19. Fiona
M ir geht die Busfahrerin auf die Nerven. Ständig versucht sie, mich zum Essen einzuladen. Sie baggert so offensichtlich, dass es allmählich in Anstrengung ausartet.
Dabei habe ich ihr gesagt, dass ich eine Freundin habe, doch … das interessiert sie herzlich wenig.
Es sieht sogar so aus, dass sie sich dadurch noch mehr angestachelt fühlt. Ich weiß nicht, was ich ihr noch sagen soll. Zu schade, dass Kim und ich nicht offen zu uns stehen können.
Ein Lächeln umspielt meine Lippen. Ich muss an den gestrigen Tag denken.
Wir waren mit der gesamten Gruppe bei den Klippen von Moher und sind den ganzen Weg bis zum Ende der Klippen gelaufen. Einige der jungen Leute waren so beeindruckt von den imposanten Klippen, dass sie außer »Wow.« kein Wort mehr über ihre Lippen gebracht haben.
Auch Kim gehörte zu diesen jungen Leuten. Sie hat so viele Bilder gemacht, dass ich mich schon frage, wie viel Platz sie auf ihrem Handy hat.
Als wir auf dem Rückweg waren, musste Kim plötzlich pinkeln. Sie hat sich zurückfallen lassen. Natürlich kann ich das nicht einfach so akzeptieren. Schließlich tragen mein Kollege und ich die Verantwortung für die jungen Leute. Also habe ich ebenfalls gewartet, bis sie sich endlich aus gepinkelt hatte. Der Rest der Gruppe war außer Sichtweite. Kim kam zu mir. Ihr Lächeln war so... zuckersüß, dass ich mich gefragt habe, ob sie wirklich pinkeln war.
»Komm her.«, hat sie gewispert und die Arme für mich geöffnet.
Ich bin zu ihr gegangen. Mit klopfendem Herzen.
Meine süße kleine Kim. Meine süße freche Kim. Meine süße clevere Kim.
Kim hat mich ganz fest in den Arm genommen. Eng umschlungen standen wir fast zweihundert Meter über dem Atlantik. Über uns der Himmel. Unter uns die tosende See. Dieser Moment war einer der romantischsten, den ich je erlebt habe.
Kim hat die Hand über ihre Augen gelegt und in die Ferne geschaut.
»Wahnsinn.«, hat sie gemurmelt.
»Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass auf der anderen Seite des Ozeans schon Amerika ist.«
Dann hat sie ihren Kopf an meine Schulter gelegt. Ich habe ihrem Herzschlag gelauscht. Obwohl Kim unübersehbar aufgeregt war, hat ihr Herz ganz ruhig geklopft. Meines nicht.
Sobald Kim in meiner Nähe ist, kann ich mich kaum noch beruhigen. Ständig muss ich ihre Nähe suchen. Jede noch so kleine Berührung von ihr sauge ich auf wie ein trockener Schwamm.
Das ist unmöglich. Ich weiß. Aber ich genieße es. Mein Hirn … hat sich abgeschaltet. Nun übernehmen Herz und Seele die Regie.
Ich kann nichts dafür. Ich habe es ja versucht. Aber es hat nicht geklappt.
Es wird jeden Tag ein bisschen schwerer, mich an die Regel, die wir gemeinsam mit Julia aufgestellt haben, zu halten. Mittlerweile ist es schon so schlimm, dass mein Bauch und der Unterleib zu schmerzen beginnt. Lange wird das wohl nicht mehr gut gehen. Das Bedürfnis, Kim zu berühren und sie so zu lieben, dass ihr Hören und Sehen vergeht, wird jeden Tag größer. Ich muss gestehen, dass ich fast ein bisschen erleichtert bin, dass die Busfahrer im gleichen Bed & Breakfast wie Kim und ich untergebracht sind. Das macht es ein bisschen leichter, mich zu bremsen. Kim schaut zuckersüß aus, wenn sie morgens aus dem Bett krabbelt und mit zerknautschter Frisur zum Frühstück tappt.
Ich kann nicht anders, ich muss sie einfach lieben. So falsch es dem ein oder anderen vielleicht erscheinen mag.
Ich werde meine Schülerin nicht verführen. Solange sie meine Schülerin ist. Danach … Ich kann für nichts garantieren. Obwohl … Doch, das kann ich. Ich kann garantieren, dass ich mich danach nicht mehr zurückhalten werde können.
Natürlich ist der Altersunterschied auch danach noch gegeben. Aber … der stört mich schon gar nicht mehr. Wenn Kim in meiner Nähe ist, fühle ich mich wieder jung. Die ungestüme und lebenslustige junge Frau zieht mich einfach mit.
Wir haben ein straffes Tagesprogramm. Gemeinsam mit den Austauschpartnern meiner Schülerinnen und Schüler unternehmen wir Ausflüge und besuchen die eine oder andere Unterrichtsstunde. Sobald wir alle Schüler am Abend bei ihren Austauschfamilien untergebracht haben und wir in der Frühstückspension angekommen sind, fällt der Druck, der den ganzen Tag auf mir lastet, von mir ab.
Mein Kollege hat kein besonders großes Interesse daran, die hiesige Pub-Welt zu erkunden. Er nutzt jeden Moment, den er bekommen kann, um sich zurückzuziehen.
Bis auf die Tatsache, dass die Busfahrerin ständig versucht, mich zum Essen einzuladen, ziehen sich die Busfahrer meistens auch zurück, oder unternehmen etwas zusammen. Auch auf ihnen lastet hoher Druck. Eine Horde lärmender Pubertierender durch die Gegend zu schippern, ist auch nicht ganz einfach. Hinzu kommt das ungewohnte Fahren auf der verkehrten Straßenseite. Während der letzten Tage war es mehrmals zu brenzligen Situationen gekommen, die sie aber gut gemeistert haben.
Als die Busfahrerin nach einem besonders heiklen Ausweichmanöver ziemlich wütend ins Mikro gebellt hat, konnte ich sie sogar ein bisschen verstehen.
