du bist in Kim verliebt, oder zumindest auf dem Weg dahin. Das passt nicht in das Weltbild, das du dir all die Jahre zurechtgelegt hast.«
Bis jetzt passt jedes Wort wie Arsch auf Eimer. Unwillig brumme ich vor mich hin, höre Julia aber weiterhin zu.
»Ich weiß, wie hart du mit Kolleginnen und Kollegen ins Gericht gegangen bist, wenn sich einer aus Versehen in einen Schüler oder eine Schülerin verliebt hat. Du hast immer gesagt, dass so etwas nicht passieren darf. Und jetzt … bist du selbst in so einer Situation.«
Grrrrr. Ich habe das Gefühl, dass mir bei jedem von Julias Worten ein neues graues Haar wächst.
»Gefühle haben die Eigenart, dass sie uns nicht um Erlaubnis fragen. Sie sind einfach da. Du weißt genauso gut wie Lena und ich, dass Kim alles tun würde, um dich glücklich zu machen. Wenn es sein müsste, würde sie dir sogar die Sterne vom Himmel holen.«
Genau das würde sie vermutlich tun, wenn ich sie darum bitten würde. Ein leichtes Lächeln huscht über meine Lippen.
»Du hast Angst. Das verstehe ich auch. Vor allem, weil ihre Mutter keine Geringere als deine Vorgesetzte ist.«
Oh weh. Von einem stechenden Schmerz in der Herzgegend gepeinigt, jaule ich auf. Das ist doch alles nicht mehr auszuhalten. Ich sollte mich eingraben. Oder verschwinden. Irgendwo neu anfangen. An einem Ort, an dem mich niemand kennt.
»Ich weiß, dass du Kims Gefühle für dich erwiderst. Aber du läufst davon. Schau mal. Es sind doch nur noch ein paar Wochen. Außerdem ist Kim mittlerweile achtzehn.«
Achtzehn. Ja. Ja, verdammt. Das ist sie. Und ich bin über dreißig.
»Und wenn Kim dreißig ist, bin ich auf dem Weg zur fünfzig. Hast du darüber schon mal nachgedacht?«, motze ich.
»Klar habe ich das. Aber so ist das nun mal. Dein Herz zeigt dir, was es will. Und wenn es sich eben für eine jüngere Frau erwärmt, dann ist das so. Du kannst daran nicht viel ändern. Wenn du davonläufst, wirst du dich immer mit der Frage herum quälen müssen, was du verpasst hast.«
Scheibenkleister. Ich kann nicht mehr. Bin am Ende meiner Kraft. Mit einem Stöhnen lasse ich mich auf einen Stamm fallen und strecke die Beine weit von mir.
»Komm heute zu mir und lass uns zu viert einen netten Abend verbringen.«
Nein. Nein, das kann ich nicht. Dazu bin ich nicht bereit. Ich schüttle den Kopf.
Ich hatte mit Kim sprechen wollen. Ihr sagen, dass sie mich aus ihrem Leben streichen soll. Selbst, wenn es mir das Herz zerreißt, war das der einzige Grund, warum ich Kims Nummer haben wollte.
Ich kann nicht mehr. Mir ist das alles viel zu viel. Die Verantwortung ist mir zu groß. Dass mein Herz schmerzt, versuche ich zu ignorieren.
Ich muss all die schönen Gefühle, die Kim mit ihren Küssen und ihren Blicken und der Art, wie sie mit mir umgeht, auslöst weit von mir schieben.
Julia ist meine beste Freundin. Es ist ihre Aufgabe, mir zu sagen, dass ich ein riesiger Idiot bin, wenn ich meine Karriere so leichtfertig aufs Spiel setze.
»Du bist ein Idiot, Fiona Regan.«
Na endlich sagt sie es mal.
»Wenn du weiterhin vor Kim davonläufst und so tust, als würde sie dich nichts angehen. Kim hat es nicht verdient, dass du sie von dir weg schiebst.«
Mein Herz bricht in tausend Teile. Mindestens.
Warum macht Julia mir jetzt auch noch ein schlechtes Gewissen? Ich mache mich doch sowieso schon die ganze Zeit fertig und kann kaum noch klar denken.
Meine Gefühle drehen am Rad. Ich drehe am Rad. Das ist doch alles … eine … schön … e … Scheiße.
Wie ich es auch drehe und wende. Das Ergebnis bleibt immer gleich. Gleich schlecht.
