Schweden, heute
Tag 1 

Nomen est omen , dachte Hauptkommissarin Ingrid Nyström und seufzte. Eigentlich hätte man hier den Plural anwenden müssen, aber wer war in Latein schon derart bewandert? Anders, ihr Mann, da war sie sich sicher, aber der war schließlich Pastor und stand ihr gerade nicht zur Verfügung. Die Namen jedenfalls sagten alles, was man über die angespannte Lage wissen musste. Nyström brachte ihren kleinen Toyota auf einem Parkplatz für Tagesausflügler zum Stehen und stieg aus. Es war ein frischer Spätsommermorgen, und die Septembersonne ließ die Blätter der umliegenden Buchen, Eichen, Birken und Linden, der Ahornbäume und Haselnusssträucher in Nuancen von Rot-, Gelb- und Grüntönen leuchten. Es ging um diese Bäume, um genau diesen Wald, an dessen östlichem Rand sie sich nun befand. Der Kern des beinahe neuntausend Hektar umfassenden Mischwaldgebiets stand unter Naturschutz. Jahrhundertelang war es als Riesenkopfwald bekannt gewesen, benannt nach einer markanten felsigen Anhöhe an der Westseite des Areals, die eindrucksvoll die topografische Grenze des småländischen Hochlands markierte. In den vergangenen Jahren hatte sich im Volksmund jedoch zunehmend der Name Lodjurskogen durchgesetzt, der Luchswald, denn in der Tat stellte das Gelände eines der letzten südskandinavischen Habitate der seltenen Raubtiere dar. Diese Bezeichnung verwendeten die Umweltverbände, Naturschutzvereine, Aktivistengruppen und Teile der Presse, während andere Medien, die Regierung und auch Großteile der Opposition, die Regionalverwaltung, der Landkreis und der staatliche Holzkonzern, Eigner von vierundneunzig Prozent des Gebiets, zunächst von der Naturzone 427-B sprachen, was im Laufe der immer härter geführten Debatte um die Zukunft des Waldes jedoch irgendwann auf 427-B verkürzt wurde, ein nüchternes Aktenzeichen, in dem nun wirklich nichts mehr anklang, was irgendwie schützenswert gewesen wäre. Framing , dachte Nyström, beide Seiten lieferten in den Namen ihre Botschaften gleich mit. Die Fronten waren verhärtet, die Situation zugespitzt. Ursache für den Konflikt war das größte Infrastrukturvorhaben des Landes, der Bau einer Hochgeschwindigkeitsbahn zwischen Stockholm, Göteborg und Malmö. Das Multimilliardenprojekt war eine umweltpolitische Herzensangelegenheit der Regierung und sollte perspektivisch die Zahl der Inlandsflüge drastisch senken. Nachdem jahrelang um Kostenobergrenzen, Streckenführung und einen Wust an Details gerungen worden war, zeichnete sich im Parlament schließlich ein mehrheitsfähiger Konsens ab. Eine Konsequenz dieser Kompromisslösung bestand darin, dass die Bahntrasse ebenjenes Areal 427-B beziehungsweise Lodjurskogen durchschneiden würde. Als Teil der EU -Umweltinitiative Natura 2000 war das Gebiet zwar grundsätzlich geschützt und der Erhaltung gefährdeter Tier- und Pflanzenarten verpflichtet, allerdings galten hier nicht die strikten Standards eines Naturreservats – in einem gewissen Umfang und unter bestimmten Umständen war die wirtschaftliche Nutzung gesetzlich gestattet. Auf diesen Passus berief sich das Verkehrsministerium, als es die endgültigen Pläne der Trassenführung vorstellte. Aus Sicht der Naturschützer wurde damit jedoch die Büchse der Pandora geöffnet, denn war die Teilung des Gebiets durch eine Schneise in ihren Augen schon an sich eine Bedrohung des Biotops, wurde sie durch die Ankündigung des staatlichen Holzkonzerns, im Fall des Trassenbaus die gesamte nördliche Hälfte des Waldes konventionell zu bewirtschaften, sprich in weiten Teilen abzuholzen, und die Verlautbarung des ebenfalls staatlichen Grubenunternehmens, anschließend die Möglichkeiten zur Erschließung vermuteter Nickelvorkommen zu prüfen, vollends zur ökologischen Katastrophe. Nach erbittert ausgefochtenen Grabenkämpfen – die Umweltschützer forderten, das Gebiet umgehend zum Naturreservat zu erklären – war der Konflikt schließlich vor dem Verwaltungsgericht in Växjö gelandet, wo er seit Monaten verhandelt wurde. Nyström verstand das argumentative Dilemma, deshalb fiel es ihr schwer, für die eine oder andere Seite Partei zu ergreifen. Zusammenhängende Waldgebiete waren für den Erhalt biologischer Vielfalt und den Schutz bedrohter Fauna und Flora natürlich lebenswichtig. Gleichzeitig musste sich die Gesellschaft, um die drohende Klimakatastrophe zu verhindern, innerhalb kurzer Zeit drastisch umstellen. Dazu brauchte es Projekte wie die Hochgeschwindigkeitsbahn und die wirtschaftliche Nutzung nachwachsender Rohstoffe, wie Holz einer war. Aber auch den inländischen Abbau von Metallen wie zum Beispiel Nickel, das zum Bau leistungsstarker Batterien benötigt wurde, jedenfalls dann, wenn man diesen eher unangenehmen Aspekt der E-Mobilität nicht vollends auf Entwicklungsländer abschieben wollte, wo der Abbau oft in nicht oder halb legalen Minen unter menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen und nahezu ohne Umweltauflagen erfolgte. Diese Widersprüche und Zielkonflikte würde auch das lang erwartete Gerichtsurteil nicht aus der Welt schaffen, das für den folgenden Tag angekündigt war. Eben deshalb war sie hier. Sie schloss den Wagen ab, prüfte ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe der Fahrertür und fuhr sich mit der Hand durch die praktische Kurzhaarfrisur, die von Jahr zu Jahr mehr graue Strähnen aufwies: bloß nicht zu spießig aussehen bei dem, was sie vorhatte. Dann schulterte sie ihre lederne Umhängetasche – könnte womöglich allein schon das Taschenmaterial als Provokation aufgefasst werden? Na ja, das ließ sich nun auch nicht mehr ändern, außerdem benutzte sie das abgewetzte Ding seit mehr als dreißig Jahren, nachhaltiger ging es ja kaum – und machte sich auf den Weg in den Wald. Green Village, wie die Aktivisten ihre als Protestcamp dienende Baumhaussiedlung samt angeschlossenem Zeltlager nannten, lag etwa zwei Kilometer nördlich ihres Standpunkts. Sie war in den vergangenen Wochen bereits mehrfach in Begleitung dort gewesen und hatte sich mit Sprechern des Camps ausgetauscht. Den Sommer über war die Gruppe beständig gewachsen und umfasste mittlerweile mehr als hundert Bewohner, überwiegend junge Leute. Die Gespräche hatten teils der Vertrauensbildung und Deeskalation, teils der Klärung ganz pragmatischer Fragen gedient, wie zum Beispiel der Wasserversorgung oder der hygienischen Umstände im Camp.

