Tag 2 

Hauptkommissarin Ingrid Nyström lag in einem Krankenhausbett, Fuß- und Handgelenk bandagiert, das Pochen darin dank der starken Medikamente nur ein fernes Echo der Schmerzen, die sie nach dem Fall in das von dünnen Zweigen und Blättern getarnte Loch gespürt hatte. Trotz der Hand- und Sprunggelenksfraktur sowie einer Gehirnerschütterung hatte sie Glück im Unglück gehabt. Sie ging die Ereignisse des Vortags, so verschwommen sie waren, in Gedanken immer wieder durch. Hilflos und nahezu bewegungsunfähig hatte sie auf dem kalten Boden der ausgehobenen Grube gelegen. Sie war mit der unverletzten Hand zwar an ihr Smartphone gekommen, aber das hatte keinen Empfang gehabt, was im Funkschatten des Felsmassivs keine Überraschung war. Neben den rasenden Schmerzen in der linken Hand und im rechten Fußgelenk waren das ohnmächtige Gefühl der Verlorenheit und der Geruch der feuchten Erde ihre intensivste Erinnerung. Doch irgendwann hatte sie das Brummen eines sich nähernden Hubschraubers gehört, das zu einem ohrenbetäubenden Dröhnen angewachsen war, als der Helikopter über ihr in der Luft gestanden hatte. Ein Mann vom Rettungsdienst hatte sich mithilfe einer Winde abgeseilt, und sie war mit einer heruntergelassenen Trage aus ihrer misslichen Lage geborgen worden. Das schwerelose und schwindelnde Gefühl, über den Baumkronen zu schweben, würde sie nie vergessen. Danach beschleunigte sich die Abfolge der Bilder: der Flug zum Krankenhaus. Das Abtasten ihres Kopfes. Die Gesichter von Ärzten und Pflegern. Die mechanischen Geräusche des Röntgenapparats. Die Spritze, mit der die Operation der zertrümmerten Gelenke eingeleitet worden war. Alles um sie herum war schwarz geworden. Später dann war Anders bei ihr gewesen. Seine raue Hand in ihrer. Die Sorgen in seinem Gesicht. Der Trost seines Lächelns. Irgendwann war sie wieder weggedämmert. Schweißausbrüche und wilde Träume in der Nacht, irgendetwas mit Pferden, ein unendlich trockener Mund, alles Nebenwirkungen der morphinhaltigen Schmerzmittel. Am Morgen hatte Anders sie ein zweites Mal besucht, dieses Mal waren ihre Tochter Anna und ihr vierjähriger Enkel Albert dabei gewesen. Seine Zeichnung eines Hubschraubers mit Blaulicht lag auf ihrem Nachttisch. Alberts Helikopter erinnerte an das Yellow Submarine der Beatles. Der Besuch war schön gewesen, hatte aber auch Kraft gekostet, was vermutlich vor allem mit der Gehirnerschütterung zusammenhing. Ihr Kopf dröhnte. Immer wieder versuchte sie, das Bild von der jungen Frau auf der Anhöhe vor ihrem inneren Auge zu visualisieren: vergebens.

Die Tür des Krankenzimmers öffnete sich und riss sie aus ihren Gedanken und Träumen. Es war ihr Vorgesetzter, Polizeichef Erik Edman, in der Hand eine Pralinenschachtel, wie man sie im Krankenhauskiosk kaufen konnte. Er nahm auf dem unbelegten Bett Platz, das in einigem Abstand neben ihrem stand, und erkundigte sich nach ihrem Befinden. Sie kannte ihn gut genug, um seine zuckenden Mundwinkel als Ungeduld zu dechiffrieren. Edman war nicht hier, um ihr gute Besserung zu wünschen, sondern weil er etwas von ihr wollte.

»Vielen Dank für die Blumen, aber solltest du nicht im Präsidium sein?« Ihre Stimme war rau und heiser und klang fremd in den eigenen Ohren. »Bis zur Urteilsverkündung kann es nicht mehr lange dauern, und nach meinem, nun ja, Ausfall habe ich angenommen, dass du notgedrungen stellvertretend für mich …«

»Darum geht es ja«, unterbrach er sie, »jedenfalls im weiteren Sinne.«

Sie richtete sich auf, so gut es ging. Ihr Kopf wummerte, und in den Ohren rauschte das Blut. Irgendetwas in seinem Tonfall, in der Art, wie er sie anblickte, alarmierte sie.

