20. Fiona
M it der Tasche über der Schulter komme ich gut gelaunt in der Schule an. Gestern Abend hat Frau Neumann mich noch einmal angerufen und ein Gespräch zu Christine durchgestellt. Christine hat sich für ihr schäbiges Verhalten entschuldigt und mich um Verzeihung gebeten.
Ich habe ihr verziehen, sie jedoch gebeten, an sich selbst zu arbeiten. Laut Aussage ihrer Chefin wird sie wohl eine Therapie machen. Eine sehr gute Entscheidung, wie ich finde.
Gut gelaunt stelle ich meine Tasche auf meinen Platz im Lehrerzimmer und begebe mich zur Kaffeemaschine. Man merkt, dass Kims Mutter ein absoluter Kaffee-Junkie ist. Der Kaffee, den es hier gibt, ist erstklassig. So richtig mit Suchtpotenzial.
»Guten Morgen, Frau Regan.«
Ich fahre herum. Und schaue direkt in die funkelnden Augen meiner Chefin.
»Kommen Sie bitte kurz in mein Büro?«
»Natürlich.«
Ich begegne dem Lächeln meiner Vorgesetzten, warte bis der Kaffee im Becher ist und folge ihr dann. Bestimmt will sie wissen, wie unsere Zeit in Irland war.
»Setzen Sie sich.«, sagt sie und deutet auf einen Sessel.
Ich nehme Platz.
Kims Mutter setzt sich auf den anderen freien Sessel. Sie beugt sich vor. Und schaut mich an.
»Ich weiß, dass das jetzt etwas überraschend für Sie kommt, aber ich möchte … Sie gerne zum Abendessen einladen.«
Na hoppla. Was ist denn jetzt schon wieder los?
»Äh. Ja?«
»Ein Date sozusagen.«
Wie bitte?
Ich starre meine Chefin an. Sie lächelt immer noch freundlich.
»Ich … äh … fühle mich sehr geehrt. Aber … ich bin vergeben.«
»An meine Tochter etwa?«
Die Stimme ist scharf. Und doch kontrolliert.
Beängstigend kontrolliert.
Ich bin kurz davor, jegliche Kontrolle zu verlieren. Es kostet mich ziemlich viel Mühe, meine Gesichtszüge so zu beherrschen, dass sie mir nicht entgleiten.
»Wie … kommen Sie denn auf so … «, stottere ich und ringe um Worte.
»Wollen Sie sagen, dass meine Vermutung absurd ist?«
Meine Chefin springt auf, schreitet an mir vorbei zu ihrem Arbeitsplatz und kommt mit einem kleinen Stapel Papier zurück. Sie knallt den Stapel so laut vor mir auf den Tisch, dass ich zusammenzucke.
»Was … was ist das?«
»Erklären Sie es mir.«
Gleich das erste Blatt ziert ein Portrait von mir. Eine sehr saubere und feine Zeichnung in Grautönen. Vermutlich mit Bleistiften erstellt. Nachdenklich betrachte ich die feinen Linien, lege das Blatt dann zur Seite und greife nach dem nächsten. Mir wird heiß und kalt. In sauberer Handschrift wurde ein Brief an mich verfasst. Ich habe das Gefühl, dass mir das Blut aus dem Kopf weicht und sich irgendwo in meinen Füßen sammelt. Das Blatt in meinen Händen zittert.
Ich fühle mich schrecklich. Bin kurz davor, mich vor den Füßen meiner Chefin übergeben zu müssen.
Vorbei. Es ist alles vorbei. Bevor es jemals richtig begonnen hat.
»Was haben Sie dazu zu sagen?«, zischt meine Chefin, wirkt nach außen hin allerdings völlig ruhig.
Ich zucke mit den Schultern. Mehr fällt mir im Moment nicht ein. Ich bin wie geplättet.
Verdammt! Kim! Warum konntest du nicht besser aufpassen?
Nur ein Plakat am schwarzen Brett, oder ein Eintrag in sozialen Netzwerken wäre noch verräterischer gewesen.
»Ich erwarte von Ihnen, dass Sie mir alle Karten auf den Tisch legen.«
»Es gibt nichts, was ich auf den Tisch legen könnte.«, flunkere ich hilflos.