Als Reaktion auf den wachsenden Protest hatte die Regionalverwaltung, in deren Zuständigkeitsbereich das Waldgebiet lag, bereits vor einem halben Jahr eine sogenannte Task Force einberufen. Dort saßen Vertreter der Region Kronoberg, des Landkreises Växjö, ein von der Regierung gesandter stellvertretender Staatsrat, der kurze Kommunikationswege in die Hauptstadt sicherstellen sollte – es war sogar von einem direkten Draht zum Ministerpräsidenten die Rede –, sowie die Polizei, vertreten durch einen hochrangigen Einsatzkoordinator aus Stockholm, und Nyström selbst. Bisher verfolgte die Kommission in Hinblick auf die Aktivisten eine großzügige Linie, was vor allem der öffentlichen Meinung geschuldet war. Rechtlich gesehen hätte das Protestlager längst geräumt werden können, aber niemandem war an Nachrichtenbildern gelegen, die Polizisten in Kampfmontur zeigten, wie sie schluchzende Teenager von Bäumen herunterzerrten oder umweltbewegte Senioren in Trekkingsandalen mit dem Wasserwerfer bearbeiteten. Möglich waren solche Szenen zwar immer noch, aber nach dem von der Kommission erhofften und auch wahrscheinlichen Urteil, das dem Regierungsvorhaben und der damit einhergehenden Rodung grünes Licht geben würde – tatsächlich fanden sich Buchmacher, die Wetten auf den Ausgang des Gerichtsverfahrens anboten, wie man hörte mit einer Quote von eins zu fünf –, wäre die moralische Legitimation für eine Räumung eine andere. Ein gegensätzliches Urteil war zwar zumindest theoretisch möglich, was die Waldbesetzer zu jubelnden Gewinnern und das Camp ergo überflüssig machen würde, auch wenn die allermeisten Rechtsexperten und Prozessbeobachter nicht damit rechneten. Eine weitere, wenn auch ebenso unwahrscheinliche Alternative: Das Gericht könnte nach ausgiebiger Prüfung der Sachlage seine Nichtzuständigkeit feststellen und das Verfahren an die nächste und gleichzeitig höchste Instanz delegieren, was eine mindestens sechsmonatige Entscheidungsverzögerung zur Folge hätte. Wie viele Protestierer würden nach den ersten richtig kalten Winternächten noch in ihren Baumhütten und Zelten ausharren? Einige. Aber sicher deutlich weniger als im Moment.