»Was ist los, Erik?«

So sehr er gerade noch aufs Tempo gedrückt hatte, so sehr druckste er nun herum.

»Wie soll ich sagen …? Wir … also ich im Dialog mit … also die Task Force ist einstimmig der Meinung, dass wir deinen … also, dass wir das, was dir gestern geschehen ist, als einen Anschlag auf die Ordnungsmacht, ja, als Tötungsversuch einer Polizistin im Dienst einstufen müssen.«

Sie starrte ihn fünf lange Sekunden an.

»Blödsinn.«

Er wich ihrem Blick aus.

»Ist es das wirklich?«

Er zog die Wörter unnatürlich in die Länge. Zäh und klebrig wie Kaugummi.

»Ja, das ist es, und das weißt du auch, Erik.«

»Aber was ist es denn, wenn es kein Tötungsversuch war?«

Sie zuckte mit den Schultern, was sie sofort bereute, denn ein Schmerzblitz fuhr ihr vom Oberarm bis ins frisch operierte Handgelenk.

»Irgendwelche Idioten, die ein Loch gegraben haben«, presste sie mit verzerrtem Gesicht hervor.

»Das war kein Loch, Ingrid, sondern eine heimtückische Falle.«

»Aus der ich selbst putzmunter wieder herausgeklettert wäre, wenn ich nicht so ungeschickt gefallen wäre.«

»Du hättest sterben können.«

»Blödsinn! Die Grube war gerade einmal einen Meter tief. Hätte ich mir den Kopf nicht dummerweise an dem einzigen Stein gestoßen, der da im Boden war, und wäre ich nicht so unglücklich aufgekommen, wäre überhaupt nichts passiert. Warst du dort und hast es dir angesehen?«

»Ich habe den vorläufigen Bericht der Spurensicherung gelesen«, sagte er kleinlaut.

»Den vorläufigen Bericht, Erik. Na dann.« Nach einer Pause: »Selbst wenn es diese ominösen Wilden Luchse waren: Die wollten niemanden umbringen. Dazu hätten sie ein viel tieferes Loch graben und angespitzte Äste in den Boden rammen müssen. Vor allen Dingen hätten sie wohl kaum selbst den Notruf getätigt.«

»Der Anruf war anonym, wir wissen nicht, ob er von einem Mitglied dieser militanten Gruppe kam. Es kann genauso gut eine Spaziergängerin oder ein Orientierungsläufer gewesen sein, der dir das Leben gerettet hat.«

»Militante Gruppe.« Sie wiederholte seine Worte. »Das Leben gerettet.« Und plötzlich begriff sie, was Edman im Schilde führte. Sie blickte ihn aus zusammengekniffenen Augen an. »Es geht hier gar nicht um mich, nicht wahr?«

»Ich weiß nicht, was du meinst.«

»Die Task Force … Du … Ihr …« Es war so durchsichtig wie niederträchtig. Ihre Lippen formten sich zu einem kalten, bösen Lächeln. »Sie wollen die Geschichte aufbauschen … Sie wollen eine Trumpfkarte in der Hinterhand. Sie wollen Munition. Mordanschlag auf Polizistin. Falls nach dem Urteil die Proteste richtig losgehen und die Situation eskaliert, wollen sie etwas, das die öffentliche Meinung gegen die Aktivisten dreht. Etwas, das ein hartes Durchgreifen legitimiert. Denn wer stellt sich schon auf die Seite von Polizistenmördern?«

Edman stritt es noch nicht einmal ab. Er rieb sein Ohrläppchen.

»Wie gesagt, es ist ein einstimmiger Beschluss.«

Glaubte er wirklich, sie würde dieses Spiel mitmachen? Das Opfer spielen? Kannte er sie nach all den Jahren so wenig?

»Erik, ich mache da nicht mit! Unter keinen Umständen! Solange ich die Abteilung für Gewaltverbrechen leite, werden wir diese dämliche Grube nicht als Todesfalle betiteln. Es war eine Kinderei, es war ausgesprochen dämlich. Aber mehr auch nicht.«

Edman strich sich einen Staubfussel von der edlen Krawatte und seufzte.