Ich bin müde und fühle mich ausgelaugt. Noch sechs Tage, dann geht es wieder nach Hause.
Von meiner Familie habe ich noch niemanden getroffen, obwohl sie nicht weit weg wohnen.
Wieder einmal sitze ich mit dem Handy in der Hand auf dem Bett und starre die Nummer meiner Eltern an. Soll ich? Oder soll ich es lieber lassen? Ich fühle mich hin und her gerissen.
Es klopft an die Tür. Dankbar für die Zerstreuung meiner Gedanken tappe ich zur Tür und öffne sie. Kim steht vor mir. Sie hat sich herausgeputzt und strahlt mich mit dem spitzbübischen Grinsen, das ich so sehr mag, an.
»Hey Süße.«, sagt sie leise.
»Hast du Lust, ein Bier mit mir trinken zu gehen?«
Eigentlich bin ich faul. Außerdem habe ich meine Klamotten bereits gegen bequeme Shorts, die mehr zeigen, als dass sie verbergen, ausgetauscht. Kims Blick gleitet über meinen Körper. Sie schnappt nach Luft. Meine Blicke folgen ihren. Ich halte die Luft an.
Verdammt! Ich trage keinen BH. Meine Nippel haben sich unter dem Stoff meines Oberteils aufgerichtet.
»Äh. Ähm … «
Kim kratzt sich am Kopf. Wie süß.
Ich schaue mich um. Niemand zu sehen.
Keine gute Idee. Wirklich nicht. Aber … grrrrr.
Ich greife nach Kims Hand und ziehe die junge Frau hinter mir her ins Zimmer. Dann schließe ich die Tür. Kim starrt mich mit vor Überraschung geweiteten Augen an. Sie zittert, wenn auch nur ganz leicht.
Ich mache einen Schritt auf Kim zu, um sie in die Arme zu schließen, doch Kim wirbelt um mich herum und ehe ich mich versehe, befinde ich mich mit dem Rücken an der Wand.
Kim strahlt mich an. Sie leckt sich über die Lippen.
»Ich liebe es, wenn du hilflos bist.«, keucht sie.
Mein Herz fängt an zu rasen. Ich fühle mich tatsächlich ziemlich hilflos und weiß nicht, was ich tun soll.
Kim drückt sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen mich. Ihre Brüste pressen sich gegen meine. Sie hebt ihr Bein, so dass ihr Knie fast wie von selbst zwischen meine Schenkel gleitet.
Ich stöhne auf. Ihre Zunge reizt meine. Gleichzeitig reizt ihr Knie meinen empfindlichsten Punkt. Ich bin kurz davor, mich Kim hinzugeben. Kim streckt beide Hände aus. Mit einer Hand spielt sie mit meinen Haaren. Die andere Hand gleitet über meine linke Brust.
Ich kann nicht mehr.
»Ich will dich so sehr.«, stöhnt Kim.
Ich will auch. So sehr.
»Können wir die verdammte Regel nicht vergessen? Es wird doch sowieso niemand mitbekommen.«, sagt sie und gleitet mit der Hand, mit der sie eben noch mit meinen Haaren gespielt hat, zwischen meine Beine.
Sie muss sich nicht mal anstrengen, um meine empfindlichste Stelle zu erreichen.
Mit angehaltener Luft drücke ich mich Kim entgegen.
»Vergessen wir die bescheuerte Regel.«, sagt Kim erneut.
Diesmal mit kratzender Stimme. Hätte sie den Mund gehalten und einfach weitergemacht, hätte sie vermutlich noch in dieser Nacht bekommen, was sie wollte.
Doch nun … schaltet sich mein Kopf wieder ein. Ich schiebe Kim von mir weg.
»Nicht.«, krächze ich um Luft ringend.
»Wir dürfen das nicht tun.«
Sollte jetzt zufällig jemand mitbekommen, dass Kim in meinem Zimmer ist, könnte ich noch so tun, als hätten wir nur etwas zu besprechen gehabt. Wenn wir miteinander … schlafen … funktioniert dieses Argument nicht mehr und wir kommen in Teufelsküche.
»Bitte geh.« wispere ich und höre selbst, wie wenig überzeugend ich klinge.
Ich will ja auch gar nicht, dass sie geht. Ich weiß das. Und Kim … weiß es natürlich auch. Sie lächelt wissend.
»Bist du dir ganz sicher?«, hakt sie nach und ich nicke.
Doch dann schüttle ich den Kopf. Natürlich will ich nicht, dass sie geht. Aber das, was wir vorhaben, geht nicht. Noch nicht. Selbst wenn wir nur aneinander gekuschelt einschlafen würden, käme das aufs Gleiche raus, als würden wir miteinander schlafen. Nicht für uns, aber für andere, die zufällig Wind davon bekommen.
Ich muss jetzt stark sein. Verdammt stark sogar. Es fällt mir so schwer, Kim wirklich wegzuschicken. Aber ich muss. Sonst … haben wir womöglich ein Problem.
»Bitte geh.«, bettle ich mit bebender Stimme.
»Bist du dir wirklich sicher?«
Diesmal nicke ich und bleibe hart.
»Okay. Wie du willst.«
Kim lehnt sich vor und haucht mir einen sanften Kuss auf die Lippen.
»Aber wenn das Schuljahr vorbei ist, gehörst du mir.«
Ich nicke erneut.
Kim geht zur Tür, doch statt die Tür zu öffnen, macht sie wieder einen Schritt zurück. Verwirrt schaue ich sie an.
»Vielleicht ist es besser, wenn du vorher kontrollierst, ob die Luft rein ist.«
Meine süße clevere Kim.
Im Aufruhr meiner Gefühle hätte ich an so etwas gar nicht gedacht. Mit wackeligen Beinen gehe ich an Kim vorbei und versuche, sie nicht zu berühren, was leichter gesagt als getan ist, da Kim so steht, dass ich sie zwangsläufig streifen muss.
Wir halten gleichzeitig die Luft an, doch diesmal bleibe ich stark und öffne die Tür gerade so weit, dass ich den Flur vor den Gästezimmern überblicken kann.