»Wollen Sie damit sagen, dass Kims Schwärmerei für Sie einseitig ist?«
Auf diese Frage entgegne ich nichts.
»Dann lesen Sie mal in Ruhe weiter.«
Als ob ich so etwas wie Ruhe empfinden könnte, wenn mein Leben gerade auf dem besten Weg ist, an die Wand zu fahren.
Hektisch überfliege ich die erste Seite und wende das Blatt. Kims Schrift ist klar. Und sauber. Sie hat vermutlich sogar ein Lineal untergelegt, um in geraden Linien zu schreiben.
Kim hat sich wirklich Mühe gegeben. Sonst ist ihr Schriftbild eher gewöhnungsbedürftig. Meine Gedanken nehmen absurde Richtungen ein, nur, um sich nicht mit dem Offensichtlichen auseinandersetzen zu müssen.
Deine Lippen sind so unendlich weich. Nie werde ich die Küsse vergessen …
Die Blätter segeln sachte zu Boden. Ich sacke zusammen. Schweiß bricht mir aus allen Poren. Sogar meine Augen schwitzen.
Meine Vorgesetzte behält mich im Blick. Sie sagt nichts mehr. Dafür sagen ihre Blicke mehr als jedes Wort. Ich sehe Verachtung. Und Zorn. Trotzdem bleibt sie beherrscht, was wahrscheinlich jahrelangem Training zu verdanken ist.
»Was haben Sie dazu zu sagen?«, fragt sie völlig ruhig.
»Nichts.«, krächze ich.
»Ich werde dann wohl meine Sachen packen.«
Die Bernhard sagt immer noch nichts. Sie tut auch nichts. Ihre Gesichtszüge wirken wie eingefroren. Keinerlei Regung. Dafür kullern mir einige Tränen über die Wangen.
»Ich habe Ihnen vertraut.«, flüstert die Bernhard.
»Ich weiß. Und ich habe Sie enttäuscht. Das...«
Kims Mutter geht mit erhobenem Zeigefinger dazwischen.
»Enttäuscht?«
Sie lacht ein kehliges Lachen.
»Enttäuscht ist nicht ganz der richtige Ausdruck. Sie haben meine Tochter verführt. Meine einzige Tochter. Ein junges Mädchen.«
»Kim ist eine erwachsene junge Frau.«, gebe ich zurück und frage mich im nächsten Moment, ob ich jetzt auch noch vom Wahnsinn ergriffen worden bin.
Meine Chefin kneift die Augen zusammen. Sie studiert mich aufmerksam.
»Seit Tagen überlege ich, wie ich mit der Sache umgehen soll. Bis jetzt bin ich leider noch nicht zu einem Schluss gekommen.«
Ich senke den Kopf. Mein Magen grummelt.
»Ich gehe davon aus, dass Sie das Naheliegende machen werden.«, murmle ich und denke dabei an ein Polizeiaufgebot.
Beamte mit ernsten Gesichtern, die mich vor der versammelten Schülerschar abführen. Irgendwo in der Masse steht dann wohl auch Kim und starrt mir hinterher. Mein Herz droht zu brechen.
»Ich muss gestehen, dass sich auch diese Option durchaus in meinen Gedanken abgespielt hat. Sie wissen ja vermutlich, dass es Lehrkräften strengstens verboten ist, Beziehungen mit Schutzbefohlenen einzugehen. Und Kim ist nun mal eine ihrer Schutzbefohlenen.«
Daran lässt sich leider nichts ändern, so sehr ich es gerne versucht habe, mir die Sache schön zu reden.
»Dass Kim die Schule verlassen will, hat vermutlich auch mit Ihnen zu tun.«
»Das stimmt so nicht.«
Vehement schüttle ich den Kopf.
»Sie hatte schon vorher den Plan, die Schule nach der Zehnten zu verlassen.«
»Wie Sie meinen.«
Meine Chefin hebt beschwichtigend die Hände, was sie beinahe so aussehen lässt, als würde sie kapitulieren. Aber ich weiß es besser. Sie verschafft sich nur eine kurze Pause, um sich zu sortieren.