So weit die strategischen Überlegungen der Kommission, die allerdings nicht unbedingt Nyströms persönliche Ansichten widerspiegelten. Überhaupt war ihr selbst nach Monaten des Mitwirkens noch schleierhaft, warum sie sich in die Sache hatte hineinziehen lassen. Als Chefin der Kriminalpolizei war sie mit gänzlich anderen Aufgaben betraut und eigentlich auch völlig ausgelastet. Die Idee war auf dem Mist ihres Vorgesetzten Erik Edman gewachsen, des Polizeichefs der Region, der in dieser Position eigentlich für die Task Force prädestiniert gewesen wäre. Doch mit der ihm eigenen Mischung aus durchsichtiger Schmeichelei, ungeschminkter Machtdemonstration, dem Einfordern von Loyalität und alten Gefallen sowie einem Appell an ihr Verantwortungsgefühl hatte Edman sie an seiner statt auf den Kommissionssitz bugsiert. Das Kalkül dahinter war klar: Sollte in polizeilicher Hinsicht irgendetwas schiefgehen, läge das in ihrer Verantwortung und nicht in seiner. Wie immer, wenn viel auf dem Spiel stand, wenn Emotionen, persönliches Engagement, ideologische Gegensätze, wenn wirtschaftliche und politische Interessen involviert waren, konnte auch viel schiefgehen: aus dem Ruder laufende Demonstrationen, Unfälle, Sachbeschädigungen, Anschläge, Angriffe auf Polizisten ebenso wie Polizeigewalt. Neben ihrer eigentlichen Arbeit war sie seit Wochen im täglichen Austausch mit dem Stockholmer Kollegen, der wiederum mit der Säpo zusammenarbeitete, die nachrichtendienstliche Bewertungen der Lage vor Ort lieferte. Offenbar gab es sogar V-Mann-Kontakte, allerdings ragten die nicht in die Szene der radikalen und militanten Umweltschützer hinein, die zwar in der absoluten Minderheit waren, von denen aber das größte Konfliktpotenzial ausging. Für die Urteilsverkündung am kommenden Tag war eine Kundgebung vor dem Gerichtsgebäude geplant, zu der Teilnehmer aus allen Ecken des Landes und darüber hinaus erwartet wurden. Allein aus Stockholm war mehr als ein Dutzend Reisebusse angekündigt. Eine bekannte Klimaaktivistin würde eine Rede halten. Man rechnete insgesamt mit vier- bis fünftausend Menschen. In der Innenstadt würden mehrere Hundertschaften der Bereitschaftspolizei eingesetzt werden. Mehr Kopfzerbrechen bereiteten Nyström jedoch jene Aktivisten, die nicht zu der zentralen Kundgebung gehen, sondern im Wald bleiben würden. Würde der Prozess wie allgemein erwartet zugunsten des Regierungsprojekts enden, waren verschiedene Aktionen zivilen Ungehorsams geplant, vor allem wollte man vom Lager aus in die vorderste Zone eindringen, in der einsatzbereite Forstmaschinen nach der Verkündung und dem Inkrafttreten des Urteils unmittelbar mit der Rodung beginnen würden, um dort durch Sitzproteste oder das Anketten an Bäume den Beginn der Abholzung zu blockieren. Dieser harte Kern bestand zum großen Teil aus den Bewohnern des Protestcamps.