»Die Luft ist rein.«, murmle ich.
»Schlaf gut, Süße.«, sagt Kim und legt ihre Lippen zum Abschied auf meine.
Dann geht sie. Und ich schließe die Tür hinter ihr.
Mit »Nur noch wenige Wochen.« versuche ich, mich selbst aufzurichten. Es fällt mir so verdammt schwer, standhaft zu bleiben. Um ein Haar hätte ich mich vergessen und Kim erlaubt, mit mir zu schlafen.
Mein Bauch zieht, dass ich in die Knie gehe, um nicht aufzuschreien.
Zu wollen und nicht zu dürfen, ist die Hölle. Ich muss mich irgendwie ablenken. Vorsichtig setze ich den rechten Fuß vor den linken, doch meine Beine zittern so sehr, dass ich mich an der Wand festhalten muss. Ich lehne mich mit dem Rücken gegen die Wand. Ganz leicht schwebt Kims Duft noch im Raum und streicht mir um die Nase.
Kim riecht so unglaublich gut. Ihr Duft verwirrt mir die Sinne. Keine Ahnung, was für ein Parfum sie benutzt, aber es riecht geil. Gepaart mit dem Geruch des Sonnenöls, des Salzes und der Sonne … einfach unwiderstehlich.
Ich weiß, dass ich stark bleiben muss und das, was ich so sehr möchte, nicht tun darf.
An die Wand gelehnt warte ich, bis Herzschlag und Atmung sich wieder so weit beruhigen, dass ich ins Bett gehen kann. Es dauert ein paar Minuten. Im Bett liegend strecke ich die Beine weit von mir und seufze auf. Ich bin so heiß, dass ich ganz sicher nicht schlafen kann, wenn ich nicht …
Ich schließe die Augen und lasse mich fallen. Meine Hand gleitet unter den weichen Stoff meiner Shorts. Ich bin feucht. So feucht, dass ich ohne Probleme in mich dringen kann. Ich denke an Kim und fange an, mich zu streicheln. Natürlich sind meine eigenen Finger kein Ersatz für das, was Kim vermutlich mit mir anstellen würde, doch … besser als nichts.
Meine Gedanken sind so … sehr bei Kim, dass ich beinahe das Gefühl habe, sie läge hier neben mir. Ich gleite hinein und wieder hinaus. Es dauert nicht lange. Ich bin kurz davor. Um das Gefühl zu verstärken, lasse ich den Mittelfinger in mir und streichle mit der anderen Hand meinen empfindlichsten Punkt. Ich beiße mir auf die Lippen, um nicht zu laut zu sein.
Erleichtert atme ich durch, doch so richtig komme ich nicht zur Ruhe.
Statt zu schlafen, stehe ich wieder auf, ziehe mich an und schnappe mein Handy. Ich muss hier raus. Laufen hilft meistens. Also gehe ich los. Einfach so. Der Nase nach.
Unsere Frühstückspension ist nicht weit vom Wasser entfernt. Es riecht nach Salz und nach Fisch. Auch, wenn ich es mir all die Jahre nicht eingestehen wollte, ist das hier meine Welt. Hier ist meine Heimat. Nur hier fühle ich mich komplett.
Mein Weggang vor einigen Jahren kam meiner Familie wie eine Flucht vor mir selbst vor. Und vielleicht … war es auch so. Mir wurde das Herz gebrochen. Ich hielt es nicht länger aus, die gleichen Straßen wie sie zu benutzen. Die gleichen Pubs zu besuchen und und und. Alternativen gab es wenig. Deshalb habe ich meine Siebensachen gepackt und bin gegangen.
Das hat mir vermutlich das Leben gerettet. Mein Herz fing langsam an zu heilen. Trotzdem war ich lange nicht bereit, mich wirklich auf jemanden einzulassen. Bis ich Kim kennengelernt habe. Kim könnte die Frau sein, die mich knackt. Sie ist zumindest auf dem besten Weg dahin.
Ich merke, dass ich ganz von selbst einen Mauerstein nach dem anderen entferne. Noch bin ich vorsichtig und ein bisschen skeptisch. Wenn ich ihr alles von mir gebe, erlaube ich ihr, mein Herz einzunehmen. Das erhöht die Gefahr, dass es wieder bricht. Ich kann nur hoffen, dass sie weiß, worauf sie sich einlässt und dass es ihr nicht nur darum geht, mich ins Bett zu bekommen.
Wenn …, dann richtig. Mit allen Risiken und Nebenwirkungen. Das ist ihr hoffentlich klar.
Nach wenigen hundert Metern bleibe ich stehen und schaue aufs Meer hinaus.
Kann ich es wagen? Ist es wirklich so einfach? Einfach die Schuhe ausziehen und durch den Sand laufen? So, wie ich es früher immer so gerne gemacht habe?
Ich kann mich noch nicht recht entscheiden. Deshalb klettere ich auf ein Mäuerchen und lasse die Beine baumeln.
»Gute Nacht Welt.«, murmle ich zufrieden.
Dann wähle ich die Nummer meiner Eltern und drücke auf den grünen Button.
Es klingelt ein paar Mal. Doch dann …
»Regan.«, höre ich den angenehmen Singsang meiner Mutter.
»Hallo Mum.«
»Fiona. Wie schön, dich zu hören. Geht es dir gut? Es ist doch alles in Ordnung, oder?«
»Natürlich. Ich wollte dir nur sagen, dass ich für ein paar Tage in Irland bin.«
»Aber das ist doch … wann kommst du uns besuchen?«
Ich habe es gewusst. Wie gut, dass im schwachen Licht der Dämmerung niemand mein Augenrollen sehen kann.
»Ich weiß nicht, ob ich es schaffe. Ich bin mit einigen Schülern hier.«
»Wo genau seid ihr?«
Ich nenne meiner Mutter den Ort.
»Morgen Abend treffen wir uns zum Essen in O´Donnels Pub. Keine Widerrede. Deine Geschwister und deine Großeltern kommen auch.«
Diesmal unterdrücke ich das tiefe Seufzen nicht.