Die Sache kann nicht gut ausgehen. Nicht im normalen Leben. In Liebesromanen … vielleicht, aber doch nicht in der realen Welt.
»Rede wenigstens mit Kim.«
Das hatte ich doch vor. Ich neige den Kopf und schlage die Hände hinter dem Hals übereinander.
»Okay. Ich komme vorbei.«, sage ich zerknirscht.
»Das ist das erste vernünftige Wort, das ich in der letzten dreiviertel Stunde von dir gehört habe.«, stellt Julia lakonisch fest und ich werfe einen Blick auf die Uhr.
»Was? Schon so spät? Mist! Ich muss doch noch eine Englischarbeit korrigieren.«
»Mach dich mal locker. Bis heute Abend sind noch ein paar Stunden. Wo bist du eigentlich?«
»Im Wäldchen hinter der Schule. Julia, sei mir nicht böse, aber ich muss los.«
»Schon okay. Süße … ich liebe dich und ich wünsche mir doch nur, dass du glücklich bist.«
»Ich weiß. Danke für alles. Jetzt muss ich aber wirklich die Beine in die Hand nehmen. Sonst kriege ich meine Sachen nicht mehr auf die Reihe. Bis später.«
S o ein Mist. Ich kann mich nicht konzentrieren. Ständig driften meine Gedanken ab. Zu Kim. Zu dem Gespräch, das ich heute Abend unbedingt mit ihr führen muss. Und zu meinem Gespräch mit Julia.
Julia ist die Beste. Ich wüsste nicht, was ich ohne sie täte.
Ich lese einen Satz zum vierten Mal. Dummerweise ist er immer noch genauso falsch wie am Anfang. In Momenten wie diesen frage ich mich ernsthaft, was meine Schülerinnen und Schüler treiben, während ich alles gebe, um ihnen die englische Grammatik näher zu bringen. Gefühlt rollen sich mir die Zehennägel hoch. Manche Sätze sind absolut unerträglich.
Missmutig lege ich die Arbeit zur Seite und durchsuche den restlichen Stapel nach dem Namen der besten Schülerin. Diese Arbeit wird mir wenigstens die Laune nicht vermiesen.
Ich überfliege Satzbau und Wortwahl und mache ein Häkchen hinter die einzelnen Sätze.
Dann jedoch … driften meine Gedanken wieder ab. Den Rest der Arbeit muss ich mindestens fünfmal lesen, bis ich verstehe, worum es überhaupt geht. Ob hier eines der Probleme zu finden ist?
Ein großer Teil meiner Schülerinnen und Schüler steckt mitten in der Pubertät. Die Phase des Umbaus ist weder für sie, noch für ihre Eltern leicht. Für uns Lehrkräfte ist diese Phase auch nicht einfach. Dafür meistens ziemlich anstrengend. Die jungen Leute sind mit allem Möglichen beschäftigt. Kein Wunder, dass die Leistungen auf der Strecke bleiben. Vielleicht sollte man mal darüber nachdenken, die Schule für die Jahre der Pubertät auszusetzen. Ganz bestimmt würden einige meiner Schülerinnen und Schüler mehr erreichen, wenn sie die Zeit bekämen, die sie brauchen.
Aber … so geht das eben nicht. Nirgendwo auf der Welt.
Nach dieser Arbeit gebe ich auf. Es macht sowieso keinen Sinn. Ich kann mich nicht konzentrieren.
Meine Gedanken drehen sich im Kreis. Mein Herz flattert. Ständig ruft mein Kopf Bilder von Kim auf.
Wie sie sich am Strand in der Sonne geräkelt hat. Wie sie sich auf dem Roller an mir fest geklammert hat. Wie sie neckisch die Sonnenbrille ins Haar geschoben und mich angeschaut hat. Ihre Blicke gehen mir durch und durch und treffen mich immer wieder an Stellen, an denen sie mich nicht treffen sollten. Mein Bauch zwickt. Mein Unterleib zieht sich zusammen. Ich brauche eine Dusche. Am Besten eiskalt. Ich hasse kalt duschen, aber manchmal gibt es keine Alternativen.
Es fällt mir nicht ganz leicht, meinen Lieblingsplatz auf der Dachterrasse zu verlassen.