»Wie gesagt, ich bin mir noch nicht ganz klar, welche Schritte ich als nächstes unternehmen werde.«
»Kim liebt mich und ich liebe Kim.«, erkläre ich und wieder habe ich das Gefühl, dass der Wahnsinn mir soeben in die Zunge gebissen hat und sich hinter meinem Rücken scheckig über mich lacht.
Verdammt! Wo soll das hier hinführen? Wie tief will ich mich noch in den Schlamassel katapultieren?
Kims Mutter zuckt getroffen zusammen.
»Sie könnten … naja, um ihre Mutter zu sein, sind Sie wohl doch noch etwas zu jung. Aber bedenken Sie doch mal. Kim hat ihr ganzes Leben noch vor sich.«
Aber sie ist auch alt genug, um selbst zu entscheiden, was sie will.
»Ich würde Sie gerne bitten, das, was Sie angefangen haben, zu beenden, aber … ich fürchte, dass ich mit meinem Wunsch auf Granit beiße. So ist es doch, oder?«
»Ich kann Kim nicht einfach fallen lassen.«, bekräftige ich.
»Kim glaubt, dass sie in Sie verliebt ist. Das kann ich durchaus nachvollziehen. Ich weiß von ein paar Kollegen, die Ihnen hinterher hecheln. Trotzdem ist Kim noch fast ein Kind. Sie kann doch noch gar nicht wissen, was sie will.«
In der Stimme meiner Vorgesetzten schwingt Hoffnung. Natürlich hofft sie, dass ihre Tochter schnell von mir gelangweilt ist und sich einer ihrem Alter entsprechenden Frau zuwendet.
»Kim ist nicht wie andere Achtzehnjährige.«, gebe ich zu bedenken.
»Sie weiß ganz genau, was sie will.«
Denke ich jedenfalls.
»Sie kommt ganz nach ihrer Mutter.«, schleime ich ein kleines Bisschen, um meine Chefin aus ihrem Schneckenhaus zu locken.
Tatsächlich huscht zumindest ein angedeutetes Lächeln über Monika Bernhards Lippen.
Mit dem Mut einer Verzweifelten fange ich an, auf meine Chefin einzureden. Die Bernhard ist dafür bekannt, dass sie zwar hart, aber auch gerecht vorgeht. Ich versuche, an ihr Herz und ihren Verstand zu appellieren.
»Mir ist bewusst, dass wir uns als Schule einen Skandal nicht leisten können. Wenn es wirklich so ist, wie Sie behaupten … Verdammt! Frau Regan. Ich will es mir nicht vorstellen. Nein, ich darf es mir nicht vorstellen.«
Würde mir wahrscheinlich auch so gehen, wenn ich an ihrer Stelle wäre.
Ich gucke ein bisschen bedröppelt aus der Wäsche und versuche dem durchdringenden Blick aus stechenden Augen zu entgehen.
Meine Chefin steht auf und fängt an, in ihrem Büro herumzulaufen. Ihre Schritte sind klein, die Stirn ist gerunzelt. Alle paar Schritte bleibt sie stehen.
Die Luft im Raum ist so heiß und stickig, dass ich nach Luft ringe.
»Warum ausgerechnet Kim? Warum ausgerechnet meine Tochter?«
»Weil … «
Ich hebe die Arme und lasse sie wieder sinken.
»Wir müssen um jeden Preis einen Skandal vermeiden.«, überlegt meine Chefin laut und ich nicke bekräftigend.
»So ein Skandal würde zu jeder Menge Abmeldungen führen und was das für Folgen hätte, brauche ich Ihnen vermutlich nicht erklären.«
Ich lächle dümmlich. Dass Kims Mutter mich nicht gleich der Polizei überstellen will, nährt die Hoffnung in mir, dass ich vielleicht doch noch irgendwie mit einem tief blauen Auge davonkomme. Was habe ich mir nur dabei gedacht? Ich habe doch die ganze Zeit geahnt, dass es fatal enden könnte, wenn ich mich auf Kim einlasse. Und trotzdem … habe ich es getan. Dafür gibt es natürlich keine Entschuldigung. Aber … ich würde es sofort wieder tun. Weil Kim eine sehr besondere und liebenswerte junge Frau ist. Vor allem aber, weil sie mir das Herz gestohlen hat. Ich habe ja versucht, mich dagegen zur Wehr zu setzen, aber Kim ist einfach hartnäckiger als der letzte Klumpen Verstand, der in meinem Hinterkopf unterwegs war.