»So einfach ist das nicht. Ich habe … «
»Papperlapubs. Natürlich ist das einfach. Bring deine Schülerin doch einfach mit.«
Ach … du dickes Ei. Wie soll das gehen? Soll ich Kim etwa in die Familie einführen? Meine Eltern sind nicht doof. Sie werden sofort merken, dass zwischen Kim und mir etwas ist.
»Ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist.«, murmle ich vor mich hin und denke für einen Moment, dass meine Mutter mich nicht hört.
Aber … wie immer, wenn sie etwas nicht mitbekommen soll, entwickelt sie erstaunlicherweise ein überaus empfangsbereites Gehör.
»Natürlich ist das eine gute Idee. Anders bekommen wir dich doch gar nicht mehr zu sehen.«
In ihren Worten schwingt ein großer Funke Wahrheit. Leider, wie ich ehrlicherweise zugeben muss. In den letzten Monaten habe ich meine Familie ganz schön vernachlässigt. Ich kann den Unmut durchaus nachvollziehen. Trotzdem … Ich weiß nicht. Das mit Kim und mir ist noch so frisch. Und überhaupt nichts Offizielles. Ich möchte sie ja meiner Familie vorstellen. So ist es nicht. Ich schäme mich auch nicht mehr dafür, auf dem Weg zu sein, mich in eine so viel jüngere Frau zu … verlie … Mist. Es fällt mir noch so schwer, dieses kleine Wort auch nur in Gedanken zuzulassen.
Nachdem Rachel mir das Herz gebrochen hat, habe ich mir geschworen, auf mein Herz aufzupassen und mich nie wieder zu verlieben.
Und jetzt passiert es doch.
»Fiona? Schatz? Was ist los? Gibt es etwas, was du mir sagen möchtest?«
Die Stimme meiner Mutter klingt so zärtlich und einfühlsam. Wie immer, wenn sie die Wahrheiten aus mir herauskitzeln will. Ich schüttle den Kopf.
»Nein. Nein. Alles in Ordnung.«, lüge ich.
»Genau. Und aus meinem Hintern kommen rosa Fürze. Was ist los?«
Ich wusste doch, dass es keine gute Idee ist, meine Mutter anzurufen. Warum konnte nicht ausnahmsweise Vater das Gespräch annehmen? Unwillig schüttle ich mich.
»Es ist wirklich alles in Ordnung.«
»Lüg mich nicht an.«
»Können wir es nicht einfach dabei belassen, dass ich morgen Abend ins Pub komme und Kim mitbringe?«
»So so. Kim heißt sie also.«
»Mutter!«, schimpfe ich.
»Was denn?«, fragt Mutter mit engelsgleichem Singsang in der Stimme.
Wüsste ich es nicht besser, würde ich sie wahrscheinlich wirklich für die Unschuld vom Lande halten. Aber ich weiß es eben besser. Alles nur Taktik. Um mich weich zu kochen. Ich will mich aber nicht weich kochen lassen.
»Wie alt ist Kim?«
»Mutter!«
Ich bin auf hundertachtzig.
»Was denn? Ich möchte doch nur wissen, ob sie mit uns ein Bier trinken darf.«
Argh. Mein Nervenkostüm ist so … dünn geworden, dass ich das Gefühl habe, an meiner eigenen Luft zu ersticken. Ein grauenhaftes Gefühl.
»John!«, höre ich meine Mutter rufen.
»Sieh zu, dass du deinen Arsch rüber schwingst.«
Würde ein Außenstehender Mutter hören, würde er sicher denken, dass meine Eltern eine schlechte Beziehung führen, aber dieser Eindruck täuscht. Wir sind Iren. Mit allen Risiken und Nebenwirkungen.
»Fiona ist am Telefon. Sie ist in Irland.«
»Hey Töchterchen.«, brummt mein Vater und ich kann mir lebhaft vorstellen, dass er bereits wieder sehnsüchtig Richtung Fernsehsessel schielt.
Wie immer, wenn Mutter ihn bei etwas stört.
»Wann kommst du uns besuchen.«
Ich rolle mit den Augen und würde am Liebsten »Gar nicht.« sagen. Aber natürlich weiß ich, was sich gehört.
»Deswegen habe ich dich gerufen. Setz deinen Hintern in Bewegung und ruf bei O´Donnels an. Und dann rufst du die Kinder und unsere Eltern an. Wir treffen uns morgen Abend.«
»Wunderbar. Ich freue mich. Bring Hunger mit.«
Als ob ich mich ohne Hunger zum Abendessen mit meinen Eltern treffen würde. Fassungslos schüttle ich den Kopf.
»Tschüss, Kleines. Du hast ja gehört, was ich alles zu tun habe. Bis morgen dann. Und … sag das nächste Mal vorher Bescheid. Dann machen wir ein schönes Barbecue.«
Auch wieder typisch. Mein Vater liebt Barbecues. Da kann er sich so schön hinter dem Grill verstecken und alles aus sicherer Distanz beobachten.
Meine Eltern sind grundverschieden. In den wichtigen Dingen sind sie trotzdem meistens einer Meinung. Sie lieben sich abgöttisch, auch wenn es sich manchmal so ganz anders anhört. Aber … so sind sie eben. Früher haben mich ihre Wortgefechte immer aufgeregt. Heute … sehe ich die Sache etwas anders.
Weil ich weiß, dass sie wie zwei Felsen hintereinander und hinter uns Kindern stehen. Ich hätte damals nur ein Wort sagen müssen und Vater hätte die Sache mit Rachel für mich erledigt. Wie? Das will ich lieber nicht wissen.
»Also sehen wir uns morgen um acht. Tschüss, Schatz.«
Es klickt in der Leitung. Und ich bin mit mir allein. Endlich. Erst jetzt merke ich, wie hektisch und unruhig ich war. Mein Atem beruhigt sich nur ganz langsam.
»Hallo, schöne Frau.«
Ich zucke zusammen und fahre herum. Vor mir steht … unsere Busfahrerin. Und strahlt mich an.