Kommissarin Nyström folgte dem ausgetretenen Weg, den sie in den vergangenen Wochen bereits mehrmals entlangspaziert war. Durch das hohe Blätterdach fielen Kaskaden aus Licht und tupften helle Muster auf den Boden, Impressionisten hätten ihre Freude daran gehabt. Ein leichter Wind ließ die Blätter in den Baumkronen rascheln, und würziger Waldgeruch kitzelte in der Nase: Humus, Pilze, Moos. Es fiel ihr in der Tat schwer, sich vorzustellen, dass all dies schon in kurzer Zeit nicht mehr da sein könnte, und sie fragte sich zum wiederholten Male, warum sie in der Vergangenheit nicht öfter hierhergekommen war, lag Lodjurskogen doch keine halbe Stunde Autofahrt von ihrem Zuhause entfernt. Dabei ging sie gern und oft spazieren, dann aber meistens in den Tannen- und Fichtenwäldern, die in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft lagen und für Småland so typisch waren. Auf einer Lichtung, an deren Rand der Farn hüfthoch wuchs, blieb sie einen Augenblick stehen und holte tief Luft. Ja, dieser Wald war wirklich ein besonderer Ort. Die Vorstellung, dass ein Teil davon bald gerodet werden würde, war furchtbar, aller Neutralität, der sie sich verpflichtet fühlte, zum Trotz.

Um zum Green Village zu gelangen, hätte sie sich weiter in nördlicher Richtung halten müssen. Stattdessen ging sie jedoch auf den westlichen Rand der Lichtung zu und suchte nach einer Lücke im dichten Farn, die sie nach kurzer Zeit auch fand. Es war der Eingang zu einem schmalen Trampelpfad, der ihr niemals aufgefallen wäre, wenn man ihr nicht die Aufnahmen einer Kameradrohne ausgehändigt hätte. Obwohl ihr die nachrichtendienstlichen Methoden nicht ganz geheuer waren – eins musste man der Säpo lassen: Sie lieferte Ergebnisse. Ohne die Arbeit der Kollegen dort hätten sie von der Aktivistenzelle, die sich Wilde Luchse nannte, nichts erfahren. Die Wilden Luchse sonderten sich vom Rest der Protestbewegung ab. Das galt für die Radikalität ihrer Thesen und Methoden, aber auch ganz konkret räumlich. Die Gruppe, die aus acht bis zehn jungen Leuten bestand, hatte ihr eigenes kleines Lager errichtet, mehrere Kilometer vom Green Village entfernt. Es handelte sich um eine Handvoll Zelte, die im westlichen Teil des Waldes, unweit einer »Riesenkopf« genannten Anhöhe, aufgestellt worden waren. Dort zog sich wie ein Gürtel eine kilometerlange Felsstufe von Nord nach Süd, die zerklüftete Gegend war deutlich unzugänglicher, die Bäume standen dichter, das Unterholz war in Teilen undurchdringbar. Das Zeltlager der Luchse war mithilfe von Tarnnetzen beinahe unsichtbar gemacht worden, doch die Drohnen der Säpo hatten sie trotzdem entdeckt. Dass sich die Gruppe beim Verstecken so viel Mühe gab, sagte schon einiges aus. Das Gefährdungsbild flößte Nyström durchaus Respekt ein. Mehrere der Mitglieder standen im Verdacht, an einer Tierbefreiungsaktion in einer Nerzfarm beteiligt gewesen zu sein, damals unter dem Namen die Wilden Nerze, bei der ein Farmangestellter bewusstlos geschlagen worden war und bleibende Hirnschäden erlitten hatte. Die Gruppe wurde auch mit einer Brandstiftung in Verbindung gebracht, bei der die Vorratshalle eines Kosmetikherstellers in Flammen aufgegangen war. Dabei war zwar niemand verletzt worden, aber ein Sachschaden von mehreren Millionen Kronen entstanden. In einem einschlägigen Internetforum hatten die Luchse für den Fall des Rodungsbeginns verschiedene Aktionen angekündigt, ohne dabei konkret zu werden, aber eine Sabotage der Forstmaschinen galt als eins der möglichen Szenarien. Insofern war Nyströms unangekündigter Besuch nicht ohne Risiko. Es war schwer vorauszusehen, wie die Gruppe auf eine Kontaktaufnahme samt sogenannter Gefährderansprache reagieren würde. Nyström war allein, in Zivil und unbewaffnet. Das alles konnten Vorteile sein. Hier zeigte sich die Staatsmacht nicht mit grimmigem Gesicht und harter Hand, sondern mit einem Lächeln, das Gespräch suchend, vermittelnd. Trotzdem würde die Botschaft den Aktivisten sicherlich nicht schmecken: Wir haben euch auf dem Zettel und behalten euch im Auge, also baut keinen Mist. Es war durchaus vorstellbar, dass man ihr aggressiv begegnete. Frederik Hector, der Stockholmer Einsatzleiter, hatte ihr davon abgeraten, die Gruppe aufzusuchen. Dennoch war sie davon überzeugt, das Richtige zu tun. Auch wenn diese Art der Straftatenprävention in dreißig Dienstjahren nie zu ihrem Aufgabengebiet gehört hatte, war sie doch mit der ihr eigenen empathischen Grundhaltung, Offenheit und Gesprächsbereitschaft, gepaart mit einer klaren Ansprache, meistens an ihr Ziel gekommen. Sie folgte dem Pfad etwa zwei Kilometer. Die Bäume wurden niedriger, das Unterholz dichter. An einer Brombeerranke riss sie sich die Haut am Unterarm auf, an ihren Hosenbeinen sammelten sich Kletten. Der Boden wurde härter und felsiger, es ging bergauf, und sie begann zu schwitzen. Die Luchse hatten sich den Standort ihrer Zelte sorgfältig ausgesucht. Obwohl das Lager relativ nah an der westlichen Waldgrenze lag, war es doch schwer zu erreichen. Entweder musste man wie Nyström auf schmalen Pfaden von Osten, Norden oder Süden weit durch den Wald marschieren oder von Westen her eine Felsstufe hinabklettern. Erschwerend kam hinzu, dass dem westlichen Waldrand ein kilometerweiter Flickenteppich aus Weizenfeldern und Kuhweiden vorgelagert war, der sich über die Hügellandschaft legte. Dort gab es keine öffentlichen Straßen, sondern nur landwirtschaftliche Nutzwege, die so holperig waren, dass man ohne Trecker oder Geländewagen nicht mal in die Nähe des Waldes gelangte. Doch nicht nur deshalb war das Versteck gut gewählt. Das Green Village war am östlichen Waldrand errichtet worden, in unmittelbarer Nähe der angekündigten Rodungsarbeiten, entsprechend lag der Ort auch im Fokus der medialen Berichterstattung und des öffentlichen Bewusstseins. Dabei war vernachlässigt worden, dass der Trassenbau zeitgleich auch am westlichen Waldrand beginnen würde, sogar mit noch viel gravierenderen Eingriffen in die Natur, denn aufgrund der Topologie musste eine breite Bresche in die Felsaufwerfung gesprengt werden. Die Luchse mussten von ihrem Lager aus nur ein wenig klettern, um in die Nähe der dort bereitstehenden Bagger, Tieflader und Forstmaschinen zu gelangen, die alle perfekte Sabotageziele abgaben.