»Sie haben gesagt, dass Sie meine Tochter lieben.«
Ich nicke leicht.
»Aber warum eine so junge Frau?«
»Weil Kim ein sehr besonderer Mensch ist.«
»Aber sie ist auch Ihre Schülerin.«
»Das ist mir sehr wohl bewusst, glauben Sie mir bitte. Ich kann Ihnen versichern, dass ich nicht wollte, dass … «
»Sie haben mit ihr geschlafen.«
»Nein!«
Ich springe auf und fange ebenfalls an, wie gehetzt durch das Büro der Schulleiterin zu laufen. Kims Mutter bremst meinen Lauf, in dem sie sich mir in den Weg stellt und vor mir aufbaut und »Wenigstens etwas.« knurrt.
Dass sie nicht annähernd so ruhig ist, wie sie es mich gerne glauben lassen möchte, verraten ihre zusammengebissenen Zähne und die harten Gesichtszüge. Sie ist auf hundertachtzig. Ich auch.
»So geht es jedenfalls nicht. Sie können nicht einfach eine Affäre mit einer Ihrer Schülerinnen haben.«
»Das ist keine Affäre. Für mich jedenfalls nicht. Für mich ist es viel mehr als das.«
Ich weiß, dass ich alles auf eine Karte gesetzt habe. Ob mein Blatt ausreicht, um das Spiel zu gewinnen, steht wohl noch in den Sternen. Im Moment sind die Züge ausgeglichen.
»Sie werden sich bis zum Ende des Schuljahres krank melden. Dann muss ich Sie nicht beurlauben. Für eine Beurlaubung bräuchte ich eine Begründung und die würde den Skandal noch weiter anheizen.«
Erst jetzt wird mir so richtig bewusst, in welcher Zwickmühle die Bernhard sich befinden muss. Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie zerrissen sie sich fühlt.
»Ich muss nachdenken. Zu gegebener Zeit werde ich auf Sie zukommen und Sie wissen lassen, wie meine Entscheidung ausgefallen ist.«
Da mir im Moment keine andere Wahl bleibt, nicke ich. Mal wieder. Wenn das so weiter geht, wird das noch zur Krankheit. Nickeritis oder so.
»Kein Wort zu Kim. Haben Sie mich verstanden?«
Natürlich habe ich verstanden, aber allmählich beginnt das ständige Nicken an meinen Nerven zu zerren. Deswegen mache ich einfach gar nichts. Ich sage auch nichts.
»Gehen Sie mir aus den Augen. Ich kann Sie nicht länger ertragen.«
Uff, das sind harte Worte. Harte und ehrliche Worte, die einen schrecklichen Schmerz in mir auslösen. Wie soll ich ihr jemals wieder in die Augen schauen, ohne mich schrecklich dabei zu fühlen? Vielleicht wäre es der beste Weg, wenn ich die Kündigung einreiche, beziehungsweise eine Versetzung beantrage. In eine andere Stadt. Dummerweise schmerzt auch dieser Gedanke höllisch. Ich mag meinen Job an der Schule … meistens jedenfalls. Ich mag meine Kollegen. Die meisten von ihnen. Ich mag auch meine Stadt. Und die Freunde, die ich hier habe. Und ich liebe Kim.
Von ihr getrennt sein zu müssen, würde mich wahnsinnig machen. Kim ist der größte Schatz, der jemals meinen Weg gekreuzt hat. Ich kann nicht einfach den nicht vorhandenen Schwanz einziehen.
Ich muss da jetzt durch. Ob ich will oder nicht. Für mich. Für Kim. Für uns.
Meine Chefin schaut mich nachdenklich an.
»Nein. So wird das auch nichts. Kim ist nicht blöd. Sie wird natürlich merken, dass ich ihre Sachen entwendet habe.«
Tiefes Seufzen streift meine Ohren.