»Endlich erwische ich dich mal alleine. Ohne deinen Anstandswauwau, der ständig um dich herum kreist.«
Das ist nicht nett. Gar nicht nett.
Die Busfahrerin schwingt sich einfach zu mir aufs Mäuerchen. Ohne mich zu fragen, ob mir ihre Anwesenheit gefällt. Dabei wollte ich gerade anfangen, die Ruhe zu genießen.
»Die Kleine ist total verschossen in dich.«
Na und? Ich zucke mit den Schultern.
»Findest du es gut, dass sie dich so anhimmelt?«
Ich reagiere nicht. Vielleicht hilft das ja und die Busfahrerin merkt, dass sie stört. Aber … anscheinend … ist in ihrem Fall Hopfen und Malz verloren.
Sie redet einfach weiter. Ohne Punkt und Komma.
»Komm.«, haucht sie nach einer Weile, springt vom Mäuerchen und hält mir die Hand hin.
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Die Frau interessiert mich so überhaupt nicht. Klar. Sie ist attraktiv. Ohne Frage. Aber das … war es dann auch schon. Außerdem gehört mein Herz … einer anderen. Ich denke an Kim.
Süße, aufmerksame Kim.
Kim würde sofort auffallen, dass ich mich zurückziehe und mich fragen, was mit mir los ist. Nicht wie die Busfahrerin, die sich im Grunde nur um sich selbst dreht.
Statt die Hand der Busfahrerin anzunehmen, bleibe ich sitzen und lege den Kopf in den Nacken, um ihrem Blick, der in mich zu dringen versucht, auszuweichen.
Die Frau kommt näher. Ich spüre es. Am warmen Atem, der sich meinem Gesicht nähert. Und an ihren Beinen, die sich zwischen meine schieben.
Mit angehaltener Luft suche ich nach einer Fluchtmöglichkeit, doch die ist nicht gegeben. Ich befinde mich in einer ziemlich blöden Situation. Soll ich Kim schnell anrufen und um Hilfe bitten?
Die Frau, ihr Name ist glaube ich Christine, greift mit beiden Armen um meinen Rücken und zieht mich zu sich heran.
Wenn sie jetzt noch sagt »Zier dich nicht so. Du willst es doch auch.« kotze ich ihr vor die Füße.
Sie legt den rechten Arm um meinen Hinterkopf und zieht mein Gesicht zu ihrem. Ich fühle mich hilflos. Völlig überfordert.
Sie hält mein Gesicht so fest, dass es unmöglich ist, ihrem durchdringenden Blick auszuweichen. Verdammt.
Ihr Atem geht schwer. Ich halte immer noch die Luft an. Ich will das hier nicht.
Mit beiden Händen drücke ich gegen ihre Schultern, doch sie macht nicht mal einen kleinen Schritt von mir weg. Dass sie ihre Lippen auf meine presst und mit der Zunge tief in meinen Mund dringt, ist keine allzu große Überraschung. Trotzdem schockiert es mich. So etwas ist mir noch nie passiert.
Es klatscht. Und zwar so sehr, dass ein stechender Schmerz durch meine Hand zieht.
»Das wird Konsequenzen haben!«, schreie ich und befreie mich aus ihrer Umklammerung.
Ich laufe ein paar Schritte und bringe einen möglichst großen Abstand zwischen uns.
»Hör endlich auf, mich anzubaggern. Ich habe kein Interesse an dir.«
»Aber … «
Die Busfahrerin reibt sich die Wange und schaut mich verdattert an.
»Nichts aber … Lass mich einfach in Ruhe. Verstanden?«
»Ja. Ja klar. Tut mir leid. Wirklich. Ich dachte wirklich, dass … Scheiße.«
Ich zucke mit den Schultern. Mitleid habe ich nicht mit ihr. Auch ihre schmerzende Wange hat sie sich ganz alleine selbst zuzuschreiben. Ich habe sie schließlich nicht gebeten, das zu tun, was sie getan hat.
Für mich ist der Tag gelaufen und auch der Aufenthalt in Irland. Im Moment ist mir nur noch nach Flucht zumute.
»Bitte.«, bettelt sie und steht mit hängenden Schultern nur wenige Schritte von mir entfernt.
»Bitte melde meinen kleinen Fehltritt … «
»Kleinen Fehltritt?«, kreische ich ungehalten.
Ich kann nicht fassen, dass sie das, was sie getan hat, mal eben einfach als kleinen Fehltritt bezeichnet. Die Frau hat doch nicht mehr alle Latten am Zaun. Einschläge hört sie auch keine, selbst wenn sie direkt vor ihren Füßen stattfinden.
»Es tut mir leid. Wirklich. Bitte melde das, was passiert ist, nicht meinem Arbeitgeber. Sonst bin ich meinen Job los.«
Sie fleht und jammert und gibt sich auf einmal ganz unterwürfig. Mir reicht es, ehrlich gesagt.
»Das hättest du dir früher überlegen müssen. Dass dein Verhalten nicht ohne Konsequenzen bleiben wird, muss dir klar sein.«
Ich drehe mich um und gehe weg. Die Busfahrerin ist mir schlicht egal. Ihr Verhalten … nicht. Es kann nicht sein, dass sie einfach so Grenzen überschreitet.
Gut. Okay. Man könnte behaupten, dass ein Kuss doch kein Problem ist. Ist es aber, denn ich wollte diesen Kuss nicht. Sie hat die körperliche Überlegenheit mir gegenüber ausgenutzt. Und so etwas kann ich nicht einfach so tolerieren.
Sie wird mit den Konsequenzen leben müssen, ob sie will oder nicht.
»Du hast keine Beweise!«, schreit die Busfahrerin, ihren Namen will ich aus meinem Gedächtnis streichen, hinter mir her.
Ich bleibe stehen. Und drehe mich langsam zu ihr um.
»Der Beweis zeichnet sich gut sichtbar auf deiner Wange ab.«, zische ich.
»Ach das. Das kannst du vergessen.«
Die Busfahrerin macht eine wegwerfende Handbewegung.