»Du verstehst es noch immer nicht. Wir hier in Kronoberg, genauer gesagt, dein Team ist gar nicht im Spiel, Ingrid. Wegen Befangenheit. Du kannst schließlich nicht einen Mordanschlag auf dich selbst untersuchen, nicht wahr?« Es verschlug ihr die Sprache. »Der Staatsschutz wird in der Sache ermitteln.«

Sie spürte Wut in sich aufwallen. Eine alte, nur zu bekannte rasende Wut. Plötzlich waren all die schrecklichen Dinge wieder da. Der Betrug. Die Verschwörung. Die vielen Toten. Ihre Schuldgefühle.

»Ich fasse es nicht, Erik.« Sie schüttelte den Kopf, eine Bewegung, die ihr der geschundene Körper ebenfalls nicht verzieh. Die Schmerzen zuckten von den Schultern über den Nacken in den Kopf. Sie biss die Zähne zusammen. »Hast du vergessen, was passiert ist? Der Staatsschutz hat uns in den vergangenen Jahren zwei Fälle aus der Hand gerissen, die Ermordung meiner Schwiegertochter und das Attentat auf Stina Forss. Beide Male wurden die Ermittlungen absichtlich gegen die Wand gefahren, beide Male wurden wir von diesen Leuten nach Strich und Faden belogen und an der Nase herumgeführt. Spuren wurden verwischt, Verbrechen vertuscht. Und nun wagst du es, diese zwielichtigen Figuren noch ein weiteres Mal ins Boot zu holen? Wegen eines Lochs im Waldboden?«

Im Gegensatz zu ihr und ihrer ehemaligen Mitarbeiterin Stina Forss kannte Edman bis heute nicht die wahren Hintergründe für die verschleppten Ermittlungen. Aber selbst er hatte begriffen, dass der Geheimdienst in Nyströms Untersuchungen eingegriffen hatte, um Dinge zu verschleiern, die nicht ans Licht der Öffentlichkeit gelangen sollten.

Er hob die Hände von seinen Oberschenkeln und ließ sie resigniert wieder fallen.

»Das alles ist nicht meine Idee, ich hoffe, das weißt du. Der Druck kommt von oben, von sehr weit oben.«

»Nicht der Staatsschutz, Erik.« Ihre Blicke trafen sich. »Alles und jeder, aber nicht der Staatsschutz. Nicht nach allem, was geschehen ist. Das schuldest du mir.« Sie zögerte einen Moment. »Bitte«, fügte sie schließlich hinzu, auch wenn das Wort einen galligen Nachgeschmack hinterließ.

Waidwund stöhnte er auf. Theatralik konnte er gut.

»Was soll ich denn dagegen tun, Ingrid? Der Wille, diese dumme Geschichte auszuschlachten, ist stark. Es ist politisches Kapital. Ich kann das nicht abwenden, selbst wenn ich es wollte. Ich muss dem nachgehen, sonst war es das hier für mich. Die versetzen mich in die nordschwedische Pampa, wenn sie wollen. Ich stecke mitten in einer Scheidung. Wie soll ich denn dann meine Kinder …?« Er unterbrach sich. Womöglich war er selbst über seinen jammervollen Tonfall erschrocken. Oder es war ihm bewusst geworden, dass er sich von ihr in eine Ecke hatte drängen lassen. Sie kannte ihn lange genug, um zu wissen, dass ihm das missfiel. Edman war ein Mann, der die Dinge gern im Griff hatte. Er zupfte an der Manschette seines weißen Hemds. »Außerdem hat sich die Generalstaatsanwaltschaft der Sache schon angenommen. Der Stein rollt bereits und ist nicht mehr aufzuhalten.«

Er fuhr sich durchs Haar und starrte seine Schuhspitzen an. Seine demonstrative Bekümmerung wirkte beinahe echt, vielleicht war sie es sogar. Nyströms Gedanken ratterten. Ein Güterzug donnerte durch ihren Schädel. Vor Schmerzen schloss sie die Augen. Es war viel zu hell im Zimmer. Sie blinzelte. Irgendeinen Ausweg musste es geben. Sie konnte nicht zulassen, dass diese Leute, die ihr so viel genommen, die sie um ein Haar für immer gebrochen hatten, jetzt ausgerechnet sie für eine billige politische Kampagne instrumentalisierten. Sie verfluchte, dass sie Edmans Drängen nachgegeben hatte. Sie hätte sich niemals dazu bereit erklären dürfen, in der verdammten Kommission mitzuarbeiten. Aber für Reue war es Monate zu spät. Ihr vom Morphium umnebeltes Hirn arbeitete anders, als sie es gewohnt war. Sie konzentrierte sich auf ihre Atmung. Und plötzlich war da diese Idee. Stieg auf aus den Tiefen ihres Bewusstseins. Sie griff danach und fasste sie beim Schlafittchen.