»Wir müssen so tun, als ob nichts passiert wäre. Nur so … kommen wir alle heil aus dieser Sache.«
Ich spüre, wie schwer Kims Mutter ihre eigenen Worte fallen.
Mir steht nicht nur Kims Mutter gegenüber, sondern auch meine Chefin. Die Schulleiterin eines angesehenen Gymnasiums.
Ich bin froh, nicht in ihrer Haut stecken zu müssen. Meine eigene Haut reicht mir vollkommen aus.
»Wir werden gemeinsam mit Kim reden.«, schlägt sie vor.
»Erwarten Sie aber nicht von mir, dass ich Sie einfach so als zukünftige Schwiegertochter in meiner Familie willkommen heiße. Nur fürs Protokoll … ich habe kein Problem mit der sexuellen Orientierung meiner Tochter. Ich habe auch kein Problem damit, dass sie sich in eine Frau verliebt hat, die älter ist als sie. Mein Problem ist, dass ich noch nicht weiß, wie ich damit klarkommen soll, dass sie sich ausgerechnet eine meiner Lehrkräfte ausgesucht hat.«
Die Ehrlichkeit meiner Chefin berührt mich so sehr, dass meine Augen zu brennen beginnen. Sie lässt mich so offen an ihren Gedanken teilhaben, dabei müsste sie vor Hass doch eher das Gegenteil tun.
»Wie soll ich Ihnen begegnen, wenn ich weiß, dass Sie mit meiner Tochter schlafen?«
»Ich habe noch nicht mit ihrer Tochter geschlafen.«
»Aber Sie werden es tun.«
Die Bernhard setzt sich hin. Wie ein Häufchen Elend schaut sie aus.
»Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich möchte, dass Kim glücklich ist. Und anscheinend sind im Moment Sie die Frau, die sie glücklich machen kann. Aber … Ich weiß nicht, wie ich das alles schaffen soll. Kim ist doch mein kleines Mädchen.«
Ich schlucke. Meine Chefin schluckt auch.
»Wenn Sie ihr das Herz brechen, reiße ich Sie in Stücke. Ich hoffe, ich habe mich klar ausgedrückt.«
Oh ja. Sonnenklar.
Allerdings weiß ich noch nicht so ganz, was das alles jetzt heißen soll. Fragend schaue ich meine Vorgesetzte an.
»Wissen Sie, Frau Regan, ich bin eine Mutter, die sich für ihre Tochter nur das Beste wünscht. Dazu gehört unter anderem ein Schulabschluss, der ihr einen guten Start ermöglicht. Ich möchte, dass Sie noch einmal mit Kim reden. Sie muss an der Schule bleiben.«
»Aber Kim hat doch schon ihren Vertrag für ein Jahr Bufdi in einer Einrichtung für Behinderte unterschrieben.«
»Papperlapapp.«
Meine Chefin winkt ab.
»Das sind doch auch wieder nur so Hirngespinste. Was will sie denn in einer Behinderteneinrichtung? Versauern? Meine Tochter gehört an eine gute Uni. Sie hat so viel Potenzial.«
Das mit dem Potenzial sehe ich genauso. Allerdings habe ich in letzter Zeit auch begriffen, dass es schier unmöglich ist, Kim von dem abzubringen, was sie sich in den Kopf gesetzt hat. Sie ist einfach hartnäckig, wenn sie etwas will. Oder eben auch nicht will.
Das zu akzeptieren, muss schwer für ihre Mutter sein, doch wenn Monika Bernhard ganz ehrlich mit sich selbst ist, wird sie erkennen, dass diese Hartnäckigkeit auch eine ihrer herausragenden Eigenschaften ist.
»Sie müssen mir Ihr Wort geben, dass Sie mit Kim reden.«
»Ich kann es versuchen, aber … «
»Ich weiß. Ich könnte … Oh man. Frau Regan, warum Kim? Sie war doch auf einem so guten Weg.«
Das mag sein, aber Kims Weg ist doch nicht schlechter, nur, weil er anders ist als die Pläne, die ihre Mutter im Kopf hatte.
Monika Bernhard schüttelt pausenlos den Kopf. Es ist ihr anzusehen, dass sie mit sich kämpft und all das, was sie in letzter Zeit herausgefunden hat, verarbeiten muss. So ein Prozess braucht seine Zeit. Das kann ich nachvollziehen.