»Ich werde einfach behaupten, dass du ausgerastet bist, weil ich dich mit deiner kleinen Schlampe, wie heißt sie doch gleich … Kim, erwischt habe.«
Triumphierendes Lächeln breitet sich im Gesicht der Frau aus. Ich könnte kotzen. Ruhig bleiben. Bleib ganz ruhig.
»Wie kommst du darauf, dass ich etwas mit Kim haben könnte?«
»Das liegt doch auf der Hand. Außerdem habe ich euch beobachtet. Hast du nicht mitbekommen, wie eifersüchtig und zickig sie reagiert, wenn ich mich nur kurz mit dir unterhalte?«
Mist. In den Worten liegt zumindest eine Spur Wahrheit. Kim rastet immer halb aus, wenn ich kurz mit der Busfahrerin rede.
»Vergiss es. Nur, weil Kim so ist, wie sie ist, heißt das noch lange nicht, dass zwischen uns etwas läuft.«
»Du stehst auf kleine Mädchen.«
Ich schüttle den Kopf. Allmählich wird mir das hier echt zu blöd. Dummerweise verrät mein rasender Herzschlag meinen Seelenzustand. Während ich nach außen hin die Ruhe selbst bin, zermartere ich mir den Kopf. Hat es möglicherweise doch eine verfängliche Situation zwischen Kim und mir gegeben? Ich kann es mir beim besten Willen nicht vorstellen, so höllisch, wie wir aufpassen.
»Ich mache dir einen Vorschlag.«, sagt die Busfahrerin leise.
»Ich behalte euer kleines schmutziges Geheimnis für mich. Dafür hältst du aber auch die Füße still.«
So weit kommt es noch. Dass ich mich von einer Frau wie ihr erpressen lasse. Statt weiter auf ihr Gerede einzugehen, schreite ich hoch erhobenen Hauptes weiter. Sie ruft noch irgendetwas hinter mir her, doch auf Diskussionen mit ihr habe ich keine Lust mehr.
Ich will nur noch weg.
Gegen jede Vernunft klopfe ich, kaum in der Pension angekommen, an Kims Tür. Es dauert ein bisschen, bis Kim öffnet. Sie schaut verschlafen aus.
»Lässt du mich rein?«, frage ich, den Blick geradeaus gerichtet, damit sich meine Augen nicht mit ihrem beinahe nackten Oberkörper verfangen.
Kim sagt nichts. Sie tritt einfach zur Seite.
»Nimm mich bitte einfach in den Arm und lass mich nie wieder los.«, murmle ich.
A m nächsten Morgen gehe ich schnurstracks in mein Zimmer, nehme das Handy zur Hand und wähle die Nummer des Busunternehmens.
Die Chefin ist nett. Sie hört mir sehr aufmerksam zu und scheint sich nebenbei Notizen zu machen.
»Vielen Dank für die Information. Natürlich wird das Konsequenzen haben. Ich werde schnellstmöglich einen anderen Busfahrer nach Irland schicken. Sobald ich jemanden habe, sage ich Bescheid.«
Damit ist das Gespräch beendet. Ich atme langsam ein und aus und versuche, meinen Herzschlag zu beruhigen.
Obwohl Kim alles versucht hat, um aus mir herauszubringen, warum ich so aufgewühlt bin, habe ich nicht mit ihr gesprochen. Es gibt einfach Dinge, bei denen Kim mir nicht helfen kann. Dinge, die ich mit mir selbst regeln muss.
Nach dem Telefonat mit der Firmeninhaberin des Busunternehmens fühle ich mich sehr viel leichter. Sogar ein leichtes Lächeln huscht über meine Lippen. Ich habe der Frau alles erzählt, sogar die Beschuldigung, dass ich eine Affäre mit Kim unterhalte. Selbst darauf hat sie entspannt reagiert.
Trotz aller Erleichterung ist mir nicht mehr danach, meine Familie zu treffen. Ich bin innerlich viel zu aufgewühlt, um meiner Familie entspannt gegenüber zu treten. Deswegen greife ich erneut zum Telefon. Meine Mutter nimmt das Gespräch nach nur dreimal Klingeln an.
Mit wenigen Worten schildere ich ihr, was vorgefallen ist. Zu meiner Überraschung reagiert sie ganz offen und redet beruhigend auf mich ein. Ich merke, dass ich tatsächlich immer ruhiger werde.
»Danke, Mum.«, sage ich nach einer Weile.
»Pass auf dich auf. Und … besuche uns einfach, wenn du mal wieder in der Nähe bist. Ich hab dich lieb.«
»Ich dich auch.«
Ein warmes Gefühl durchströmt mich. Meine Mutter ist einfach die Beste.
»Warte noch, Schatz.«, sagt sie plötzlich und ich horche auf.
»Wie kommt die Busfahrerin auf die Idee, dass du etwas mit deiner Schülerin hast?«
Die Entspannung ist wie weggeblasen. Mein Herz hämmert hart.
»Hast du etwas mit ihr?«
»Noch nicht.«, sage ich leise.
»Aber ihr arbeitet daran.«
Das ist keine Frage, sondern eine Feststellung.
»Irgendwie schon.«
»Oh je, Fiona. Pass bloß auf.«
Das mache ich doch.
»Kim verlässt zum Ende des Schuljahres die Schule.«
»Und so lange werdet ihr euch sicher zurückhalten, oder?«
»Natürlich. Ich bin doch nicht notgeil.«
»Gut. Dann bin ich beruhigt und die Busfahrerin kann behaupten, was sie will. Pass einfach auf. Und … Fiona … Du mochtest schon immer eher jüngere Frauen.«
Ich runzle die Stirn. Dass meine Mutter die Fakten so klar ausspricht, behagt mir nicht. Aber sie hat ja recht.
»Ist sie es wert? Deine Kim?«
»Absolut.«, antworte ich selbstsicher.