Die Umgebung änderte sich ein weiteres Mal. Die Vielseitigkeit Lodjurskogens war ein Argument, das Naturschützer oft anbrachten, wenn es darum ging, die ökologische Ausnahmestellung des Waldgebiets zu verdeutlichen, zu Recht, wie Nyström nicht umhinkam zu konstatieren. Das verwachsene Unterholz war einem lichten Lärchenhain gewichen. Sie legte den Kopf in den Nacken und blickte zu den majestätischen Stämmen in ihrem gelb gefärbten Nadelkleid auf. Lärchen waren selten geworden, sie litten wie viele andere Baumarten unter den immer wärmer werdenden Sommern, die Schädlinge wie den Lärchenbock oder den Großen Lärchenborkenkäfer im Gepäck hatten. Auch dieses Jahr war wieder überdurchschnittlich warm und trocken gewesen, in der gesamten Region und den umliegenden Landkreisen herrschte latente Waldbrandgefahr, weshalb offenes Feuer verboten war, was sie und ihre Kollegen auch den Bewohnern des Green Village hatten eintrichtern müssen, denn nicht immer gingen Naturenthusiasmus und Sachkenntnis Hand in Hand. Mittlerweile war die Achtung des Verbots von den Wortführern des Camps konsequent durchgesetzt worden, und auch wenn der eine oder andere sicherlich die fehlende Lagerfeuerromantik vermisste, hatte man die Essenszubereitung komplett auf Feldküchen und Campingkocher umgestellt.