Nach einer ausgiebigen Dusche stehe ich vor dem Kleiderschrank und betrachte den Inhalt mit gerunzelter Stirn. Eigentlich sollte ich mir keine Gedanken über mein Outfit machen und einfach anziehen, wonach mir ist, aber aus irgendwelchen unerklärlichen Gründen geht genau das nicht.
Meine Entscheidung fällt auf ein weißes Sommerkleid aus leichtem Stoff. Dieses Kleid mag ich sehr gerne. Ein leises Stimmchen in meinem Hinterkopf lacht mich eiskalt aus. Ja. Ja. Ich gestehe ja schon. Ich gebe ja schon zu, dass ich mir ein bisschen erhoffe, dass auch Kim das Kleid lieben wird.
Okay. Jetzt ist es raus.
Kim ist mir wichtig. Sehr wichtig sogar. Wahrscheinlich sogar noch mehr als das. Aus irgendwelchen Gründen wünsche ich mir, dass ihr gefällt, was sie sieht, obwohl ich ihr doch eigentlich sagen muss, dass sie mich vergessen soll. Hoffentlich bekomme ich es hin. Ich muss es tun. In erster Linie für sie. Damit sie an der Schule bleibt und ihr Abi macht. Und ich den Job, den ich meistens gerne mache, behalten kann.
Ich mag meinen Job. Ich mag meine Kolleginnen und Kollegen. Zum Teil zumindest. Die Schülerinnen und Schüler mag ich auch. Aber vor allem mag ich mein Zuhause, das ich mir so schön hergerichtet habe. Die Stadt, in der ich lebe, mag ich auch. Ich fühle mich hier zuhause und habe Freunde, die mir viel bedeuten.
Aus all diesen Gründen muss ich es schaffen, mit Kim zu reden und ihr den Kopf gerade zu rücken. Selbst wenn es für mich bedeuten wird, dass ich für den Rest meines Lebens einer vertanen Chance hinterher trauere.
Für einen kurzen Moment denke ich darüber nach, das Kleid wieder auszuziehen und einfach kurze Hose und Shirt anzuziehen. Lange dauert dieser Moment nicht. Ich drehe mich vor dem Spiegel und schenke meinem Spiegelbild ein Lächeln. Dann verlasse ich die Wohnung und schlage den Weg Richtung Julia ein.
Wie so oft laufe ich. Das gibt mir ein gutes Gefühl. Ich bewege mich an der frischen Luft und tue etwas für meine Gesundheit. Außerdem ist das Wetter so schön. Natürlich hätte ich auch das Rad oder das Cabrio nehmen können. Aber... nein. Laufen ist okay.
Außerdem bleiben Julia und ich selten bei einem Glas Wein. Wie auch immer. Ich muss meinen Fokus auf das bevorstehende Gespräch mit Kim lenken. Alles andere ist erst einmal nebensächlich.
Wenn Julia und ich uns bei ihr treffen, nutze ich immer den Schlüssel, den sie mir vor Jahren gegeben hat. Heute entscheide ich mich jedoch fürs Klingeln.
Mein Herz klopft so hektisch.
Mir wird ein bisschen mulmig.
»Ja, bitte?«, fragt Julia so außer Atem, dass ich mich frage, wobei ich sie wohl gestört habe.
»Mach schon auf.«
»Du hast doch eigentlich einen Schlüssel.«
»Mahaann, Julia.«
»Okay. Okay.«
Es summt. Ich schiebe die Tür auf und betrete das Haus. Julia nennt, genauso wie ich, eine große Dachgeschosswohnung ihr eigen.
Der Nachteil an dieser Wohnung ist, dass ich weit hinauf laufen muss, da es in diesem Haus keinen Aufzug gibt. Dafür ist die Aussicht von der Terrasse, zu der die zwei oberen Wohnungen einen direkten Zutritt haben, ein Traum. Einziger Nachteil ist, dass die Terrasse nicht unterteilt ist. Somit kann Julia sich nicht annähernd so frei bewegen wie ich.
Sechs Stockwerke muss ich mich hoch quälen. Sechs verdammte Stockwerke.
Oben angekommen fühle ich mich wie eine alte Schachtel.
»Tür ist offen!«, schallt es von innen.
Ich atme tief durch und betrete die Wohnung. Freudiges Gelächter weht mir entgegen. Es riecht nach Knoblauch und Zwiebeln. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen.
Wie immer, wenn ich bei Julia bin, steuere ich direkt die Küche an. Und bleibe wie angewurzelt stehen.