»Gut. Dann lasst euch Zeit. Aber irgendwann möchte ich sie kennenlernen. Machs gut, Schatz. Dein Vater kommt gerade rein. Hab dich lieb.«
Damit ist das Telefonat endgültig beendet. Ein paar Sekunden lang starre ich kopfschüttelnd das Handy an. Dass meine Mutter so entspannt auf Kim reagiert, wundert mich nur ein bisschen. Meine Eltern sind so ziemlich die tolerantesten und offensten Menschen, die ich kenne.
Ein Lächeln huscht über meine Lippen. Meine Mutter wird Kim lieben. Das weiß ich ganz sicher. Und anders herum wird es genauso sein.
Wenn ich an vergangene Nacht denke, fühle ich mich ausschließlich glücklich. Kim hat mich einfach nur gehalten. Ab und zu hat sie einen sanften Kuss auf meine Stirn oder meine Nasenspitze gehaucht. Sie war einfach da. Und ich konnte mich entspannen.
Es läuft alles so gut zwischen uns, dass ich ein bisschen Angst habe, irgendwann aus meinem Traum zu erwachen.
Mit der rechten Hand an der Duschtür versuche ich, die trüben Gedanken, die sich in meinen Hinterkopf schleichen wollen, weit von mir zu schieben, was mir erstaunlicherweise ganz gut gelingt. Das fast eiskalte Duschwasser tut den Rest. Nach zehn Minuten fühle ich mich frisch und ausgeruht.
Ich bin gerade beim Abtrocknen, als das Telefon klingelt. Das Handtuch halb um mich gewickelt und halb unter dem Arm hechte ich aus der Dusche und greife nach dem Telefon.
»Regan.«, keuche ich schwer atmend und bewundere mich selbst, weil ich es geschafft habe, mich nicht im Duschtuch zu verheddern und der Länge nach hin zu knallen.
»Hallo Frau Regan. Neumann hier. Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass ich keinen Ersatzfahrer gefunden habe.«
Mein Gesicht wird lang und immer länger.
»Deswegen werde ich mich selbst auf den Weg machen. Mein Flug geht um halb eins.«
Das ist doch … Wow. Ich kann es kaum glauben, dass die Betreiberin des Busunternehmens meine Worte so ernst genommen hat, dass sie sich gleich selbst in Bewegung setzt.
»Wirklich?«, krächze ich.
»Natürlich. Das ist ja wohl Ehrensache. Wir sehen uns heute am frühen Abend. Das ist das Mindeste, was ich tun kann, um das Verhalten meiner ehemaligen Angestellten zu entschuldigen.«
Ich bin ehrlich fasziniert. Alles hätte ich erwartet, aber so etwas nicht.
»Vielen Dank.«, murmle ich überwältigt.
Dieser Tag nimmt schon am Morgen sehr interessante Wendungen. Ich bin gespannt, was noch alles passiert.
Die Busfahrerin begegnet meinen ausweichenden Blicken mit einer Selbstsicherheit, die mich erschüttert. Nun, mir soll es recht sein. In ein paar Stunden wird sie merken, wohin ihre Arroganz sie führt.
Ich kann den Abend kaum erwarten und fange an, die Stunden zu zählen.
Heute steht ein kleinerer Ausflug nach Galway auf dem Programm. Wir wollen mit den jungen Leuten die Stadt erkunden. Ein paar der Jugendlichen wollen shoppen gehen. Ich werde mich in ein Café setzen und einfach mal die Seele baumeln lassen. Genau so werde ich es machen. Vielleicht leistet Kim mir ja sogar Gesellschaft. Wobei … Nein. Besser nicht. Wir dürfen uns nicht verdächtig machen.
Nach einem entspannten Tag in Galway komme ich müde aber überaus zufrieden wieder in der Pension an. Ich fühle mich gut. Die Zeit allein war genau das, was ich gebraucht habe.
Ich schaue mich auf dem Parkplatz um. Es sind einige Autos mit Dubliner Kennzeichen dazugekommen. Lauter Neuwagen, was ein klares Zeichen für Mietwagen ist. Ob Frau Neumann wohl schon eingetroffen ist?
Die Busfahrerin springt aus dem Bus und trabt mit einem Grinsen an Kim und mir vorbei aufs Haus zu. Die Tür öffnet sich. Eine ältere Frau mit weißem Haar tritt heraus. Die Busfahrerin bleibt stehen. Wie angetackert. Sie dreht sich langsam zu mir um und starrt mich aus zusammengekniffenen Augen an.
»Du Schlampe!«, zischt sie in meine Richtung.
Dann wendet sie sich wieder um und schenkt ihrer Chefin ein Lächeln.
»Guten Tag Frau Neumann.«, sagt sie freundlich.
»Komm bitte mit. Wir müssen reden.«
Frau Neumann schaut an ihrer Angestellten vorbei. Unsere Blicke begegnen sich.
»Sie sind bestimmt Frau Regan.«, sagt sie und ich nicke.
»Sehr schön. Wenn es Ihnen recht ist, würde ich Sie nachher gerne zum Abendessen einladen. Als kleine Wiedergutmachung.«
Kim ist auch stehen geblieben. Irritiert schaut sie von der Busfahrerin zu Frau Neumann und dann zu mir. Was ist denn hier los., steht in ihre Augen geschrieben. Ich hülle mich in Schweigen. Vorerst zumindest.
»Christine wird an einer anderen Stelle gebraucht. Deswegen bin ich hier, um sie abzulösen.«, erklärt Frau Neumann ruhig.
Kim nickt, schaut mich aber immer noch fragend an.
»Christine. Komm bitte mit.«
Die Busfahrerin folgt ihrer Vorgesetzten. Von Schritt zu Schritt sackt sie mehr in sich zusammen.
»Was ist denn los?«, fragt Kim nachdem Chefin und Angestellte im Inneren der Pension verschwunden sind.
»Gibt es Probleme?«
»Wie man es nimmt.«
Nach außen hin völlig ruhig erzähle ich Kim, was am Vorabend passiert ist. Kims Augen werden immer größer. Sie schnaubt erbost.
»Der werde ich was erzählen!«, knurrt sie.