Nyström durchquerte den Lärchenhain. Der Pfad führte auf ein der Felsstufe vorgelagertes Plateau, das wegen seines alten Bestands aus knorrigen, verwachsenen Eichen eine besondere, beinahe verwunschene Atmosphäre hatte. Felsiger und weicher Waldboden wechselten sich ab, oft verschwand der Grund gänzlich unter einem Blätterteppich. Nun konnte es nicht mehr weit sein. Sie bemerkte, dass rechts von ihr auf einer Kuppe in der Mitte der Anhöhe die Eichen in einer auffälligen Formation standen. Deutlich erkennbar formten sie einen Kreis. Der Radius betrug etwa zwanzig Meter. In der Mitte der so entstandenen Lichtung lag ein behauener Findling, dessen Quaderform an einen Altar erinnerte. Neugierig geworden, betrat sie den Baumkreis und schaute sich den Felsen aus der Nähe an. Die Oberseite war mit eingekerbten Runen bedeckt. Nun erinnerte sie sich, vor langer Zeit vom Stein und der Eichenlichtung gelesen zu haben. Jahrhundertelang war er fast vollständig vergraben gewesen, nur eine Ecke hatte aus dem Waldboden herausgeragt. In den Achtzigerjahren war ein Pilze sammelndes Ehepaar auf diese Steinspitze mit Runeninschrift aufmerksam geworden, woraufhin Archäologen den Felsen freigelegt und sein Alter bestimmt hatten. Die damals völlig verwachsene Lichtung war wieder frei geschnitten worden, und der Runenstein wurde für einige Jahre ein beliebtes Ziel von Wanderungen, besonders frisch Verliebten hieß es, sollte er Glück bringen. Irgendwann war er dann mehr oder weniger in Vergessenheit geraten. Steine solcher Art gab es in Småland an die hundert. Nyström strich mit der Hand über den von der Sonne erwärmten Felsen. In der Mitte der kantigen Schriftzeichen prangte ein Kreuz, was auf die etwa achthundert Jahre zurückliegende Christianisierung Südschwedens verwies. Damals hatten die Menschen, die hier lebten, wahrscheinlich existenziellere Probleme als eine umstrittene Zugtrasse gehabt, dachte sie. Andererseits, wenn man die Kontroverse um das Waldgebiet im Kontext des Klimawandels betrachtete …

In dem Augenblick war es plötzlich da, das unbehagliche Gefühl, beobachtet zu werden. Als hätten ihre Sinne unterhalb der Bewusstseinsgrenze etwas bemerkt, eine Bewegung aus den Augenwinkeln, ein leises Geräusch … Sie drehte abrupt den Kopf. Jenseits des Eichenrings ging es steil Richtung Riesenkopf hinauf. Irgendwo dort musste das Lager der Luchse liegen. Sie legte den Kopf in den Nacken und schirmte ihre Augen mit dem Handrücken ab. Dort oben, etwa fünfzig Meter Luftlinie von ihr entfernt, stand jemand und sah auf sie hinunter. Eine junge Frau. Schwarze Hose, schwarze Windjacke, schwarze Schirmmütze. Nyström rief einen Gruß und winkte. Die Frau reagierte nicht. Trotzdem ging Nyström auf sie zu. In Dialog treten, dachte sie, Vertrauen herstellen. Unter ihren Füßen raschelten bei jedem Schritt trockene Eichenblätter, bis der Boden plötzlich unter ihr nachgab, sie ins Leere trat und fiel.

 

 

 

 

Er starrte sein Spiegelbild an. Es starrte zurück. Das war eine der zahllosen Legenden der modernen Zeit: dass es keine Monster gab. Oder dass, wenn es doch Monster gab, sie von innerer Natur waren, psychische Deformationen, kaputte Seelen, Soziopathen als nette, adrette Nachbarn von nebenan. Aber das war alles Blödsinn. Mit ihm jedenfalls hatte es nichts zu tun. Vielmehr war es umgekehrt. Innerlich war er heil, er war schön und gesund, dennoch starrte ihm aus dem unerbittlichen Spiegel eine Monstrosität entgegen. Es war paradox. Obwohl er sein Gegenüber mit aller Inbrunst hasste, konnte er sich von seinem Anblick nicht losreißen. Erst als die Tür des Gemeinschaftsbads aufging und hinter ihm jemand mit schnalzenden Flipflops in einer der Duschkabinen verschwand, beamte er sich wieder ins Hier und Jetzt zurück. Was kaum weniger erbärmlich war. Der Geruch von scharfen Reinigungsmitteln war durchdringend; sich überlagernde Deodorants und Duschgels sowie ein leichter, aber nicht zu ignorierender Hauch Scheiße. Boshaft rieb der Gestank ihm eine unumstößliche Tatsache unter die Nase: Von heute an würde er die kommenden Jahre in der erdrückenden Nähe anderer pubertierender Teenager leben, und es gab nichts, was er dagegen tun konnte, außer sich aufzuhängen, zu erschießen oder die Pulsadern zu öffnen, allesamt durchaus beunruhigend tröstende Optionen, »Letzte Ausfahrt Brooklyn«. Hinter einer der Türen knatterte ein Furz, eine Klospülung rauschte. Unter der prasselnden Dusche sang eine gut gelaunte Stimme einen dämlichen Song. Der Spiegel vor ihm beschlug allmählich, was ihm nur recht war, verblassten dadurch doch seine Konturen. Er nahm die antiseptische Seife aus dem Kulturbeutel und wusch sich die Hände. Mutter hatte sie ihm eingepackt. Denn man weiß ja nie. Eine ihrer Phrasen. Aber was wollte sie damit eigentlich sagen? Dass auf dem Internat Lepra oder die Pest grassierten? Typhus oder die Syphilis? Warum in Gottes Namen hatte sie dann zugelassen, dass Vater ihn hierher abgeschoben hatte? Nichts als Lügen. Als er beim Abtrocknen der Hände ein letztes Mal aufsah, war der Spiegel vom kondensierten Wasser völlig beschlagen. Mit der Spitze des Zeigefingers schrieb er FUCK auf die feuchte Oberfläche und fügte nach kurzem Zögern ein YOU hinzu, ohne dass er hätte sagen können, an wen das überhaupt gerichtet war. An das Monster? Seine Eltern? Die zukünftigen Mitschüler und Lehrer? An die ganze verfickte Welt? Er warf die dämliche Seife in den Mülleimer unter dem Waschbecken und verließ das Bad.