Was wäre wenn …?

»Erik, der Staatsschutz darf formal erst übernehmen, wenn eine Straftat von der zuständigen Behörde als staatsgefährdend oder politisch motiviert eingestuft wird.«

»Natürlich.«

»Der Chef der zuständigen Behörde bist du.«

»Ich weiß, aber genau das …«

»Was wäre«, unterbrach sie ihn, »wenn du den Vorfall erst einmal ergebnisoffen untersuchen lassen würdest?«

»Wie soll das funktionieren, wenn unsere eigene Abteilung den Fall nicht übernehmen darf, weil die Chefin selbst in den Sachverhalt verwickelt ist?«

»Du bittest bei der Mordkommission der Nationalen Operativen Einheiten um personelle Unterstützung. Laut Protokoll und Dienstweg ein ganz normaler Vorgang. Erinnerst du dich, als im Januar auf den Kripo-Chef in Jönköping geschossen wurde? Damals ist es genauso gelaufen. Eine ähnliche Geschichte gab es im vergangenen Jahr in Jämtland.« Wieder seufzte er. Sie spürte, wie er mit sich rang. Er war der geborene Opportunist, jemand, dem die Karriere über alles ging. Der Posten eines regionalen Polizeichefs war landesweit noch nie an einen so jungen Bewerber vergeben worden. Er hätte Edmans Sprungbrett für höhere Aufgaben und schließlich ins Justizministerium sein sollen. Nur war das nie geschehen. Er, der sich so gern als mondänen Hauptstädter gesehen hätte, klebte seit mehr als zehn Jahren auf seinem Stuhl fest. Im tiefsten Småland. In einer Sackgasse. Daher die Angst, etwas falsch zu machen, die da oben zu verärgern. Deswegen hatte er Nyström in die Kommission bugsiert. Er war feige. Aber auch verbittert. Er hatte seine Ehe an die Wand gefahren. Der Karriere drohte dasselbe Schicksal. Das Leben schuldete ihm etwas. Die da oben schuldeten ihm etwas. Vielleicht konnte sie mit diesem Gefühl arbeiten. »Du bist der Chef hier, Erik. Stockholm wird dir ewig auf der Nase herumtanzen, wenn du dich nicht wehrst. Weil sie wissen, dass sie es mit dir machen können. Wieso sollten sie dich hier jemals abziehen und in die Hauptstadt holen? Etwas Besseres als eine Marionette kann ihnen doch gar nicht passieren.«

Edmans Gesichtsfarbe änderte sich um eine Nuance ins Rötliche. Kurz dachte sie, dass er sie anbrüllen, dass er seine aufgestaute Wut und Verbitterung an ihr ablassen würde. Bewusst hatte sie harte Worte gewählt. Sie pokerte hoch. All in.

»Aber was wäre denn damit gewonnen, Ingrid? Ob Geheimdienst oder Mordkommission der Operativen Einheiten, die Schlagzeilen wären dieselben. Und in beiden Fällen hätten wir hier Schnüffler am Hals, die nur Stockholm gegenüber Rechenschaft schuldig sind.«

Sie lächelte schmal.

»Möglicherweise aber auch nicht. Du solltest die Karrieren ehemaliger Mitarbeiter und vor allem ehemaliger Mitarbeiterinnen vielleicht ein bisschen intensiver verfolgen, Erik.«

Er hob den Blick.

»Denkst du etwa an …?«

Ihr rechter Mundwinkel zuckte.

»Warum denn nicht? Den Leiter der Operativen Einheiten kenne ich seit Jahren, ein feiner Kerl, wir saßen bei unzähligen Fortbildungen und Konferenzen nebeneinander und verstehen uns ziemlich gut. Vielleicht erfüllt er uns einen Wunsch, was das Personal betrifft.« Sie hob die bandagierte Hand an, was so wehtat, dass es ihr jedes Lächeln aus dem Gesicht wischte. »Wenn ich hier schon zum Opfer eines gescheiterten Mordanschlags gemacht werde«, sagte sie mit gepresster Stimme, »dann will ich meinen Fall zumindest in den richtigen Händen wissen.«