»Das wirst du schön bleiben lassen. Das ist meine Sache und ich habe mich darum gekümmert.«
»Aber … «
»Kein Aber.«
Meine Stimme wird immer sanfter. Ich rede beruhigend auf Kim ein. Trotzdem ist Kim immer noch auf hundertachtzig. Sie kann sich kaum beruhigen.
Kim und ich haben es uns auf einer Mauer gemütlich gemacht. Ein strategisch günstiger Platz, von dem aus wir den ganzen Parkplatz überblicken können und, was noch wichtiger ist, den Eingang.
Die Eingangstür wird aufgestoßen. Die Busfahrerin schmeißt ihre Tasche auf den Boden. Staub und kleine Steinchen fliegen in alle Richtungen. Die Frau schießt auf uns zu. Wie eine Rakete. Fehlt nur noch ein Feuerschweif, den sie hinter sich her zieht.
»Du!«, schreit sie und hebt die geballte Faust.
»Das ist alles deine Schuld.«
Kim springt von der Mauer und baut sich vor mir auf. Ihre Muskeln sind angespannt.
»Christine!«, ruft es aus Richtung der Eingangstür.
»Steig ins Auto und fahr nach Dublin!«
Die Busfahrerin ist so auf hundertachtzig, dass ihr jegliche weitere Konsequenz egal ist.
»Du hast meine Zukunft ruiniert!«, schreit sie ungehalten.
»Ich wollte den Laden eigentlich übernehmen.«
Nun, daraus wird wohl nichts mehr. Ich zucke mit den Schultern. Da Kim immer noch vor mir steht, sehe ich Christine nicht. Aber das macht nichts. Ihre aggressive Energie ist bis weit hinter die Klippen von Moher zu spüren.
Ich habe eine natürliche Abneigung gegen alles, was mit Aggression zu tun hat. Hinter Kims Rücken werde ich immer kleiner. Ich muss einen Würgereiz unterdrücken.
»Ich mache dich fertig! Hörst du?«
»Nichts wirst du machen!«, schreit ihre Chefin.
Vom Aufruhr auf dem Parkplatz angelockt, eilt der zweite Busfahrer laut rufend aus der Pension. Obwohl er keine Ahnung hat, was passiert ist, erkennt er den Ernst der Lage anscheinend ziemlich schnell. Bevor die Busfahrerin die Faust gegen Kim oder mich richten kann, hat er ihren Arm aufgefangen. Die Busfahrerin schreit auf.
»Au! Au verdammt!«
Kim tritt zur Seite. Das, was sich mir bietet, ist so grotesk, dass ich anfange zu lachen.
Christine versucht, sich aus der Umklammerung des großen Mannes zu winden, doch der Busfahrer hält sie fest.
»Mach es nicht noch schlimmer.«, höre ich ihn knurren.
»Steig ins Auto und fahr los.«
Er schiebt seine aufgebrachte Ex-Kollegin in die Richtung, die seine Chefin ihm zeigt. Frau Neumann holt Christines Tasche und trägt sie hinter den beiden her. Meine Schultern sacken herab. Dicke Tränen kullern mir über die Wangen. Ich spüre Kims Hand auf meinem Rücken. Obwohl wir nicht allein sind, hört Kim nicht auf, mich zu streicheln. Ihre Berührungen sind so sanft. Wie kann sie bei all der Aufregung so ruhig bleiben? Am Ende meiner Kraft lehne ich mich an sie und lasse zu, dass sie mich hält.
Es dauert eine Weile, bis der Mietwagen endlich den Parkplatz verlässt. Eine große Staubwolke ist das Einzige, was von Christines Abgang zurückbleibt.
»Es tut mir leid.«, sagt Frau Neumann leise.
»Ich hätte niemals für möglich gehalten, dass Christine so die Beherrschung verliert.«
Der große erfahrene Busfahrer steht neben seiner Chefin wie ein Häufchen Elend. Seine Arme hängen einfach nur an seinen Seiten herunter. Sein Gesicht wirkt eingefallen.
»Ich auch nicht.«, gesteht er.
Es ist den Beiden anzusehen, dass ihnen Christines Auftritt mehr als peinlich ist.
»Frau Regan, kann ich Sie bitte kurz sprechen?«, fragt Frau Neumann.
Sie tritt ein Stück zur Seite und wartet, dass ich zu ihr komme. Kims Blicke folgen uns.
»Christine hat gedroht, dass sie sie auffliegen lässt.«, erklärt sie und es ist ihr anzusehen, dass ihr auch das höchst unangenehm ist.
»Sie behauptet, dass sie mitbekommen hat, dass sie eine Affäre mit ihrer Schülerin haben.«
»Das habe ich … nicht.«
»Wie auch immer. Es steht mir nich t zu, über irgendjemanden zu urteilen. Allerdings hoffe ich, dass Christine sich wieder beruhigt und in ein paar Tagen mit etwas Abstand über die Sache nachdenkt. Da ich mir keine negative Aufmerksamkeit leisten kann, habe ich sie dazu genötigt, mir einen Vertrag zu unterschreiben, in dem sie klar Abstand von Schritten gegen Sie und Ihre Schülerin absieht. Nur so bekommt sie ihr Gehalt für die nächsten zwei Monate.«
Ich habe das Gefühl, dass mir das Herz in die Hose rutscht. Was heißt das denn jetzt alles für mich? Brauche ich einen neuen Job? Womöglich sogar einen Anwalt?
»Christine wird nichts gegen Sie und Ihre Schülerin unternehmen. Das habe ich schwarz auf weiß.«
Phu. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Soll ich Frau Neumann umarmen? Oder ihr einfach nur ein dankbares Lächeln schenken?
Ich bin überfordert.
Mit mir selbst. Und mit der gesamten Situation.
N ach dem Abgang der Busfahrerin haben wir noch ein paar entspannte Tage in Irland genossen. Seit Freitag sind wir wieder zurück. Seitdem habe ich Kim nicht mehr gesehen. Aber morgen ist mein erster Schultag. Ich freue mich darauf.