Nächste Mission: in sein Zimmer zurückfinden. Was ein doppelter Euphemismus war. Erstens war das Zimmer kein Zimmer, sondern eine Art Mönchszelle, zweitens war es nicht seine Zelle, sondern er teilte sie mit einem Fleischklops namens »André, the Giant«, unter dem Spitznamen hatte er ihn jedenfalls vorläufig abgespeichert, was keineswegs abwertend gemeint war, er war ja selbst eine Monstrosität, außerdem hatte er vor dem Namenspaten, einem bekannten Wrestler der späten Achtzigerjahre, der im wirklichen Leben André Roussinoff geheißen hatte, Hochachtung und Respekt, was er seinem Zimmernachbarn jedoch wahrscheinlich nur schwerlich vermitteln konnte, denn wer in seinem Alter interessierte sich schon für Catcher wie Hulk Hogan und Co., für die Glamourzeit des US -amerikanischen Wrestling? Er hätte ja selbst Schwierigkeiten, jemand anderem seine Faszination für lang vergangene Schaukämpfe zu erklären. Das großsprecherische Spektakel, der Schweiß, die Muskeln, die inszenierte Gewalt. In einer der vielen Nächte, in denen er vor Selbstekel und Zweifel geplagt nicht hatte einschlafen können, war er auf Youtube auf alte TV -Aufnahmen gestoßen und merkwürdigerweise hängen geblieben. Er hatte zwar eine entfernte Ahnung, woran das lag, aber er hätte sie nicht in Worte zu kleiden vermocht.

Der Flur des alten Internatsgebäudes war verwinkelt, und jede Zimmertür glich der nächsten. Warum sie nicht durchnummeriert waren, sondern schräge pseudopoetische Namen wie »Adlerhorst« oder »Magdalenas Schrecken« trugen – André und er teilten sich das »Schlaraffenland«, angesichts der kargen Einrichtung und der mickrigen Dimensionen des Zimmers ein schlechter Witz –, hatte sich ihm bisher nicht erschlossen. Machten sie hier auf Hogwarts? War es eine Art Insiderwissen, dessen einzige Funktion darin bestand, Neulingen wie ihm das Ankommen mit Absicht zu erschweren? Wenn sie die beknackten Namen auf die Türen geschrieben hätten, hätte sich wenigstens ein gewisser Sinn ergeben. Aber so? Zweimal öffnete er falsche Türen, wurde blöde angeglotzt, murmelte Entschuldigungen und stolperte weiter, bis er schließlich doch im »Schlaraffenland« landete. Links, rechts, dritte Tür links, versuchte er sich einzuprägen. Wenigstens war der Gigant nicht da, und er konnte in Ruhe seinen Koffer und Rucksack auspacken. Jeans, Sweatshirts, Sneaker, Baseballcap, ganz normale Jugendkleidung, auch wenn seine Mutter es abschätzig ein »Gangsterrapper-Outfit« nannte. Um sie zu ärgern, trug er seitdem ein billiges Goldkettenimitat, wenn ihm danach war. Er hatte bei den wenigen Mitschülern, denen er bisher begegnet war, bemerkt, dass auf dem Internat ein anderer Wind wehte als draußen, im normalen Leben. Teenager in Jackett und mit Bügelfalte in der Hose. Gleichaltrige, die herumliefen, als wären sie hier nicht irgendwo in Småland, sondern auf einem Ivy-League-College. Gescheitelte Snobs in edlen handgenähten Schuhen. Lackaffenalarm – das traf es ziemlich genau. Er sortierte seine Lieblingsbücher ein, anschließend linste er zum Regal des Fleischklopses hinüber. Die einzigen Bücher, die keine Schulbücher waren, waren Biografien von Elon Musk und Jeff Bezos. Oh, my god. Wobei: Vielleicht standen die ja ebenfalls auf dem Lehrplan, er traute diesem Laden hier im Grunde alles zu. Allein schon der Name. Sokrates. Nichts gegen griechische Philosophen. Aber an dieser Schule wurde weder Griechisch noch Philosophie unterrichtet. Er hatte sich die Mühe gemacht, die Webseite des Internats sorgfältig zu studieren und sich in die Tiefen der Unterrichtspläne hineinzulesen. Der altsprachliche Habitus und das aufgeblähte Leitbild des Internats waren wie so vieles andere nur heiße Luft. So wie er die Sache sah, war das teure Internat ein Abstellgleis für Schüler, die ihren wohlhabenden Eltern zu anstrengend geworden waren. Eine Gelddruckmaschine, von Arschlöchern für Arschlöcher, die saftige Gebühren gegen ansehnliche Abschlussnoten eintauschte und die nächste Generation von BWL -Zombies und Jura-Affen auf die Welt losließ.