Auch, wenn es vielleicht einen anderen Anschein macht, habe ich auch meine Zeit gebraucht.
Ich habe mich innerlich und äußerlich gewehrt und versucht, das Unvermeidliche zu umgehen. Auf dem Weg zu Kim habe ich mich beinahe selbst verloren. So hat es sich jedenfalls angefühlt. Ich habe Dinge getan, die ich niemals für möglich gehalten hätte und habe meine eigenen Werte verraten. In der letzten Zeit gab es häufiger Momente, in denen ich vor dem Spiegel stand und mich selbst angeschaut habe. Bin das wirklich noch ich?, habe ich mich nicht nur einmal gefragt und konnte es kaum glauben, dass tatsächlich ich es bin, die zu solchen Gefühlen und zu solcher Sehnsucht in der Lage ist.
Kim hat mich dazu gebracht, mein Innerstes nach außen zu kehren. Sie hat mich auf den Kopf gestellt. Mein gesamtes Wertesystem ausgehebelt. Jegliche Gegenwehr hat sie im Keim erstickt. Sie gibt mir jeden Tag das Gefühl, jede noch so schwierige Situation meistern zu können, solange ich ganz fest an sie und mich glaube.
Dieser Glaube ist es, der es mir ermöglicht, gerade zu stehen und meiner Chefin in die Augen zu schauen. Unter normalen Umständen hätte ich diesen Blick und die Aufmerksamkeit, die mir zuteil wird, nicht ausgehalten.
Ich komme mir vor, als wäre ich ein anderer Mensch geworden. Selbstbewusster und offener. Aber auch entspannter und nicht mehr so verbissen. Ich trinke kaum Alkohol und fühle mich trotzdem, als wäre ich ständig im Vollrausch. Dieses Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren, ist so heftig, dass ich mich manchmal selbst umarmen muss, um den Bezug zur Realität nicht komplett zu verlieren.
Meine Chefin schaut mich prüfend an.
»Sie machen es mir so verdammt schwer.«, brummt sie.
»Wenn ich Sie anschaue, sehe ich eine meiner besten Lehrkräfte. Eine Frau, die mit beiden Beinen im Leben steht. Gleichzeitig weiß ich, dass Sie … «
Monika Bernhard stockt. Sie schaut mir tief in die Augen, öffnet den Mund, schließt ihn dann aber wieder, ohne etwas zu sagen.
»Es tut mir leid.«, sage ich leise.
»Es war nicht meine Absicht, glauben Sie mir das bitte. Sie kennen Kim selbst.«
Meine Chefin stöhnt auf.
»Sie wissen, wie sie sein kann.«
»Ich glaube, mehr will ich gar nicht wissen. Ersparen Sie mir bitte lieber die Einzelheiten. Ich will es mir nicht vorstellen.«
Die Bernhard schaut mich an. Ich halte ihrem Blick stand.
»Geben Sie mir bitte Zeit und erwarten Sie nicht zu viel.«
Als ob ich in der Position wäre, etwas zu erwarten. Ich kann mich Von und Zu schreiben, wenn sie mir nicht die Schippe, um mein eigenes Grab zu schaufeln, in die Hand drückt.
Es ist ein eigenartiges, mit nichts vergleichbares, Gefühl, der älteren Frau gegenüberzusitzen und mit ihr über den wichtigsten Menschen in unserer beider Leben zu sprechen. Wir betrachten die Sache zwar aus zwei grundsätzlich verschiedenen Positionen, doch die Liebe für Kim verbindet uns doch auf eigenartige Weise.
»Ich habe lange überlegt, ob ich Ihnen nahelegen soll, eine Versetzung auf eine andere Schule zu beantragen, doch je länger ich darüber nachgedacht habe, desto mehr bin ich zu dem Schluss gekommen, dass das auch nicht der richtige Weg ist. Wenn Sie in eine andere Stadt ziehen, wird Kim Ihnen folgen. Dann sehe ich mein Kind kaum noch.«
Ich lausche Monika Bernhards Worten und betrachte sie aufmerksam. Keine ihrer Regungen entgeht mir.
»Das würde ich nicht ertragen.«
Meine Chefin ist sehr leise geworden. Sie wirkt in sich gekehrt und ängstlich.
»Außer Yannick und ihr habe ich doch niemanden.«
Das Gespräch mit meiner Vorgesetzten entwickelt sich so ganz anders als anfangs befürchtet. Statt mir Vorhaltungen zu machen, lässt sie mich tief in ihre Seele blicken. Ich muss gestehen, dass mich das schon ein bisschen überfordert. Sie ist meine Chefin. Ich bin nur eine Lehrerin, keine Therapeutin.
Selbst, wenn ich wollte, bin ich nicht die richtige Person, um ihr zu helfen.
Allerdings wundert es mich schon, dass die Bernhard das Gefühl hat, allein auf weiter Flur zu sein. Sie ist eine attraktive Frau und könnte vermutlich an jeder Hand zehn Kerle haben. Wenn sie wollte. Aber anscheinend will sie das nicht. Ob sie sich und ihre Wünsche wohl hinter ihre Kinder gestellt hat? Vorstellen könnte ich es mir. Sie wirkt zwar hart und mitunter eiskalt, doch kann dieser Schein durchaus täuschen. Ich kenne sie im Grunde nicht.
»Ich kann nicht mehr. Bitte versprechen Sie mir nur eines.«
Monika Bernhards Blick dringt tief in mich.
»Tun Sie meiner Tochter nicht weh.«
»Das habe ich ganz sicher nicht vor.«
Mein Herz lacht und weint. Zu gleichen Teilen.
»Das verspreche ich Ihnen.«
»Danke. Danke, dass Sie sich Zeit genommen haben.«
Was hatte ich denn für eine andere Wahl? So, wie meine Chefin mich anschaut, kommt es mir so vor, als hätte sie für sich die Positionen verschoben. Eigentlich müsste ich den Boden, auf dem sie steht, vor Dankbarkeit küssen.
Nicht sie … sollte mir danken, sondern ich ihr. Dass sie mich nicht von der Polizei abholen lässt, oder mich hochkant hinaus wirft.
Statt mich fertig zu machen, hat sie lediglich drei Bitten geäußert. Die Sache zwischen mir und Kim diskret zu behandeln, Kim nicht zu verletzen und ihr Zeit zu geben, sich mit der veränderten Situation anzufreunden.
»Sie können dann jetzt gehen.«
Da meine Vorgesetzte offensichtlich nicht vorhat, noch etwas zu sagen, setze ich mich langsam, wie auf rohen Eiern gehend, in Bewegung. An der Tür schaue ich über meine Schulter zurück. Monika Bernhard sitzt am Schreibtisch und stützt den Kopf mit beiden Händen. Sie sieht eingefallen und mitgenommen aus und ich kann es ihr nicht verübeln. Ich war nie in der Situation, mich um mein eigenes Kind zu sorgen, doch in diesem Moment kann ich sie so verdammt gut verstehen. Sie tut mir so unendlich leid. Ich würde ihr gerne helfen, doch es gibt nichts, womit ich sie aufrichten könnte, außer ihre Wünsche zu respektieren und Kim glücklich zu machen.
Ich werde alles in meiner Macht stehende tun, dass Kim glücklich ist. Dieses stumme Versprechen gebe ich ihr mit einem langen Blick in ihre Richtung.
Mit der Hand am Türgriff überlege ich, ob ich meiner Chefin zumindest einen kurzen Überblick über den Schüleraustausch in Irland geben soll, entscheide mich jedoch dagegen. Wenn sie mit mir darüber hätte sprechen wollen, hätte sie es auch getan.
Private Sorgen und Probleme hin oder her, meine Chefin ist professionell genug, um ihre persönlichen Nöte, wenn es darauf ankommt, hinten anzustellen. Dass sie mich nicht fragt, erkläre ich mir damit, dass sie bereits das Gespräch mit dem Kollegen, mit dem ich in Irland war, gesprochen hat.
Also drücke ich den Griff hinunter und verschwinde aus ihrem Büro.
Mein Alltag wartet. Vor der geschlossenen Bürotür halte ich einen Moment inne und atme tief durch.