Als er sich, soweit es möglich war, im »Schlaraffenland« eingerichtet hatte, schaute er auf die Uhr. Es war früher Nachmittag. Bis zum ersten Treffen mit dem Mentor, der ihm zugewiesen worden war, um ihn herumzuführen und mit den Abläufen des Internats vertraut zu machen, blieb ihm noch eine gute Stunde. Er warf sich in sein Rapper-Outfit und machte sich auf den Weg an die frische Luft. Es war ein sonniger, aber frischer Tag. Eins musste man dem Sokrates lassen: Die Lage war toll. Nach Süden und Westen erstreckten sich Wiesen und Weiden, nach Norden und Osten alter Laubbaumbestand, hinter dem das Wasser eines nahen Sees in der Sonne glitzerte. In der Ferne entdeckte er weidende Pferde. Der Anblick ließ ihn an Zuhause denken. Wehmut, Schmerz und Sehnsucht überwältigten ihn. Er ritt, seit er fünf Jahre alt war. Dass seine Eltern es übers Herz gebracht hatten, ihn von Bosse zu trennen, entsetzte ihn von allen Dingen am meisten. Sie wussten genau, was der Wallach ihm bedeutete. Bosse war immer für ihn da gewesen. Bei Bosse hatte er sich sicher und geborgen gefühlt. Bosse war seine Monstrosität egal. Pferde urteilten nicht, jedenfalls nicht nach menschlichen Maßstäben, und das rechnete er Bosse hoch an. Für Vater dagegen empfand er nichts als Verachtung. Das, was der Alte trieb, war seiner Meinung nach moralisch verwerflich, bisweilen gar verabscheuungswürdig. Trotzdem war er immer noch sein Vater gewesen. Doch die Abschiebung aufs Internat war ein Verrat, den er ihm nicht verzeihen würde. Der Anlass war lächerlich. Eingeworfene Fensterscheiben und paar Krümel Marihuana. Deswegen so ein Theater zu machen. Was war denn mit den ganzen Pillen, die er auf ärztliche Anordnung hin nehmen musste? Die Stimmungsaufheller, die verschleiern sollten, wie er sich wirklich fühlte? Die dafür sorgen sollten, dass er ein funktionierendes Zahnrad in der großen Maschine wurde? Dass er das Spiel mitspielte? Die Tabletten waren der krasse Scheiß, nicht die mikroskopisch kleine Menge Gras. Trotzdem war der Fund wie Wasser auf die Mühlen des Alten gewesen und, schlimmer noch, er hatte damit Mutter auf seine Seite gezogen. Von einer Zäsur war die Rede gewesen, von einer Luftveränderung. Von Kontakt zu Gleichaltrigen, von einer gelebten Gemeinschaft. So ein Bullshit.

Sein Spaziergang endete an einem Gatter. Zwei neugierige Fohlen kamen so nah, dass er ihre Köpfe streicheln konnte. Während seine Hand durch das weiche Fell fuhr, kam ihm ein Gedanke, der ihm sein bisheriges fünfzehn Jahre währendes Leben lang fremd gewesen war: Um das hier zu überleben, brauchte er mehr als ein Pferd, er brauchte einen echten Freund, auch wenn er nicht die geringste Ahnung hatte, wie er das anstellen sollte.